Donnerstag, 31. Dezember 2020

Conny Frischauf - Die Drift

Cover der Platte
 (ms) Drift als Begriff kenne ich nur aus so Autospielen am PC damals, Need For Speed. Das war eine spezielle Disziplin, wo man versuchen musste, die Autoreifen in den Kurven möglichst gut durchdrehen zu lassen und dass die Karre sich schön dreht. Eigentlich ja völlig bekloppt. Also zum Einen das Spielen eines solchen Spiels. Aber noch dämlicher ist ja, dass man so was Affiges aus der Realität nachahmt. Naja, egal.
Nun schaut man einmal in ein großes Online-Lexikon und sieht, dass es noch allerhand andere Bedeutungen gibt, die sich hinter dem Wort Drift verbergen. Aus der Linguistik, dem Wetter, dem Pflanzenschutz oder der Genforschung.
Die junge Österreicherin Conny Frischauf hat dieses Wort genommen, um ihrem ersten Album einen Namen zu geben. Welchen dieser Bedeutungshorizonte sie gewählt hat, bleibt ihr Geheimnis. Es könnte Richtung Linguistik gehen, aber das ist reine Vermutung. Die Drift ist ein Album voller Raffinesse, teils wunderbarer Schlichtheit, Andenken an Krautmusik, modernem Minimalismus und stets auftretendem Gaga (oder intellektuellem Brainfuck, je nachdem...).

Worauf stellt man sich ein, wenn man sich eine dreiviertel Stunde Zeit nimmt und in dieses kleine, feine Universum eintaucht? Elektronische Klänge, verspielte Melodien und ausgewählte Texte, die zwischen tiefem Scharfsinn und sprachspielerischer Blödelei pendeln.
Mit Rauf beginnt die Platte. Und es geht nie runter, nie. Worum geht es in dem schönen Synthiesong? Vielleicht um eine Schilderung eines Fluges und das herrliche Staunen, wenn man abhebt und aus dem Fenster schaut. Das 'Ahhh' könnte ein Beleg sein. Man hebt am Anfang des Albums ab... was für eine schöne Metapher?! Mit Parapiri geht der Flug, die Drift in die (sprachliche) Höhe weiter. Mit diesem Nonsens-Wort wird eine schöne Melodie gesungen, sonst gibt es hier keinen Text, braucht es aber auch nicht. Der Klang ist eine leicht ins Hypnotisch gehende Elektronik, die herrlich unaufgeregt ist, aber nie (!) langweilig wird, da immer ein kleines, feines Element hinzukommt. Wenn man den Begriff Kraut hier als Genre einfließen lassen möchte, kann dieses Stück eine schöne Hommage an Kraftwerk sein. Auch Fenster Zur Straße ist ein Lied, das wundervoll viele Bedeutungsräume öffnet. Die Kunst in Frischaufs Texten - wenn die Lieder einen haben - ist, dass sie vieles offen lassen und man sich im Hören hineindenken kann. Hier wird uns ein Blick aus dem Fenster vermittelt; unvermeidlich ist er, wenn man drinnen ist: Helle Lichter am Abend, verschwommene Grenzen zwischen draußen und drinnen. Dazu trumpft das Lied mit poppigem Sprechgesang auf. 'Alles Runde fällt runter / Fällt weiter und weiter.'
Wie ging Conny Frischauf ans Liederschreiben ran? Keine Ahnung! Doch eine Vermutung, die in Sonntag zu hören sein kann: Ein Lied, das mit Weltallgeräuschen startet; irgendwie bewegt sich ihre Musik nicht auf unserem Boden. Es klingt wie eine Improvisation und ergibt eine fast dreiminütige Interlude.
Es folgt: Der Höhepunkt des Albums! Auf Wiedersehen ist klar das poppigste und tanzbarste Lied des Albums. Klar, auch ein wenig beliebiger, aber halt auch ungemein catchy. Sollte man bald mal wieder tanzen gehen können, wünsche ich mir von den DJs und DJanes dieses Landes den Mut dieses Lied auf voller Lautstärke und voller Bass abzuspielen. Knarzig geht es los. Selten wurde das Ende einer Beziehung so poppig und stimmungsvoll angekündigt wie hier. Erst stellt Frischauf die großen Fragen einer Beziehung, dem folgt ein musikalischer Break, dann nimmt das Lied an verspielt-tanzbarer Fahrt auf. Wann beendet man am besten eine Beziehung? Ganz einfach: 'Tust du mir weh / Sag ich Adé.' Indem danach auch ein 'baba' kommt, offenbart sie ihre Herkunft. Ansonsten spricht, singt Conny Frischauf auf ihrer tollen Platte recht akzentfrei. Ja, das hier ist wirklich ein erfrischender, ausgeklügelter Track voller Groove!
Man erwischt sich beim verträumt-aufmerksamen Zuhören unter anderem bei Zeit Verdrehen, dass die Texte nicht immer so konkret sind, aber Kopf und Fuß unvermittelt anfangen zu wippen. Auf Roulette wird es wieder spürbar poppiger, auch aufgrund des umfangreicheren Textes. Auch (oder weil?) es nicht so klar zu erkennen ist, was die Musikerin mit ihren Zeilen meint. Gute Gelegenheit also, um sich selbst ein paar Gedanken dazu zu machen. 'Endlosschleife der Gedanken': Ja, das kann einen verrückt machen, lauter Gedankenspiralen, die zermürbend wirken. Doch was ist der Roulette-Gewinn beim Denken? Eine gute Idee? Ein pfiffiger Song? Alles kann, nichts muss.
Auch auf Eingaben Und Ausnahmen überzeugt sie mit großem Können im Wortspiel. Der Titel spricht für sich. Sowieso. Conny Frischauf spielt eine Menge auf ihrem musikalischen Werk: der spielende Mensch, homo ludens. Mit kleinen, fröhlichen, labyrinthhaften Klängen und Worten sowieso. Das muss gar kein Ziel haben, kann einfach nur sein und für sich strahlen. Da muss man auch nicht kafka'esk Hintergründe und Ebenen reininterpretieren für ein pseudointellektuelles Geschwurbel. Das hier ist einfach gut. Punkt. Zeigt sich auch auf Private Geheimsache: Texte wie bei PeterLicht, so verschachtelt, gaga und verschroben.
Enden tut Die Drift mit über zehnminütiger Freundschaft. Eine weitere Ehrerbietung an die große Zeit der elektronischen Musik der 70/80er Jahre. Langsam schleicht sich dieses herrliche Album aus. Es wartet mit zehn extrem überzeugenden Liedern auf. Jedes mit eigenem Charakter. Es drosselt das Tempo des Alltags (klar, momentan passiert eh nicht viel, aber das ändert sich ja zum Glück auch wieder), das aufmerksame Hinhören lohnt sich sehr. Es ist Conny Frischauf zu gönnen, dass sie weiträumigen Anklang damit findet. Sollte sie bald live auftreten und ihre Lieder präsentieren.... ich freue mich wahnsinnig drauf!

Die Drift erscheint am 15. Januar bei Tapete Records!

Mittwoch, 30. Dezember 2020

luserlounge, das Jahr 2020: sb blickt zurück


(sb) Auch auf die Gefahr hin, dass einige von Euch an dieser Stelle den Kopf schütteln und die Lektüre dieses Artikels beenden, aber: Ich persönlich fand das Jahr 2020 gar nicht so beschissen wie man meinen könnte. Ganz im Gegenteil sogar. Klar, es gab massive Einschränkungen und meine zwei Lieblingshobbies (Groundhopping und Konzertbesuche) sind phasenweise komplett weggebrochen, aber die positiven Aspekte haben vieles davon doch wieder aufgefangen.
 
Beruflich wars echt ein erfolgreiches Jahr, sowohl was den Umsatz meines Arbeitgebers betrifft, als auch hinsichtlich der Flexibilität. War Home Office vor einem Jahr noch völlig undenkbar, ist dieses Modell fest etabliert und das durch Corona aufoktroierte Vertrauen in die Mitabeiter/-innen hat sich absolut bezahlt gemacht. Auch privat hatte die Pandemie und ihre Folgen viele positive Effekte: Dank Lockdowns und Telearbeit konnte ich so viel Zeit mit meiner Frau und meinem Sohn verbringen wie nie zuvor und das fühlte sich schon sehr gut an. Anstrengend zwar, keine Frage, aber es hat doch (noch mehr) zusammengeschweißt.

Vom musikalischen Standpunkt aus gab es in der Vergangenheit sicher bessere Jahre, aber dass die Künstler/-innen in ihrer Kreativität eingeschränkt waren, liegt auf der Hand. Das ein oder andere Lockdown-Album wäre unter anderen Umständen sicher nie entstanden und wenn doch, dann wäre das Ergebnis vermutlich besser geworden. Exemplarisch möchte ich hier Adrenochrom von der eigentlich sehr geschätzten Antilopen Gang nennen: was für ein unnötiger Schwachsinn...

So, nun aber zu den Höhepunkten des Jahres, wobei ich anmerken möchte, dass bei den Tracks des Jahres bewusst auf Songs der Künstler verzichtet wurde, die in den Top 3 der Alben landeten.

Songs des Jahres

3. Juse Ju - Eine kleine Frage
 
Da haut Juse Ju mal eben eins der besten Alben des Jahres raus (siehe unten) und lässt dann tatsächlich mit Eine kleine Frage ein paar Monate später einen Track folgen, der sich gewaschen hat. Textlich auf den Punkt stellt er die Situation in Deutschland dar und gibt Hildmann und den anderen Querdenkern und Covidioten ordentlich eine mit. Extrem stark!

 
2. Provinz - Du wirst schon sehen (feat. Disarstar)
 
Vogt, Oberschwaben. Tiefste Provinz. Der Name ist Programm bei dem Quartett, dessen Album Wir bauten uns Amerika nur knapp an meinen Top 3 vorbeigeschrammt ist. Du wirst schon sehen ist darauf in der Version mit Disarstar leider gar nicht vertreten, das Feature gibt dem Track aber nochmal eine besondere Note. Ich hoffe doch sehr, dass man von den vier jungen Herren in Zukunft noch sehr viel hören wird.
 

1. Crucchi Gang - Il mio bungalow

Wäre das die Bestenliste meiner Frau, so wäre die Crucchi Gang unangefochtene Nummer 1, 2 und 3 in allen Kategorien. Seit Monaten läuft in ihrem Autoradio quasi nichts anderes als das von Francesco Wilking ins Leben gerufene Projekt, in dem deutschsprachige Titel auf Italienisch gecovert werden. Mein persönlicher Favorit ist Il mio bungalow, im Original von Bilderbuch. So herrlich entspannt, so traumhaft swingend und dank Wilkings Sprachkenntnissen auch noch authentisch vorgetragen.




Alben des Jahres

3. Juse Ju - Millennium

Schon beim Kollegen (ms) landete Millennium in den Top 3 der diesjährigen Album-Charts und auch ich komme unmöglich an Juse Ju vorbei. Schon mit dem Vorgängeralbum Shibuya Crossing hatte mich der Rapper überzeugt, sein 2020er Album begeistert mich aber vollends, zumal es keinerlei Schwächen offenbart und Fähigkeiten des Künstlers unterstreicht, die ich ihm in der Ausprägung (ehrlich gesagt) nicht zugetraut hatte. Ob TNT, Claras Verhältnis oder Edgelord - an überragenden Tracks mangelt es auf Millennium nun wirklich nicht!

 
2. Calman - Kann Grad Nich

Im Jahr 2018 kürte ich Manchmal lüg ich meinen Arzt an (feat. Fatoni) zu meinem "Track des Jahres", doch es dauerte bis Mitte 2020, ehe Kann Grad Nich das Licht der Welt erblickte. Monate lang stand ich bereits mit Calman in Email-Kontakt, hatte das Album als Download erhalten und konnte mich immer tiefer in die 14 Songs eingraben. Lieder, deren zentrales Thema die Verantwortung ist - Verantwortung für seine Mitmenschen, seine Kinder, sein direktes Umfeld und nicht zuletzt für sich selbst. Das Gesamtwerk ist herausragend und es lohnt sich auch, auf Youtube nach den künstlerisch wertvollen Videos aus dem Album zu suchen. Für meinen Rückblick habe ich dennoch den Track Weg/Hier gewählt. Autoradio, voll aufdrehen, mitrappen, abgehen.


1. Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys - Greatest Hits

Ich glaube, ich habe noch nie ein Album innerhalb eines Jahres so oft gehört wie die Greatest Hits von Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys. Das ist Lebensfreude pur, die Songs der Herren vom schwäbischen Ufer des Lago di Garda zaubern mir jedes Mal wieder ein Lächeln ins Gesicht und selbst mein dreijähriger Sohn singt Ponte di Rialto regelmäßig aus Dauerschleife und kommentiert vorbeifahrende Sportwagen mit "steig in den Ferrari, lalala". Die Fahrt über den Brenner im Sommer wurde stilecht mit Baci, Vino Rosso, Maranello etc. begangen und auf Höhe des Gardasees wurde ein Gruß gen Sirmione geschickt. Kein Zweifel, dass die Greatest Hits mit riesigem Abstand mein "Album des Jahres" sind und bei Capri '82 muss ich mir regelmäßig eine Träne aus dem Augenwinkel wischen. So schee scho!

 
 
Konzert des Jahres
 
Well, that was easy... Ich habe dieses Jahr nur ein (!) Konzert gesehen und deswegen geht der Award quasi kampflos an Heinz aus Wien, die in der Münchner Milla aber tatsächlich einen grandiosen Auftritt hingelegt haben und so oder so gute Chancen gehabt hätten. 




Sonntag, 27. Dezember 2020

KW 52, 2020: Die luserlounge selektiert!

Quelle: dreamstime.com
(sb/ms) Es ist immer noch Weihnachten und daher machen auch keinen Hehl draus: Allen lieben LeserInnen wünschen wir ein schönes Fest. Egal, wo ihr seid und mit dem ihr diese Tagen genießen werdet: Habt es gut und bleibt gesund! Vielleicht liegt ja auch die ein oder andere Schallplatte unter dem Baum?! Wer weiß...
Gleichzeitig ist dies auch die letzte Selektion in diesem Jahr. Zu zweit diesen kleinen Blog zu stemmen, macht unglaublich viel Spaß. Oft werden wir der Musik nicht gerecht, dafür müssten wir das hier Vollzeit betreiben. Dann würden wir auch mal über so etwas wie Webdesign nachdenken. Aber wir sind ja nicht wegen Ästhetik hier, sondern wegen Musik und Text. Genau das liefern wir ab. Trotz viel Arbeit und dem ganzen schönen Freizeitgedöns, werden wir logischerweise auch ab Januar wieder weitertexten, den Musikkosmos durchwühlen und selektieren, was das Zeug hält. Wenn es die Zeit und die Begeisterung für Alben zulässt, natürlich auch eine ganze Besprechung. Das ist von vielen Faktoren abhängig: Zeit, Muße, Geduld, Kreativität... Vielen Dank an alle, die uns mit Musik versorgen. Als kleines Hobby ist das schon ein tolles Privileg und als Musikverrückte der allerbeste Weg an Neues zu kommen und Großartiges zu entdecken. Bis 2021!

Letzte Selektion in diesem Kalenderjahr! ... und das geht so!

Luka Kuplowski
(ms) Wo ist der Unterschied zwischen Folkpop und Easy Listening/Singer-Songwriter? Wir sind uns ja alle einig, dass diese Manfred-und-Hans-mäßige Spielform von Folkpop mit das Schlimmste ist, was uns die Musikindustrie mal vor die Nase gesetzt hat. Ja, eigentlich ganz schöne, unbeschwerte Musik, aber diese nervige, gut gelaunte Attitüde ist wirklich übel. Das macht das Genre kaputt. Easy Listening und Singer-Songwriter haben meines provokativen Erachtens mehr Sinn, Gefühl, Gespür für einen guten, harmonischen Track, der das Gemüt beschwingt und mal im luft- und gedankenleeren Raum fliegen lässt. Die angenehme Art der sorglosen Beschallung, deren musikalisches Können immer wieder aufblitzt. Krach machen ist leicht, poppig nerven auch, fein musikalisch unterhalten ist die schwierigere Aufgabe. Luka Kuplowski hat genau das verstanden. Auf seinem Album Stardust sammelt er elf feine Perlen zusammen, die gut tun. Da wird man beinahe ein bisschen besinnlich. Nimmt da jemand leisen Anlauf, um irgendwann einen Fuß in die Spur von Lambchop zu setzen? Hehre Ziele und beste Voraussetzungen! Tolle Platte!



Mike Edel
(ms) Man neigt dazu, das immer noch Außergewöhnlichere, Gewieftere, Speziellere zu finden. Insbesondere bei Musik. Man gibt sich ja gar nicht mehr mit solider Arbeit zufrieden. So geht mir das zumindest oft. Ja, wenn es irgendwo ein bemerkenswertes Alleinstellungsmerkmal und einen ungewohnten künstlerischen Ansatz gibt, bin ich neugierig und spitze die Ohren. Doch es kann auch recht anstrengend sein, immer wieder so Kompliziertes zu hören. Womit kann man sich mal Entspannung verschaffen, die nicht nervt oder allzu beliebig klingen darf. Das sind jetzt hier natürlich Gegensätze und es soll auch keineswegs als negative Kritik erscheinen. Doch Mike Edel schafft es, einfache, gute, feine, stimmungsvolle Popmusik zu machen, der man gut zuhören kann, ohne stets so wahnsinnig aufmerksam sein zu müssen. Ja, sein Album En Masse kann auch gut im Hintergrund laufen und es transportiert eine schöne Gemütlichkeit in den Vordergrund: leichter, angenehmer Schwung. Auch als Texter beweist er sich feinfühlig. Beispielsweise auf der Single Giving Up On Giving In. Ja, insbesondere dieses Jahr ist einem viel auf die Nerven gegangen. Hoffnung und wirkliche Abwechslung kam nur selten irgendwo auf, doch man darf sich nicht unterkriegen lassen. Stets frohgemut in die Zukunft schauen - eine gute Idee. Glücklich der, der es schafft. Diese Musik hilft dabei!

 

Oakhands
(ms) Experimentieren ist wichtig. Stillstand ist der Tod. Hat schon Herbert Grönemeyer gesagt und natürlich hat er damit recht. Wenn Bands sich von ihrem musikalischen Kern entfernen und Anderes ausprobieren und zulassen, dann entsteht immer ein kleiner Konflikt: Einerseits honoriert man das, andererseits gesteht man einer Band auch nur einen gewissen Spielraum zu, um noch einen roten Faden aufweisen zu können. Zwischen sonst laut und ungestüm und nun leise und beinahe andächtig bewegen sich auch Oakhands. Die Münchener, die 2016 ihre erste EP veröffentlichten, scheuen nicht vor krachenden Gitarrenriffs und solch einem Gesang, der Halsschmerzen verursachen kann, zurück. Im April brachten sie ihren Erstling zur Welt: The Shadow Of Your Guard Receding. Daraus entsprang nun noch eine weitere Single mit wirklich sehenswertem Video! Als weitere Auskopplung haben sie sich ihr vielleicht ruhigstes, poppigstes Stück ausgesucht: Palming. Statt elektronisch verstärkt, eher akustisch, statt ausbrechenden Soundflächen die sehr gute Idee mit Bläsern dem Track eine weitere Ebene zu geben: Extrem gelungen! Dazu passt dieses schwarz/weiß-Video ideal, einfach mal 4 Minuten und 22 Sekunden sich mitnehmen lassen.



René Neumann
(ms) Wenn man keine eigene Familie hat, ist Weihnachten immer noch das Fest, zu dem man nach Hause fährt. Auch mit Anfang dreißig ist es dann wunderschön - ja, so viel Kitsch ist auszuhalten - bei Mama und Papa zu sein. Man ist wieder ein bisschen Kind, kann das auch mittlerweile alles ganz gut genießen. Insbesondere dieses Jahr. Das bedeutet aber auch eventuell in die Kleinstadt zu fahren. So ist es bei mir. Man ist froh, da weg gekommen zu sein, weil man sich ein Leben dort nicht vorstellen kann, doch das Zurückkommen in die Straßen, die man so gut kennt, ist dennoch schön. Gegen das Leben, das man in der Kleinstadt für sich nicht sieht, spricht auch, dass da nicht viel passiert. Kaum Clubs, wo Konzerte stattfinden, keine Szene, kein Gewusel. Es ist Zu Leise. In diesem seinem neuen Lied bringt René Neumann das Problem zwischen Klein- und Großstadt sehr gut zusammen. Das Stück ist nicht nur musikalisch sehr stimmungsvoll mit der genau richtigen Portion Melancholie, die man immer verspürt auf den Fahrten. Sondern es überzeugt auch textlich. Neumann selbst hat sich dafür nicht nur in jemanden hineinversetzt, sondern kann es als Pendler zwischen den Welten (Köln - Berlin) selbst gut empfinden. Ein Glücksfall, wenn dies so harmonisch in einen Song gepackt wurde.


MALTA MINA
(ms) Sich der Melancholie hingeben. Das fand musikalisch bei mir in jedem Fall vor zehn bis fünfzehn Jahren ganz stark statt. Da durfte es gerne traurig, zweifelnd, ausweglos sein. Tja, fand man das mal cool oder so? Ist das ein Zeichen des Abgrenzens gewesen? Keine Ahnung. Irgendwann tat mir diese leicht deprimierende Musik nicht mehr gut, es musste lauter, pöbelnder, freier werden. Mittlerweile kann ich mich dem wieder gut hingeben. Und MALTA MINA bietet genau den richtigen Track, um eine gute Melancholie in diese seltsame Zeit zu packen. Sebastian, der Kopf hinter dem Projekt, beschäftigt sich in seinen Liedern gerne mit dem Draußen, dem, was irgendwie weiter entfernt ist. Das Gute daran ist, dass er dabei keiner klaren, eindeutig zu definierenden Definition folgt, es ist nur weiter draußen, entfernt, weg von allem. So passt December On Mars auf vielen Ebenen: Das Skype-Video, der schöne aber auch andächtige elektronische Sound, die Zeile Don't forget me. Ja, das passt sehr gut momentan. Und nach dem kleinen, schönen Ausflug ins Innere und in die gedankenschwere Stille, kann man auch wieder Last Christmas hören. 

Dienstag, 22. Dezember 2020

luserlounge, das Jahr 2020: ms blickt zurück


Kunst in Hamburg. Foto: ms
(ms) Ein verrücktes Jahr. Privat sowieso, aber das bleibt hier außen vor. Seit Mitte März gibt es keinen geregelten Live-Betrieb mehr und die Musikwelt hat sich irgendwie verschoben. Zum Teil ins Netz, aber ohne das gleiche Gefühl. Ja. Da fehlt etwas. Ganz gewaltig. Nach der traurigen Akzeptanz im Frühjahr, dass nun erstmal nichts passiert, kam das träge, lakonische Hinnehmen. Der Sommer wiederum brachte Abwechslung und viele schöne Ideen, dass doch wieder etwas stattfinden konnte. Ja, dezente Hoffnung auf den Herbst/Winter kam auf. Doch es war recht schnell (wieder) klar, dass das alles nichts wird. Keine Band, keine Musikerin, kein Gitarrist kann irgendetwas planen. Voller Zuversicht wird nun für den kommenden Herbst geplant. Dass der Impfstoff hilft und ein Plan entwickelt werden kann, wie man in den Clubs und Hallen des Landes wieder eine Normalität schaffen kann.
Der Sommer fällt noch flach, denke ich. Da wird kein Festival stattfinden, wie man es noch kannte. Doch es wird auch Gutes geben: Immerhin haben viele Veranstalter im vergangenen Sommer einiges mit Abstand draußen organisiert, was wunderbar aufgegangen ist. Da man jetzt mehr Zeit zum Vorlauf hat, wird das sicher noch mehr, besser und breiter stattfinden. Das sind die Hoffnungen für 2021. Blicken wir zurück auf die vergangenen Monate und den Veröffentlichungskalender. Was war das Beste? Was bleibt haften aus zweitausendundzwanzig? Seltsamerweise nicht Turbostaat. Uthlande bliebt überhaupt nicht haften, dafür aber anderes:

Alben des Jahres:
1. Oehl - Über Nacht

Wenn man so zurück blickt, ist es oft gar nicht so leicht zu benennen, was wirklich ganz stark überzeugt hat. Doch einen Gedanken weiter, wird es glasklar: Das, was am häufigsten abgespielt wurde, muss automatisch überzeugt haben. So ist es das isländisch-österreichische Projekt Oehl mit der Platte Über Nacht, was für mich das Beste aus diesem Jahr ist Definitiv. So eine feine, runde und extrem kunstvolle Platte. Purer Genuss, großes Können. Was auf der Platte manchmal so artistisch und feuilleton'esk klingt, ist live die pure Sympathie! Hoffentlich mehr davon im kommenden Jahr!

2. Juse Ju - Millennium 
Nein, das hätte man ihm nicht zugetraut. Nicht in einem Song, nicht auf einer ganzen Platte in jedem einzelnen Takt. Diese Reife, dieses unglaublich gute Songwriting, das Feinfühlige, Pöbelnde und Krasse! So viel Ernsthaftigkeit hätte ich Juse Ju nie zugestanden. Bei mir lief er vorher immer unter 'sehr gut', aber auch unter 'spaßig' und 'flapsig'. Dieses Image hat er mit Millennium definitiv abgelegt und mal ganz oben beim Rap-Olymp angeklopft! Hoffen wir auf die Tour, die endlich zum Album stattfinden soll!



3. Sigur Rós - Odin's Raven Magic
Erst vor wenigen Tagen erschienen und schon im Best Of des Jahres. Das können nur Sigur Rós. Schon bei der Ankündigung war mir klar, dass das Album vieles andere in den Schatten stellen wird. So ist es auch geschehen. Ein formvollendetes Gesamtwerk mit großen Ausmaßen: Endlos vielen Beteiligten, phantastischen Arrangements und einem eigens dafür angefertigten Instrument. Trotz dass die Aufnahme achtzehn (in Zahlen: 18!) Jahre alt ist, ist der Klang richtig rund und toll. Ja, dieses Werk spricht für sich!



Songs des Jahres:
1. Turbostaat - Rattenlinie Nord
Ja, es stimmt, was ich oben geschrieben habe. Uthlande, das aktuelle Album von Turbostaat, blieb nicht haften. Ganz und gar nicht. Ein paar Mal habe ich es durchgehört, doch es hat keine Energie entwickelt. Nichts, was mich dran kleben ließ. Sehr schade. Doch Rattenlinie Nord ist ein Mordstrack. Nicht nur was die Dynamik angeht. Sondern insbesondere der Inhalt! Wie alte Nazi-Kader versucht haben über Flensburg sich abzusetzen, um bloß nicht für ihre Abscheulichkeiten angeklagt zu werden. Das heute in Musik zu packen ist notwendig!



2. The Weather Station - Robber

Dieser Track ist ein gutes Beispiel dafür, wie vielfältig die Quellen sind, mit denen wir diesen Blog füllen. Viel kommt via Mail von Agenturen rein, viel aus dem eigenen Horizont und einige Lieder schnappt man mal so auf. Bei dem sehr guten Online-Radiosender Byte FM habe ich die Ankündigung zu The Weather Station und ihrem Lied Robber gesehen. Es hat keine ganze Abspielung gedauert und ich habe mich in das Stück verliebt. Es ist fein arrangiert, so so fein! Das gefiel mir direkt. Im Februar bringt Tamara Lindeman ihr neues Album raus, ich bin sehr, sehr gespannt!



3. Gorillaz - In The Valley Of The Pagans
Eine Band, die ich seit jeher großartig finde, aber gar nicht so aufmerksam verfolge, sind die Gorillaz. Ja, sie strahlen seit Jahren hell am alternativen Pophimmel und Damon Albarn bleibt ein verdammtes Genie. Ihr neues Album habe ich gar nicht gehört, auch nur am Rande mitbekommen, dass es überhaupt erschienen ist. Darauf ist dieser Track zu hören! Ein irrer Beweis, wie gut es Albarn versteht, Drive, Groove und Pfiffigkeit in ein einziges Stück Musik zu packen, das gerade mal etwas über drei Minuten Spieldauer aufweist. Hach, das macht einfach Bock! 



Konzerte 2020

1. Voodoo Jürgens in Bremen
Ja, es gab sie auch. Die Konzerte, die dieses Jahr stattfanden. Es war bei weitem nicht so viel, wie geplant, erwünscht und gehofft. Aber das Frühjahr war ein Traum. Und diesen Traum hat ein junger, agiler, wortgewandter Mann aus Österreich Wirklichkeit werden lassen: Voodoo Jürgens. Es war ein Mittwochabend, ich reichlich kaputt. Aber das Bier schmeckte schnell und dieser Auftritt im Lagerhaus ein reiner Genuss. Ich kam aus dem Staunen gar nicht mehr raus, wie eiskalt und ohne jeglichen Anflug von Attitüde der Voodoo auf der Bühne abliefert. Unglaublich genial!



2. Fortuna Ehrenfeld in Wilhelmshaven
Hört man Wilhelmshaven und lebt nicht hier im Norden, denkt man bestimmt: Ach, das klingt aber romantisch. Ein kleines Städtchen am Wasser mit Fischbrötchen, Strand und so. Von wegen. Wilhelmshaven ist echt nicht schön. Keinen wirklichen Ausflug wert. Außer die Reisegruppe Seltsam kommt im September vorbei und gibt eines ihrer unzähligen coronakonformen Konzerte in diesem Jahr. Bechler und Co. wissen einfach wie es geht. Da saßen vielleicht 50 Leute auf Bänken, Stühlen und im Strandkorb (!!!) und die liefern einfach komplett ab, als ob das heimische Gloria ausverkauft wäre. Das sind richtig gute Menschen, ehrlich!



3. sookee in Hamburg
Oh, es gibt viele Gründe, warum dieses Konzert hier auftauchen muss! Zum Einen war es die Abschiedtour von sookee. Nora Hantzsch beendet ihre Karriere unter diesem Namen aus vielerlei Gründen, auf ihren Webseiten ist es am Besten nachzulesen. Zum Anderen war es das letzte Konzert, das ich besuchte, bevor die große Absagewelle kam. Ihr Gig im Uebel & Gefährlich war grandios. Ihre Songs hat sie mit Nachdruck und Herzblut dargeboten. Viele Gäste haben den Abend toll abgerundet. So strahlte es hell in Regenborgenfarben vom Bunker über die ganze Stadt! Sookee, du wirst fehlen auf den Bühnen!


Samstag, 19. Dezember 2020

Leselounge: Rüdiger Esch - Electri_City

Quelle: jpc.de
(ms) Über Musik zu schreiben ist der Grundpfeiler, warum es diese Seite hier gibt. Zum Einen, weil wir unbändige Fans vom aufmerksamen Lauschen sind, zum Anderen, weil das Schreiben so große Freude bereitet. Aber auch immer Anlass für Herausforderungen ist. Klang, Atmosphäre und Dynamiken zu verschriftlichen ist oft eine heikle Aufgabe. Wie soll man das beschreiben, was einem gefällt, um es so auszudrücken, dass Andere daran auch Gefallen finden können?! Diese Frage stellt man sich jedes Mal neu. Die Lösung des Ganzen ist eine schöne, knifflige Hirnarbeit.

Über Musik wird viel geschrieben. Das ist klar. Biographien ohne Ende, viel populär- aber auch wirklich wissenschaftliche Literatur. Da wird dann über andere gesprochen und die Protagonisten kommen selbst nur aus Zitaten der Vergangenheit vor.
Ob das Gegenteil davon die Motivation von Rüdiger Esch gewesen ist, kann ich nicht sagen. Von Haus aus ist Esch kein Autor und auch nicht Journalist, sondern Musiker. Er spielt seit unzähligen Jahren bei Die Krupps und Male. Hat also seit Jahrzehnten einen phantastischen Einblick in die Entwicklung der Branche, des Klangs, der Menschen. 
Das ist der erste einer Vielzahl an Gründen, warum man als Interessierter, Nerd, Neugieriger Electri_City - Elektronische Musik Aus Düsseldorf lesen sollte: Der Autor kennt sich aus. Wobei Autor im klassischen Sinne hier nicht das richtige Wort ist. Denn Esch schreibt keine Geschichte, keine Chronik der Geschehnisse vom Rhein aus den 70/80er Jahren, er beurteilt nichts, gibt keine Interpretation vor, lässt die Lesenden im besten Sinne allein, ungefiltert. Das lesenswerte Buch besteht nämlich ausschließlich aus Zitaten der Personen, die zur großen elektronischen Zeit mitgewirkt haben oder unmittelbar damit verbunden sind. Unter anderem: Eberhard Kranemann (Fritz Müller Rock und Künstler), Jäki Eldorado (Manager und erster Punk Deutschlands), Kurt Dahlke (DAF, Der Plan), Robert Görl (Deutsch-Amerikanische Freundschaft) oder Tina Schenkenburger (Die Krupps).

All diese Beteiligten, MusikerInnen, Zeitzeugen berichten über die große Zeit der elektronischen Musik aus Düsseldorf. Und da kommen wir zu einem kleinen - wahrscheinlich dem einzigen - Problem dieses Buches. So oft wird wiederholt, dass Kraftwerk zwar stets das große Aushängeschild waren, Hütter und Co. aber auch wirklich verschrobene Leute waren und sehr viel außerhalb des KlingKlangStudios passiert ist. Dass Kraftwerk selbst immer wieder erwähnt werden ist daher logischer, dennoch wird sich aber genauso oft davon abgegrenzt. Innerhalb der 'Szene' (ein Begriff um den oft gestritten wird, ob es wirklich eine gab) waren bald nicht mehr so wichtig; ab Ende der 70er Jahre in etwa. Außerdem spricht nur Wolfgang Flür als ehemaliges Mitglied des Ensembles im Buch. Und dennoch ziert das Autobahn-Logo das Cover des Buches. Das bräuchte es gar nicht. Klar, es ist der absolute Hingucker und ein auffälliger ikonischer Repräsentant der Zeit. Doch der Schriftzug von NEU! oder der Deutsch-Amerikanischen Freundschaft wären im Verhältnis zum Buch ebenso würdig gewesen.

Als ich das Buch aufschlug, war ich verwundert ob der ganzen Zitate. Es sind auch keine zusammenhängenden Interviews. Die Leitlinie ist nur: Chronologie. Ist das lesbar, habe ich mich gefragt? Kann ich das genießen? Bekomme ich so als jemand, der ein großes Interesse an Musik hat aber viel (!) später geboren wurde, einen adäquaten Eindruck von dieser Zeit? Und wie! Auf jeden Fall! Das liegt vor allem daran, dass Rüdiger Esch die Zitate so gut aneinander geheftet hat, dass es wie eine irgendwie gemeinsame Erzählung ausschaut. Außerdem kennt er natürlich haargenau die Personen, die man fragen muss, um eine gute Auskunft zu erhalten. Eberhard Kranemann strotzt vor Wissen und extrem guten Antworten, die oft herrlich verrückt sind. Genauso wie Werner Lambertz, vielleicht einer der schrägsten Akteure, die im Buch auftauchen. Da will ich gar nichts vorweg nehmen: Aber was der wohl so getrieben und getüftelt haben soll, ist allerhand! Oft kommt man aus dem Staunen gar nicht raus.
Ja, Eletri_City gewährt einen wunderbaren Einblick in die Zeit der großen Bewegungen in und um Düsseldorf. Insbesondere die tollen Würdigungen zu Conny Planks Werk sind dort genau an der richtigen Stelle. Denn man lernt eine Menge Leute kennen, die im Hintergrund agierten und dennoch unverzichtbar für den Klang, die Experimente, die Umsetzung gewesen sind.
Große Empfehlung! Man sollte nebenbei auch immer wieder nachhören, worum es momentan geht, dann ist das Buch umso runder! Wie schön, dass es mittlerweile gleich zwei Sampler passend dazu gibt!

Gerne wollte ich auch noch die Band erwähnen, die mich auf die Lektüre aufmerksam gemacht haben. Leider komme ich nicht mehr auf den Namen. Irgendwann im Frühsommer haben sie teilgenommen beim morgendlichen Newsletter vom ZEITmagazin. Ich glaube es war eine Jazz-Kombo aus dem Rheinland... Daher: Ein großes, unbekanntes Dankeschön für diesen herrlichen Lesetipp!

Freitag, 18. Dezember 2020

KW 51, 2020: Die luserlounge selektiert

Quelle: pernod-ricard.com
(sb/ms) Was haben Nick Cave, The Hives und Nightwish gemeinsam? Zugegeben ist das eine etwas seltsame Konstellation, doch sie hatten kürzlich alle dieselbe Idee: Streaming-Konzerte zu veranstalten. Okay, das ist spätestens seit dem Frühjahr keine nennenswerte Innovation mehr. Einige KünstlerInnen haben sich dazu entschlossen, ein paar Auftritte habe ich gesehen: Mine, Enno Bunger und Waving The Guns haben beispielsweise stabil überzeugt! Doch die großen Namen hier erdreisten sich meines Erachtens eine Vorgehensweise dabei. Sie verlangen Eintritt dazu.
Da kann man jetzt sagen: Wie unsolidarisch ist das denn, wie kann man denn kritisieren, dass KünstlerInnen Geld für Kunst haben wollen? Ja, kann ich verstehen. Ich gebe gerne Geld für Konzerte und Platten und Merchandise aus. Doch meine verwunderte Ablehnung gegenüber der Bezahlschranke zu Online-Konzerten entspringt eher einem diffusen Gefühl. Ja, vielleicht wird das sehr professionell gemacht mit tollem Sound und ausgebufften Funktionen der Teilhabe (so bei The Hives angedacht). Mine, Fatoni und Fortuna Ehrenfeld haben während ihrer Online-Gigs Spenden gesammelt für die Kulturszene oder gemeinnützige Organisationen. Da habe ich gerne gegeben. Sowieso Fortuna Ehrenfeld, diese nimmermüden Supermenschen: In Zusammenarbeit mit dem Goethe Institut und türkischstämmigen MusikerInnen haben sie mal wieder ein eineinhalb Stündiges Konzert auf die Beine gestellt, das man for free anschauen kann. Ja, das griffige Gegenargument zu den oben genannten Gruppen fehlt hier. Dennoch hoffe ich ausdrücken zu können, worum es bei dem (hinkenden) Vergleich geht.

Luserlounge hier. Weihnachtsstimmung auch eher noch in der Mottenkiste. Egal. Freitag. Selektiert.

Sofia Portanet
(ms) Wir würden gerne den Pop-Olymp und die hohen Chart- und Streaming-Plätze zerstören und so zusammensetzen, dass Qualität und Kunst oben steht und nicht nur belangloser Schrott. Doch leider funktioniert die Welt nicht, wie sie uns gefällt. Und so muss man auch bei der phantastischen Sofia Portanet sagen, dass ihre Musik viel zu wenig Raum bekommt für die Qualität, die sie hinlegt. Auch ihr großartiges Album Freier geist droht dann bei den anstehenden Jahresrückblicken nicht überall gebührend berücksichtigt zu werden. Ändern wir das! Mit ihrer eigenen fast neuen Veröffentlichung. I Trust kommt dieser Woche mit einem strahlenden Video aus der Berliner (?) Nacht daher, reichlich funkelnder Kostüme, viel Neon und genauso viel Kitsch, dass es nicht überschwappt. Nicht ganz neu ist das Lied: I Trust ist die englischsprachige Version von Menschen Und Mächte, das auf ihrem Debut zu hören ist. Ja: Ich finde die deutsche Version griffiger, programmatischer und in seiner textlichen Aussage griffiger. Also: Guter Grund, sich diese Platte noch zuzulegen und gleichzeitig das Video zu bestaunen:


Moon Taxi
(ms) Popmusik ist ja ein heißes Pflaster mit vielen Ausprägungen, Nischen und Richtungen. Einige Gassen und Sträßchen sind so klein, dass man sie kaum sieht. Sie gehen vom großen Pop-Weg ab. Sich dort zu behaupten ist halt auch nicht leicht. Und wir mögen Popmusik. Einige Künstler und Bands schaffen den Spagat zwischen Kommerz, großen Tönen, Kunst und Indie-Werkelei. Seit 2006 gehen Moon Taxi diesen Weg: Auf den ersten Hörer recht große Popmusik, doch sie ist ausgestattet mit allerhand Kniffen und Spielereien. Ihr Pop besticht mit zahlreichen Gitarrenfrickeleien, einer ordentlichen Portion Synthies und Effekte. Dazu gesellt sich ein oft tanzbarer Beat samt sehr angenehmer Stimme. Ja, man könnte ihnen Beliebigkeit vorwerfen, aber es macht auch sehr viel Spaß, sich mal nicht kaputt zu denken und ständig so aufmerksam beim Musikhören sich zu verkrampfen. Am 22. Januar erscheint ihr sechstes Studioalbum: Silver Dream! Vielleicht eine gute Idee, das neue Jahr etwas unbeschwert zu starten.
Interessante Randnotiz: Die Band kommt aus Nashville. Dem Zentrum des Country und einiger großen MusikerInnen und Bands. Sie nehmen den Geist der Vergangenheit und gestalten ihn mit ihrem Weg. 

 
Nax
(ms) Besuch aus Argentinien hatten wir auch schon lange nicht mehr. Das ist nun vorbei mit Nax! Dabei bin ich immer wieder erstaunt, wie gut es vielen Bands gelingt von den 80ern angehauchten Poprock zu machen, ohne dass es allzu nostalgisch ist. Der Hall passt, die große Synthie-Fläche im Hintergrund, die ganz fein dosiert ist, sowie das treibende Zusammenspiel aus Bass und Schlagzeug. Estrella Guía ist ein neuer Track der Formation um Nicolás Castello. Es bedeutet so viel wie 'leitender Stern', was man sicher hoffnungsvoll interpretieren kann in Wochen, die mal wieder reichlich schräg sind. Laut aufgedreht ist es auch ein tanzbarer Hit für den Dancefloor daheim!



Kapitän Plattes Lokalrunde
(ms) Bielefeld, was hat man nicht alles für Witze über dich gemacht? Ja, deine Innenstadt hat ein paar unschöne Ort, dein Fußballverein strotzt nicht vor Sympathie und es gibt sicher auch tollere Unternehmen als Dr. Oetker. Doch du hast auch so viele Ecken, die wirklich bestechend sind: Viel schöne Natur, eine nette Altstadt und natürlich richtig gute Clubs. Im Sinne von: Wirklich richtig gute Clubs. Unzählige Abende habe ich im Forum verbracht, als dort die legendären Visions-Partys stattfanden. Nicht nur eine super Idee, sondern auch ein klasse Laden: sehr bezahlbares Bier, furchtbar liebe Menschen an der Theke, dem Eingang, der Garderobe. Nicht zu vergessen der Pizzastand außen für/gegen den späten Hunger. Oder den Bunker Ulmenwall: Sicher einer der schönsten, ungewöhnlichsten Venues weit und breit. Erstmal im Nirgendwo der Innenstadt eine unscheinbare Treppe runter (!) gehen und dann tritt man in einen Bunker ein: Schmale Gänge und ungewöhnlich niedrige Decken für einen Club. Eine Bühne, die man zu 270° einsehen kann, wo die Band mal gern im Kreis angeordnet ist und sich via Spiegel unter der Decke verständigt. Seit ein paar Jahren gehört auch das Nr. z.P. dazu, in bester Nachbarschaft zum Forum. Ein bisschen moderner, ebenso sympathisch. Fatoni hat den Laden mal nach allen Regeln der Kunst zerlegt. Überall dort findet seit Wochen, Monaten nichts mehr statt. Schlimm. Was tun, dachte sich das Bielefelder Label Kapitän Platte und veröffentlicht Anfang Januar einen Soli-Sampler: Kapitän Plattes Lokalrunde. Zu den drei genannten Clubs, die davon direkt (!) profitieren, gesellt sich noch das Movie - da war ich allerdings aus unerfindlichen Gründen nie drin. Was ist zu hören? Neun Lieder lokaler Bands samt all möglicher Spielrichtungen: treibender Rock, sphärischer Post Rock, Indie, New Wave. Ja, das lohnt sich. Mit dieser guten Sache unterstützt man Menschen voller Herzblut, die vor Ort verankert sind, phantastische Arbeit machen und das (Nacht-)Leben der Stadt bereichern!


Lizzard
(sb) Bis zum Release von Eroded am 19.02.2021 wird noch einiges Wasser durch den Bodensee fließen, aber ich habe schon mal ein erstes (und zweites und drittes) Pre-Listening des neuen Albums von Lizzard gewagt und fühle mich gut 25 Jahre zurückversetzt. Geschmeidiger 90er-Jahre-Sound in neuem Gewand. Die Franzosen klingen mal wie Alice In Chains, gelegentlich noch ein bisschen härter - und transportieren trotz allem weder eine Grunge- noch eine gängige Metal-Attitüde. Kann man ihnen ja durchaus positiv auslegen. Mit Prog-Rock kommt man der Sache wohl am nächsten. Die elf Tracks lassen sich auch easy am Stück durchhören, nix zum Skippen dabei - und doch fehlt mir so das Momentum, wirklich darauf einzusteigen, gefesselt zu werden. Schade eigentlich.

 
Oi Va Voi & Anna Phoebe
(ms) Es gab ja mal eine Zeit, in der New Age-Musik sehr populär war. Diese recht spirituell angehauchte Popmusik à la Enigma, wo auf breite, große, ins Kitschige gehende Synthie-Flächen teilweise Text drauf gesprochen wurde. Bisschen unheimlich, aber auch bisschen geil. Es ist ein extrem hinkender Vergleich zur neuen, sehr hörenswerten Bearbeitung eines Liedes von Oi Va Voi durch deren Violinistin Anna Phoebe. Hier wir auch mit Hall, pulsierendem Beat und frickeligen Soundkonstruktionen gearbeitet. Die Formation mit neun (!) Mitgliedern machen die beste Interpretation von Weltmusik: Irgendwo zwischen Jazz, Pop und viel groovigem Sachverstand, was nicht näher zu beschreiben ist, aber sehr gut aufgeht. Vanished World erschien auf dem letzten Album und Phoebe gab dem Track einen neuen Anstrich: Mehr Tempo, mehr Dramatik, mehr Griffigkeit, man könnte dazu tanzen. Die Ausgangsversion war etwas langsamer, feiner, fast melancholisch. Toll, was die Violinistin daraus gemacht hat!


Monaco F
(sb) In Bayern genießt Monaco F ja durchaus Kult-Status und das völlig zurecht. Sein Jahresrückblick auf dieses seltsame 2020 erscheint heute und wird im Freistaat sicher wieder ordentlich eskalieren. Ebenfalls zurecht. Schließlich war und ist 2020 nur So Mittel - und das wird man doch mal sagen und rappen dürfen.
 

Gossenboss Mit Zett
(ms) Die Auswahl von Rap auf unserer Seite lässt sich ganz grob kategorisieren: Flow, bisschen Nonsense, Sympathie, klare politische Einstellung und eine genau dosierte Portion Hass. Dazu gesellt sich nun Gossenboss Mit Zett! Bester Oldschool-Rap, auch wenn das die 'Szene' vielleicht anders sieht - mir egal. Stabiler Beat mit Wumms und einfach schnörkelloser Rap darüber. Das reicht, das passt. Vor zwei Jahren sah ich den Dresdener Rapper als Support von Neonschwarz; möglicherweise kann ich mich an seinen Auftritt nicht mehr so recht erinnern. Am 12. März jedoch erscheint seine neue Platte No Future. In die gleichnamige Single kann man nun reinhören, sie macht sehr neugierig und steigert die Vorfreude auf das Album! Schön laut gedreht:

Sonntag, 13. Dezember 2020

KW 50, 2020: Die luserlounge selektiert


www.haw-hamburg.de
(sb/ms) Im digitalen Orbit und durch eine unglaublich blöde Funktion von blogger ging am Freitag kurz vor Veröffentlichung die gesamte Selektion flöten. Da stecken ein paar Stunden Arbeit drin. Das lässt sich nicht mal eben so wiederholen. Oft kommen beim ersten, direkten Hören ja die besten, treffendsten Gedanken, die beim nochmaligen Hören dann verfeinert werden. Nun, das wird hier nicht der Versuch einer Kopie des eigentlichen Beitrags. Aber ohne Selektion geht halt auch nicht. Daher wird der Text jeweils nur sehr knapp, die Musik bleibt.
In der kleinen Einleitung habe ich mich über den Werbeslogan der Stadt Osnabrück geärgert, den ich jedem Morgen beim Start- und jeden Nachmittag am selbigen Zielbahnhof sehe: In Osnabrück kannste dir was wünschen. So unglaublich blöd. Das gibt's ja gar nicht. Würde ich nicht in meinem aktuellen Job, den ich sehr gerne ausübe, arbeiten, wäre ich mitunter in die Werbung gegangen. Vielleicht auch nur für den Moment, um beim Beschluss eines solchen Slogans lautstark auf den Tisch zu steigen und anschließend zu brüllen: NEIN, NEIN, NEIN! BITTE NICHT!

Nun gut. Hier die Selektion der KW 50 als Lightversion. Bitte!

Audio88 & Yassin
Die beiden Berliner Rapper hauen im kommenden Jahr eine neue Platte raus - Todesliste. So freundlich wie eh und je. Doch diese Art zu rappen zeugt von Talent. Denn ihre derbe Sprache ist nicht beliebig, der Humor - wenn auch hart - ist immer zu hören. Die klaren Ansagen immer mit einem nicht zu sehenden Augenzwinkern. Oder halt auch nicht. Denn Schellen müssen ausgeteilt werden. Ähnlich funktioniert WUP - weiß und privilegiert. Audio88 und Yassin zeigen, wie es geht.


Dagobert
Wie geht Kunst, Schlager, Herzschmerz, Tanzbein und Humor zusammen? Der Schweizer zeigt es mal wieder. Dagobert veröffentlicht im kommenden Jahr sein neues Album. Es wird Jäger heißen und die gleichnamige Single ist nun zu hören. Dass er selbst Schwierigkeiten damit hat in seiner Rolle stets seriös zu bleiben, zeigen seine Liveauftritte. Letztes Jahr sah ich ihn beim Reeperbahnfestival. Vor seinem Gig stand er im Publikum und währenddessen waren seine Gesichtsmuskeln oft so angespannt, dass man Sorge hatte, er müsste gleich lauthals losbrüllen. Dennoch: Seine Musik bleibt ein wundervolles Alleinstellungsmerkmal!


WHOLE
Dieser Blog ist ein Perpetuum Mobilé. Ja, man denkt, es gäbe keins. Doch ich beweise das Gegenteil. Wir werden mit Musik beliefert in einem nie endenden Takt. Und das ist großartig. Denn dabei entdecken wir Bands und Kollektive, die man nie zu Ohren bekommen hätte. Unter anderem: WHOLE aus dem Großraum Berlin. Vor zwei Jahren veröffentlichte das Duo ihre erste Platte, nun folgt eine Neuauflage mit Bearbeitungen und Remixen. Unter anderem zu Tongue To Machine. Ein großartiker Remix von Mandelbrot ertönt das Lied in allerbester, dynamischer, leicht düsterer Editors-Manier!

Juse Ju
Er gehört im Rapgeschäft und sowieso zu unseren absoluten Lieblingen. Nicht nur weil Juse Ju so unglaublich sympathisch ist, sondern weil er immer besser wird. Das eindrücklichste Beispiel dazu ist sein diesjähriges Album Millennium. Ein paar harte Lieder hat er davon schon mit einem Video versehen. Ein Song aus seiner Japanphase, Model In Tokio, ist seit dieser Woche draußen und wir müssen es nochmal sagen: Phantastisch, Juse!


Mine
Sie ist und bleibt eine Ausnahmekünstlerin. Mine ist großartig. Und das zeigt sie immer wieder. Ein tolles Beispiel ist ihr letztes Album Klebstoff. Über die gemeinsame Platte Fatoni müssen wir gar nicht sprechen, einfach perfekt! Nun folgt im Frühling die nächste Langspielplatte, die Hinüber heißen wird. Die Vorfreude ist nachvollziehbarerweise groß. Und die Ankündigung derselben herrlich ungewöhnlich. Die Marktgesetze fordern in der Regel eine oder mehrere Vorabsingles. Ja, die kommt noch. Doch vorher hat Mine zu Unfall alle Noten, Griffe, Akkorde, den Text und Partitur online gestellt, sodass sie die Kreativen auffordert ans Werk zu gehen. Tolltolltoll! Im Januar folgt ihre eigene Version!


Ostberlin Androgyn
Uhi, hier kommt mal wieder ein Name auf die Spielwiese der Musik, der direkt eine inhaltliche Ansage mit sich zieht. Mit dem ganzen Berlin-Quatsch haben meines Erachtens Sido und Co., als es noch Die Sekte gab, angefangen. Einige zogen nach. Als Provokation, Nachahmung, Aufforderung. Bei Ostberlin Androgyn kann man sich vorstellen, was drin steckt: Gesellschaftkritik und Selbstreflektion ohne Ende auf irgendwie geile Art und Weise. Genauso ist es. Daher auch Audiolith! Rap, Trap mit Köpfchen, das mögen wir!


Tom Sanders
Teleman ist in UK eine große Sache, kann man so sagen. So richtig durchgestartet sind sie hierzulande noch nicht - kann ja aber noch kommen. Ihr Frontmann Tom Sanders zumindest veröffentlicht jetzt eine Soloplatte und die wird richtig schön, richtig rund, ganz wohlig. Only Magic ist seit letzter Woche draußen und die Begeisterung unsererseits zeigt, dass wir im tiefsten Herzen immer noch an der guten alten, sanften, wunderschönen Indiepopmusik hängen!


The Weather Station
Es sind oft die leisen Töne, die man schnell überhört. Und bei denen man auch sagt, dass sie einen nicht so richtig packen. Irgendwie irre, dass man sich da weniger drauf einlässt. Doch es gibt so gute Gründe! Einen wundervollen liefert Tamara Lindeman ab mit ihrer zweiten Single I Tried To Tell You aus ihrem neuen Album Ignorance - erscheint im Februar. Das neue Lied von The Weather Station geht in eine ähnliche Richtung wie Get Well Soons Love - der Track, nicht das Album. Es schwingt unterschwellig und erscheint dort mit wahrer Schönheit. Auch die visuelle Kunst von Lindeman ist bemerkenswert: Der Protagonist des Videos spielte auch schon bei Robber eine nicht unwesentliche Rolle und was diese Blumen mit ihm machen... das würde ich gerne wissen.



Shame
Im Fernsehen, im Radio, in den Innenstädten, in der Werbung. Überall ist ein klassischer Winter zu sehen. Mit Schneemännern, Schlitten, tollenden Kindern im herrlichen Weiß - ganz viel Harmonie. Doch die Kinder, für die das gemacht ist, haben möglicherweise noch nie Schnee gesehen. Ich lebe im Norden und kann mich nicht erinnern, wann es das letzte Mal hier wesentlich geschneit hat. Vor sechs, sieben Jahren vielleicht?! Vielleicht bringen Shame mit ihrem neuen Song Snow Day den Winter zurück. Doch seien wir ganz ehrlich: Nein, das tun sie nicht. Großartig ist das Lied dennoch. Teilweise so schön arhythmisch, schön krachend, postpunkig, sich wehrend gegenüber jeglicher Beliebigkeit. Wenn ich solche Musik höre, kann ich auch auf Schnee verzichten: Super!



Donnerstag, 10. Dezember 2020

Sigur Rós - Odin's Raven Magic

Foto: Eva Vermandel
(ms) Weil es so seltsam überraschend und auch irgendwie untypisch ist, ist Odin's Raven Magic von Sigur Rós ein phantastisches Album! Logisch, das will erklärt werden?
Ein neues Album von Sigur Rós? In meiner kleinen Welt nichts weiter als eine Begebenheit, für die ich alles stehen und liegen lassen würde, wie die Besprechung von Jónsis Soloalbum zeigt. Erklingt der Name der isländischen Band, erwarte ich nichts anderes als ein markerschütterndes Meisterwerk. Es kann leise, poppig oder düster sein. Überwältigend muss es aber mindestens sein. Die Ankündigung Anfang Herbst kam tatsächlich aus dem absoluten Nichts. Über das Bestehen der Band wurde viel spekuliert. Insbesondere, da Jónsi ja Shiver veröffentlicht hat. Außerdem sind von der ursprünglichen Besetzung nur noch er und Bassist Georg übrig. Zu zweit ist diese Band nicht zu stemmen. Ein Glück, dass einige ihrer früheren Aktivitäten sehr gut dokumentiert worden sind. In Bild. Und in Ton. Das ist das Grundgerüst, dass es Odin's Raven Magic überhaupt gibt. Diese Aufnahme, die seit vergangenem Freitag als neues Album zu erwerben ist - und der Kauf ist ein absolutes Muss - ist achtzehn (in Zahlen: 18) Jahre alt. Von 2002. Holla, da möchte ich gar nicht dran zurück denken.

Einzelne Aufnahmen aus diesem opulenten Werk geisterten immer wieder durchs Netz. Auch auf meiner Festplatte schlummert seit vielen Jahren das Lied, was nun unter dem Namen Dvergmál zu hören ist - gab es wohl mal irgendwo als Download. Warum ausgerechnet jetzt und ob man wieder Hoffnungen haben darf, dass die Band in irgendeiner Besetzung wieder aktiv wird, steht in den Sternen. Und da schauen wir nun einfach mal nicht hin sondern geben uns einfach diesen formvollendeten 65 Minuten hin. Statt zu spekulieren, sollte man dankbar sein, dass dieses Stück Musik existiert. Ja, so kann man es sagen.

Doch typisch für Sigur Rós ist Odin's Raven Magic nicht. Es hat nicht den Postrock-Charakter der ganz frühen Lieder. Nicht das mystisch Verwunschene von Takk, nicht die ruhige Kraft, die auf Valtari immer wieder ausbricht, nicht dir poppige Sorglosigkeit von Með suð í eyrum við spilum endalaust und auch nicht die düstere Wucht von Kveikur. Es ist von allen Phasen etwas dabei und steht doch zeitlich viel weiter davor.
Eine weitere Beobachtung ist hier absolut vonnöten: Dies sollte eigentlich nicht als reine Sigur Rós-Platte gelten. Dazu gibt es viel zu viele Akteure, die bei der Entstehung, Umsetzung und Realisierung beteiligt gewesen sind. So müssen eine Menge Namen genannt werden, die nicht übergangen werden dürfen: Da ist Hilmar Örn Hilmarsson. Er forschte und schrieb die Texte. Denn dahinter verbirgt sich eine alte isländische Sage um einen Raben, eine apokalyptische Warnung über das nahende Ende. Steindór Andersen ist als Einzelperson auf dem Album wohl am präsentesten. Er ist Kantor und mit einer wunderschönen, einprägsamen, wohligen, dunklen aber auch erwärmenden Stimme gesegnet. Maria Huld Markan Sigfúsdóttir hat neben/mit Sigur Rós vielleicht den größten hörbaren Einfluss auf das Werk. Sie ist Teil der Gruppe amiina, im wesentlichen ein instrumentales Streicher-Ensemble, mit denen die Isländer häufig kollaborierten und gemeinsam auftraten. Sie und Kjartan - ehemaliger Keyborder der Band - haben die ganzen Arrangements geschrieben, also den Löwenanteil von Odin's Raven Magic. Ist jetzt alles klar? Gut. Dann ab in den Sound der Platte, die im Kern für das Reykjavik Arts Festival 2002 erdacht worden ist.

Mit 65 Minuten hat die Live-Aufnahme, deren wesentlicher Charakter nur am Applaus am Ende zu hören ist, durchaus die Länge eines Filmsoundtracks. Rein atmosphärisch ist Odin's Raven Magic oft kaum davon zu unterscheiden, man könnte es mit Howard Shore oder Hans Zimmer verwechseln. Einzelne Lieder herauszupicken ist natürlich möglich, wird dem Album aber nicht gerecht. Es ist als Ganzes gedacht und muss zwingend als Ganzes gehört werden. Nur so ist der Zauber zu erfühlen, am besten recht laut, sodass der Chor glänzen, die Streicher berühren, Andersens und Jónsis Stimme erklingen und sich so herrlich abwechseln und in ihrer Unterschiedlichkeit ergänzen. Und es taucht ein weiterer wichtiger Charakter auf dem Album auf: ein außergewöhnliches Marimbaphon. Der Bildhauer Páll Guðmundsson hat es extra aus grob geschlagenem Stein abgefertigt. Fünf Oktaven - ein einzigartiger Klang!
Ja, ich weigere mich hier einzelne Stücke herauszupicken, man wird ihnen durch Worte eh nicht gerecht. Dieses Album muss gehört, genossen, erlebt werden. Doch worin besteht dieser Zauber, der mich nicht loslässt? Man könnte es vielleicht als radikale Harmonie bezeichnen. Der Klang des Marimbaphons ist derart rund und weich, fast unverschämt. Andersens Stimme hat etwas kirchlich Erhabenes, Behütendes, das angenehm in den Körper schwingt, wenn es sich an den Dissonanzen erhebt. Jónsis Singanteil ist wesentlich geringer, doch seine Kopfstimme ist ein schöner Kontrast. Ganz verrückt: Jónsi sing - meines Erachtens - nicht wie Andersen auf Isländisch, sondern auf seiner Phatasiesprache Vonlenska. Spannendes Konzept, beides nebeneinander stehen zu lassen. Dann ist da dieser herrliche Chor. Auch der singt oft keinen Text, sondern nur lang gezogene Vokale, deren Gesamtbild dann wieder wie ein einzelnes Instrument erklingt, so einnehmend und mitunter zart. An einigen Stellen erklingt auch Bass und Schlagzeug von Sigur Rós, um dem ganzen mehr Schwung, Pop und Rhythmus zu bringen.
Ja, die Lieder auf Odin's Raven Magic pendeln zwischen vielen Polen - von der Instrumentierung bis zur Stimmung und Dynamik. Wenn es stiller ist, ist es immer voller Spannung, weil Harmonien gegeneinander ausgespielt werden. Mit Marimbaphon wird es beinahe poppig und zum Ende hin ist die Apokalypse, von der der Rabe berichtet, in Mark und bein zu spüren, denn dann wird es laut, brachial, fulminant, groß.

Was für ein Geschenk. Was für eine schöne Gabe, deren Ergebnis nun zu hören ist. Was für ein passender Grund, um insbesondere jetzt über eine Stunde sich entführen zu lassen. Von einem phantastischen Werk.


Freitag, 4. Dezember 2020

KW 49, 2020: Die luserlounge selektiert

Quelle: wikimedia.org
(sb/ms) Weihnachtsbeleuchtung - ein heikles Thema. Wenn ich morgens durch die Straßen radele, war es bis vor Kurzem noch stockfinster in der Frühe. Doch dann ging es langsam los. Hier und da waren die Straßen schon erleuchtet mit schönen, sanften Lichtern in adventlichen Formen voller Heimeligkeit. 
Ja, kurz nach dem Aufwachen ist das eine herrliche Atmosphäre. Es ist sowieso alles still und müde und noch etwas träge, die Gedanken noch gar nicht fokussiert. Da ist so ein kleiner optischer Effekt genau an der richtigen Stelle.
Aber!
Nun gibt es in der Nachbarschaft ja auch einige Häuser und Wohnungen, die bereits in weihnachtlicher Illumination erstrahlen. Einige Fenster sind geschmackvoll und dezent geschmückt, sodass man sich drinnen bestimmt unendlich wohlfühlt. Doch dann - und das kennt wohl jedeR - gibt es diese Fenster, die wie ein Roller Coaster aufblinken, blitzen, ballern. Da bekommt man im Vorbeigehen ja schon Augenkrebs. Jedoch! Da muss ja auch jemand drin sein, also in der Wohnung mit der Idee: "Wir machen es uns hier jetzt richtig schön gemütlich" - und dann kommt ein gruselige, kirmesähnliche Ballerei dabei heraus. Damit ist bewiesen, dass Geschmack nicht objektiv ist. Oh weh...

Hier wird aber gelauscht, gelust, selektiert! Wir - die Adventslounge - präsentieren: Die Selektion!

Dope Lemon
(ms) In den letzten tagen wurde es zunehmend dröge, wenn man aus dem Fenster schaut, durch die Gegend spaziert oder auf dem Rad fährt. Nichts aus graue Wände am Himmel, eine nicht näher zu definierende Einschätzung des Wetters. Als ob es selbst nicht weiß, ob jetzt Winter oder noch Herbst ist. Was wir uns alle zurück wünschen ist klar: Draußen mit Freunden ganz gemütlich abhängen, die Zeit und das Leben genießen, während alles andere mal warten kann. Muße, Gelassenheit, Genuss. Dieses Gefühl immerhin bringt jetzt Angus Stone aka Dope Lemon zu uns zurück. Mitten in der dunkel werdenden Jahreszeit beschenkt uns der immer entspannte Sänger einen extrem gelassenen Sommerhit, der das Verliebtsein preist. Wie schön! Ja, diesen Kitsch kann man auch einfach mal zugeben und zeigen. Dazu passt das ebenso unaufgeregte Video. Schwierig ist natürlich, dass nur gut aussehende, junge, weiße Menschen darin zu sehen sind; ohne Makel, alle sportlich dünn und sexy. Da kann man dran arbeiten, lieber Angus Stone! Klar, Kids Fallin' In Love ist keine musikalische Meisterleistung, muss es ja auch nicht immer sein. Ein kurzweiliger Track voller guter Gefühle hat ebenso seine sehr gute Berechtigung.

 

Sophie Hunger, Faber & Dino Brandão
(sb) Samstag Abend und das Bier schmeckt gerade ganz gut. Aktuell fließt das Pale Ale einer Dornbirner Brauerei mit doofem Namen meine Kehle runter und ich bin alles andere als gut gelaunt. Fußball-Frust, überarbeitet, gestresst, zu wenig Schlaf. Kind im Bett, Frau unterwegs, Gott sei Dank gibt es Musik. Und Ich Liebe Dich ist doch das Beste, was man sich vorstellen kann, um auf positivere Gedanken zu kommen und sich die restlichen Stunden bis zum Schlaf angenehm zu gestalten, oder? Genau diesen Titel trägt das Album von Dino Brandão, Sophie Hunger und Faber, das am 11.12. veröffentlicht werden wird und die drei Künstler*innen von einer bislang zumeist unbekannten Seite zeigt. Die Songs werden in Mundart zelebriert, was mich als Bewohner der Grenzregion zur Schweiz und häufiger Besucher des Nachbarlands nur bedingt vor unlösbare Aufgaben stellt, aber der Durchschnittsdeutsche dürfte Probleme bekommen. Wie dem auch sei: Die drei legen eine bezaubernde Scheibe vor, die das Herz anspricht und große Gefühle transportiert. Ihr Ziel, der Kälte und Distanz unserer Zeit, Wärme und Geborgenheit entgegenzusetzen, erreichen die drei spielend. Das tut gut, gerade jetzt, gerade heute, gerade derzeit. Leider gibts hierzu kein Video.
 

Christine & The Queens
(ms) Für mich ist sie ein Phantom. Öfter mal was drüber gelesen aber nicht wirklich rein gehört: Christine & The Queens. In Frankreich ist sie ein großer Star. Wobei es schwierig ist, für diese Person diesen letzten Satz zu schreiben. Denn sowohl "sie" ist vielleicht nicht das richtige Pronomen und "Star" auch nicht ganz korrekt im Genus. Héloïse Letissier, so der bürgerliche Name, entzieht sich jeglicher Zuschreibung von Geschlechterrollen. So auch in ihrem Auftreten und ihrer Musik. Kein Wunder, dass ihre aktuelle Single 3SEX heißt. Zusammen mit Indochine, Giganten am französischen Pophimmel, erschien nun dieses Lied, in dem die Schwierigkeit der Zuschreibung von Geschlecht besungen wird. Wie alles in ihrer/seiner Kunst ist auch dieser Track in einen größeren Zusammenhang gebettet. Letzte Woche war der Tag gegen Gewalt an Frauen. Ein tragisches Gedenken. Denn gezielte Gewalt gegen Frauen zieht sich leider so breit durch unsere Gesellschaft. In jeder Bahn, in der wir sitzen, auf jedem Konzert, wo wir stehen, bei der Arbeit, beim Einkaufen, beim Arzt. Überall begegnen wir Frauen, die betroffen sind. Schützen wir sie!



Less Than Jake
(sb) Es gibt ja so Bands, bei denen weiß man einfach, was man bekommt. Es wird keine Überraschungen geben, weder negativ noch positiv. Less Than Jake sind so eine Truppe, die sich seit knapp 30 Jahren treu bleiben, ihr Ding durchziehen und dabei gar nicht groß probieren, neue Wege zu beschreiten oder mal nen Ausreißer zu wagen. Im Fall der Band aus Florida ist das insofern okay, als sie halt seit jeher zu gefallen wissen, allerdings bleibt der Kaufreiz bei Silver Linings (VÖ: 11.12.) etwas auf der Strecke, da man halt auch eins der bisherigen Alben zurückgreifen könnte. Lediglich der Umstand, dass der letzte Longplayer bereits sieben Jahre zurückliegt, macht das gute Stück spannend. Und wie gesagt: Mit dem Quintett aus Gainesville macht man nichts falsch und wer Lust auf Qualitäts-Ska-Punk hat, der liegt hier genau richtig. Der Langzeitspaß wird mangels Vaariabilität aber a bisserl auf der Strecke bleiben.
 
 
Sfera Ebbasta
(sb) In seiner Heimat Italien ist Sfera Ebbasta ein absoluter Megastar. Klingt übertrieben? Dann gebt Euch mal das: In der Woche der Veröffentlichung seines neuen Albums Famoso belegten die darauf enthaltenen 13 Tracks die Plätze 1 bis 13 der Single-Charts - die Miteinberechnung von Downloads für die Hitparade machts möglich. Aber woher kommt dieser Hype? Der Künstler gilt als König des Trap, einem Musikgenre, dem ich per se so gar nichts abgewinnen kann. Auch Autotune wird auf Famoso inflationär eingesetzt - weiterer ganz fetter Minuspunkt! Dazu noch die Attitüde, die Sfera Ebbasta transportiert - man könnte meinen, der Kerl hat bei mir komplett verschissen, aber weit gefehlt: Irgendwie ist das Gesamtbild so stimmig, dass es selbst mich überzeugt. Man kann Famoso alles in allem wirklich gut durchhören und dass man zu der Musik im Club und mit reichlich Alkohol bestens abgehen kann, glaub ich aufs Wort. Klar, ich bin da mit 40+ nicht die primäre Zielgruppe, aber das geht schon nachhaltig ins Ohr und Italienisch ist für diese Art Musik auch eine überaus geeignete Sprache. Positive Überraschung!

 
Crucchi Gang
(sb) Hach ja, Italien, ich vermisse Dich. Der Sommerurlaub ist schon so lange her und obwohl (oder weil?) schon das ganze Jahr über Musik aus südlichen Gefilden bei mir läuft, habe ich ein wenig Fernweh. Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys, Los Fastidios, FO-GO, Le Iene und natürlich die Crucchi Gang waren in meinen Ohren schon sehr präsent und Letztere legen heute einen Bonustrack zu ihrem tollen Album nach. Wieder einmal zeichnet Francesco Wilking (Tele, Die Höchste Eisenbahn) für die Übersetzung des deutschen Originals verantwortlich und singt diesmal auch gleich mit. An seiner Seite: Malika Ayane, deren Releases in Italien bereits mehrfach mit Platin veredelt wurden. Diesmal hat es "Nur ein Wort" von Wir Sind Helden erwischt und wie nicht anders zu erwarten, verpasst die Crucchi Gang dem Song einen neuen, grün-weiß-roten Anstrich, der einem sofort ein Lächeln auf die Lippen zaubert. Meiner Frau gefällt Solo Una Parola auch, aber das wundert mich nicht, denn die hatte das Album schon von Tag 1 an annektiert und hört es seitdem ständig beim Autofahren. Soll mir recht sein, solange sie nicht ihren Fahrstil an die italienischen Klänge aus dem Autoradio anpasst...


Blackmail
(sb) Man sollte viel öfter Blackmail hören. Echt jetzt mal! Nachdem kürzlich die Best Of erschien, hatte ich es mir fest vorgenommen und es auch durchgezogen. Vor zwei Wochen nun wurden auch die großartigen Alben Aerial View (2006) und Tempo Tempo (2008) als Vinyl neu aufgelegt (Danke, Unter Schafen Records!) und sind nicht nur optisch ein absoluter Hingucker (dunkelgrünes bzw. goldenes Vinyl), sondern beamen einen direkt ein paar Jahre zurück in eine Zeit, als Musik noch richtig groß war. Ich gebe zu: Blackmail stehen und fallen für mich mit ihrem ehemaligen Sänger Aydo Abay, der zwar sicher nicht der einfachste Charakter der Musikgeschichte ist, aber durch seine unnachahmliche Stimme und Aura das Wirken der Band nachhaltig geprägt hat und Fußspuren hinterließ, die sein Nachfolger Mathias Reetz nicht ausfüllen konnte.
Die beiden vorliegenden Alben sind der beste Beweis dafür, wie entscheidend Abay für den Erfolg des Quartetts aus Koblenz ist: Das Songwriting seines kongenialen Partners Kurt Ebelhäuser ist schon herausragend, doch so wirklich veredelt werden die Tracks erst durch die perfekt harmonierende Stimme Abays, deren Attitüde (zumindest für mich) so typisch und nachhaltig ist, dass sie ihresgleichen sucht. Auch nach 14 bzw. 12 Jahren haben Aerial View und Tempo Tempo nichts von ihrem Glanz verloren - ganz im Gegenteil!

 
Dexter
(ms) Es ist so: Man gibt bestimmten Künstlern mehr Aufmerksamkeit als anderen. Das ist ja auch irgendwie klar. Man nimmt sich bei manchen auch mehr Geduld, um darüber zu berichten. Oft auch die Zeit, um das Gute zu sehen, um bloß nicht enttäuscht werden zu wollen. Seltsame Erwartungshaltung halt. So auch bei Dexter. Letzten Freitag ist sein zweites Solo-Album Yung Boomer erschienen. Seine Kollaborationen mit Fatoni feier ich ziemlich ab, insbesondere Das Alles Ist Kunst ist ein irres Brett, vielleicht der einzige Rap-Song den ich tatsächlich komplett mitsingen kann. Haare Nice, Socken Fly war ein recht lockeres Debut, das sich um sein entspanntes Leben, Familie und Beruf drehte. Seine Art Rap zu gestalten war damals schon nicht so nach meinem Geschmack, aber es störte halt auch nicht. Ganz anders leider nun auf Yung Boomer. Man muss halt sagen, dass das größtenteils irrer Schrott ist. Die Themen sind die gleichen, die Beats nerven, der Humor knallt null. Das macht halt auf Dauer auch aggressiv, sodass ich diese Platte leider beim ersten Hören abbrechen musste. Das kann ich nicht aushalten, sorry. Auch wenn seine Story immer noch cool ist (Kinderarzt, der nun für Rap den Job geschmissen hat), nerven seine immer gleichen Geschichten bis aufs Mark. Sorry, ist aber leider so. Auch das Fatoni-Feature kann da nichts retten. Vielleicht gefällt es ja wem anders. 


The Go! Team
(ms) "Moderne" Weihnachtslieder. Man weiß oft nie so genau. Was soll das? Wozu überhaupt, wenn doch Last Christmas das beste Weihnachtslied überhaupt ist (keine Diskussion!)? Selbst die alten Kinder-Weihnachtslieder von Rolf Zuckowski knallen immer noch gut. Es bleibt ein nicht zu lösendes Rätsel, warum dieser Markt so hoffnungslos überschwemmt wird jedes Jahr. Auch das Label Memphis Industries hat seine KünstlerInnen gebeten einen besinnlichen Track für einen Sampler beizusteuern. Lost Christmas heißt er. Mit an Bord sind The Go! Team mit dem Track Look Outside (A New Year's Coming), das locker und sehr unbeschwert daher kommt. Trompete, Schellenkranz, eine eingängige Melodie und fertig ist der indiepoppige Weihnachtssong. Ja, das ist ein schönes Lied, keine Frage! Dazu würde ich mir normalerweise in den Fußgängerzonen den heißen Glühwein schmecken lassen. Doch, ganz ehrlich: Braucht das jemand? Nach dem Fest ist das eh vergessen. Kein Vorwurf an die Band oder an das Label. Das ist ja Usus. Doch genau dieser Usus ist für mich nicht weiter erklärlich.


Make Boys Cry
(ms) Was passiert, wenn man Ólafur Arnalds und die Grandbrothers zusammen tut? Was kommt dabei heraus? Klar, oft sind die Unterschiede in der Neoklassik nur minimal, aber durchaus zu erkennen. Folgendes behaupte ich einfach mal: Dann sind wir bei Make Boys Cry. Die ruhige Dramatik aus Streichern und Klavier ist eindrücklich beim Isländer nachzuhören, die bewussten aber doch immer wieder überraschenden Elektroparts bei den Brüdern. Genau das findet sich auf der ersten Single Skip Me, die seit dieser Woche draußen ist und das Album Glass Cannon (VÖ: 18. Dezember!) ankündigt. Nicht nur der Klang lässt hier innehalten. Auch das Video nimmt die Zusehenden mit. Dieses wunderbare, wunderschöne, duellierende Spiel aus schneller, mysteriöser Mechanik und Industrie gepaart mit so viel naher, extrem naher (das habe ich in einem Video wohl noch nie gesehen) Haut, die nie etwas Sexuelles, sondern reine Ästhetik ausstrahlt, auch Krampf, Kampf, Zärtlichkeit. Die Anonyme hinter der Band hat noch Größeres geschafft: Einen Plattenvertrag bei Audiolith! Ja, genau! Den alten Elektropunkern! Was für ein irres Gesamtpaket. Das Label, bei dem Egotronic, Waving The Guns oder Feinesahne Fischfilet an Bord hat, weist nun auch eine Pianistin auf. Unglaublich gute Wahl - satte, gelungene Überraschung, große Vorfreunde auf das Album!


Get Well Soon & Alex Mayr
(ms) Funktionale Musik. Das klingt beim ersten Lesen erstmal grausam und nach dem kleinen ABC des kapitalistischen Vermarktungsmechanismus'. Doch das muss gar nicht der Fall sein. Funktion und Musik geht wunderbar einher ohne dass der Rubel gewollt rollen muss. Das platteste Beispiel diesbezüglich ist immer Fahrstuhl- oder Einkaufsmusik; lockere Klänge bei denen man sich wohl fühlt, bleiben will und das Geld ausgibt - hallo Weihnachtsgeschäft!
Doch wenn Musik fulminante Bilder im Kopf erschafft, die cineastisches Ausmaß erreichen, kann man durchaus von Funktion sprechen. Dann erzeugen die Töne eine Verbindung im Hirn, die die innere Kurbelkiste zum Glühen bringt. Bestes Beispiel, beste Akteure: Get Well Soon und Alex Mayr. Konstantin Gropper ist eh der unangefochtene King am dramatischen Musikfirmament, der schon etliche Soundtracks entworfen hat (How To Sell Drugs Online (Fast) oder Xanadu). Nun hat er mir Alex Mayr erneut zugeschlagen und zu Detlev Bucks neuem Film Wir Können Nicht Anders (heute via Netflix online) die Musik beigesteuert. We Don't Really Care kommt etwas schwerfällig daher, aber nur auf's erste Hören. Dann entpuppt es sich als tolles Duett und die Haltung des Ausgeliefertseins aus dem Filmtitel und der Egal-Einstellung des Liedtitels spiegelt sich auf famose Weise im Klang. Das ist diese ganz subversive Art von Humor in Groppers Musik.

Mittwoch, 2. Dezember 2020

Donots - Birthday Slams Live!


Foto: Marcel Weste
(ms) Verwunderlich. Wuchtig. Frech. Mit diesen drei Adjektiven lässt sich das Live-Album der Donots vielleicht am besten zusammenfassen. Warum verwunderlich? Die Band aus Ibbenbüren macht seit satten 25 Jahren Musik und sind bekannt für ihre energiegeladenen Liveauftritte an allen Ecken des Landes und auch zu jeglichen Zeiten. Zwei Konzerte an einem Tag? Kein Problem? Frühsport mit den Krabbe tanzenden Leuten auf dem Deichbrand Festival? Ebenso kein Ding! Von einer Band, die vom Livespielen lebt - also nicht jetzt zwingend finanziell, sondern energetisch im weitesten Sinne - denkt man ja, dass alle paar Jahre mal ein Live-Album erscheint. Doch weit gefehlt! Das fand noch nicht statt. Daher ist es mehr als nahe liegend, dass das dringend nachgeholt werden muss. Warum wuchtig? Naja, selbsterklärend, oder? Die Fünf sind dafür bekannt, dass sie alles geben. Genau das ist auch auf dieser Platte zu hören. Birthday Slams Live! heißt sie. Genau, mit Ausrufezeichen! Am 4. Dezember erscheint sie. Bitterer Beigeschmack: Das elendige Weihnachtsgeschäft. Erklärendes marktwirtschaftliches Trostpflaster: Zu dieser Zeit finden in der Regel ihre Slams statt. Einem in Münster - also unweit ihrer Heimat - habe ich mal beigewohnt. Das hat schon irre Spaß gemacht. Komplette Ekstase. Vorbands waren Olli Schulz und Adam Angst. Wie geil?! Man kann sich die Donots nun also passend zu diesen nicht stattfindenden Konzerten nach Hause holen. Und da sind wir beim Stichwort frech! Wie frech ist das denn bitte?! Ein Jahr, in dem konzertemäßig fast nichts ging seit März liegt beinahe hinter uns und es wird wohl auch erstmal so weiter gehen, denke ich. Auch die Festivalsaison 2021 sehe ich so noch nicht. Genau in dieser Zeit ein Live-Album zu veröffentlichen ist da irre frech. Aber halt auch ein sehr guter Wermutstropfen! 

Plattencover

Bevor es in die einzelnen Songs, Städte der Aufnahme etc. geht, muss hier natürlich ein wesentlicher Punkt angesprochen werden, wenn es um Liveaufnahmen geht. Diese stehen und fallen mit der Qualität ihrer Aufzeichnung. Alle diese Platten müssen sich seit letztem Jahr mit einem Album messen. Das ist Nachtbrot von Turbostaat. Das ist definitiv die beste Live-Platte, die ich je gehört habe. So viel Druck, so viel Energie, so eine saubere, fein austarierte Aufnahme. Enorm! Da kommen die Ibbenbürener nicht dran. Das muss man so sagen. Das haben Kettcar aber auch nicht geschafft. Mit dem technischen Aspekt von Live-Aufnahmen und seinen Schwierigkeiten kenne ich mich nicht aus, kann es also nicht recht beurteilen. Doch ich weiß halt auch, dass es besser geht.

Fast eineinhalb Stunden dreht sich die Platte! Am besten sollte man die heimische Umgebung passend einrichten mit ausreichend Bier im Kühlschrank, die Nachbarn vorwarnen, dass nun nicht nur die Wände vor Sound wackeln, sondern auch mit zwei Haushalten gepogt wird, was das Zeug hält. Die 82 Minuten machen genau darauf extrem Bock! Die Energie, die bei den unterschiedlichen Aufnahmen, aus denen das Album zusammen geschnitten wurde, schwappt in jedem Takt über! Ob Berlin, Hamburg, Wiesbaden, Ibbenbüren oder Düsseldorf - knallen tut es überall.
21 Stücke sind auf Birthday Slams Live! zu genießen. Und wie es sich für eine Band, die ihre erste Live-Platte veröffentlicht, gehört, ist dies dann einem Best-Of gleichkommt. Von alten Klassikern wie Superhero oder We Are Not Gonna Take It bis zu ihren neuen Liedern auf Deutsch wie Scheißegal und Ich Mach Nicht Mehr Mit ist alles dabei!
Ebenso die Ansagen. Ein wichtiger Punkt bei Live-Alben. Sie dürfen nicht zu lang sein, spontan erscheinen und aus vollem Herzen kommen. Beispielsweise die Ekstase auf der Bühne nach Calling oder die Aufforderung zum größten Circle Pit, in dem sich Ingo dann "sauig" machen will. Herrlich! Was natürlich auch noch sein muss bei der ersten Live-Scheibe, deren Lieder aus den Geburtstagspartys zusammen kommen, sind Gäste. Ob Jan Windmeier oder die Antilopen Gang, es wird nienienie langweilig auf diesem Album! Wie könnte es auch?!

Fassen wir zusammen: Birthday Slams Live! ist eine astreine Live-Platte, die keine Wünsche offen lässt, super Ansagen beinhaltet, vor Energie schwappt, in die man sich sofort hineinbegeben möchte. Ja, der Sound ist nicht optimal, aber absolut befriedigend. Und bevor irgendwer meckert: Ja, die Welt hat genau darauf gewartet!