Montag, 28. März 2022

Leselounge: Hendrik Bolz - Nullerjahre

Quelle: kiwi-verlag.de
(ms) MusikerInnen, die Bücher schreiben. Ein ganz heikles Thema. Man könnte ja meinen: Wer Lieder schreiben kann, sollte auch ein gutes Buch schreiben können. Dieser vom Zweifel begleitete Gedanke schleicht sich bei mir immer ein, wenn ein MusikerInnen-Buch erscheint. Bei Frank Spilker war ich vor einigen Jahren stark enttäuscht. Thees Uhlmann hat mich positiv überrascht. Sven Regener spielt in einer eigenen Liga. Thorsten Nagelschmidt kann das auch sehr gut. Bei Flake würde ich intuitiv Abstand nehmen. Till Lindemann hat mal einen Gedichtband veröffentlicht. Oh weh! Die Texte von Rammstein sind ja schon übertrieben schlecht, da will ich gar keine Gedichte lesen.

Also: Heikles Thema.
Nun erscheinen nah beieinander zwei Musiker-Bücher. Der eine Autor: Monchi, Sänger von Feine Sahne Fischfilet. Der andere: Testo, eine Hälfte von Zugezogen Maskulin. Monchi schreibt über seinen Kampf gegen sein Übergewicht im Rausch des Erfolgs und wie er Joggen für sich entdeckt hat. Bei aller Liebe zu der Band, die ich einige Male live gesehen habe: Das will ich nicht lesen, interessiert mich null. Es ist bestimmt ein ehrliches, schönes Buch. Doch als der große Texter ist Monchi sicher noch nicht aufgefallen. Feine Sahne Fischfilet stehen eher für wuchtige Aktionen, deutliche Worte, große Eskalation und sehr, sehr großes Herz! Das kann man ihnen nicht absprechen. Dafür werden sie zurecht verehrt. Auch von mir.

Nun also ein Buch von Testo, bürgerlich Hendrik Bolz. Nullerjahre - Jugend in blühenden Landschaften heißt es. Zwei Gründe waren ausschlaggebend, warum ich es mir umgehend besorgt habe. Zum Einen traue ich ihm wesentlich mehr literarische Kompetenz zu als Monchi. Mein Gefühl sagt mir: Einen kohärenten Raptext (dass wir hier nicht von Capital Bra oder so einem Schrott reden, ist hoffentlich klar) zu schreiben braucht mehr sprachliches Gefühl als bei einem lauten Punkrocktrack. Zum Anderen berichtet Bolz auf den 330 Seiten über seine Kindheit und Jugend in den 00er Jahren in Stralsund. Ich bin nur zwei Jahre jünger als er und wollte unbedingt wissen, wie er großgeworden ist. Wir sind eine Generation und scheinbar in zwei gänzlich unterschiedlichen Welten großgeworden. Was dieses Buch so unfassbar stark ist: Es ist knallhart schonungslos. Hier wird kein Blatt vor den Mund genommen. Nie. Nichts beschönigt. Gar nichts. Ich wuchs in einer nordrhein-westfälischen Kleinstadt auf. Heile Welt, viel Natur, Musikunterricht, Fußballverein, später CVJM, in der Schule alles stabil, gutes Abi und weg. Was Hendrik Bolz aus seiner Kindheit und Jugend schildert ist der reinste maßlose Exzess. Großgeworden im Stralsunder Plattenbau. Überall Hoffnungslosigkeit, Arbeitslosigkeit, Gewalt, völliger identitärer Irrweg nach der Angliederung der DDR. Entweder herrscht in organisierten Kinder- und Jugendgruppen alte Schule mit "Iss deinen Teller auf" oder einer der Gruppenleiter ist ein waschechter Nazi. Ach, nee... die gab es in der DDR ja nicht. Diese paranoide Selbstanlügerei auf staatlicher Ebene rächte sich unmittelbar.
Hendrik Bolz wuchs also genau dort auf. In dieser Welt war es (wohl) selbstverständlich, sich ganz schnell behaupten zu müssen. Mit markigen Sprüchen, Abgrenzung, Härte, viel roher Gewalt, den richtigen Klamotten und ziemlich frühem, maßlosem Alkohol- und Drogenkonsum. Der junge Hendrik mittendrin. Statt selber zu kassieren, die richtige Kleidung tragen und fleißig austeilen. 
Diese Kindheit und Jugend beschreibt er in irrem Tempo. Ein Schreibstil, der sehr nah an seiner Art des Rap ist: schnell, vulgär, direkt, klar, hart. Regelmäßig dachte ich beim Lesen: "Scheiße, wie kann es nur so weit kommen?! Wie eklatant unterschiedlich können zwei Kindheiten 440km voneinander entfernt nur sein?!" und "Was war mit seinen Eltern?!" Von denen ist nie die Rede. Die andere Frage lässt sich sozialisatorisch erklären, ist aber dennoch unglaublich hart. Ein kleines Fünkchen Hoffnung keimt immer wieder: Dezente Verliebtheit erdet ihn immer wieder für kurze Zeit.

Ohne es überhöhen zu wollen: Das sollte in den Schulen gelesen werden. Standardlektüre, um mal klar zu kommen. Ein erschreckendes, schonungsloses, temporeiches, extrem lesenswertes Buch.
Hört man danach/dabei nochmal genau auf Testos Parts bei Zugezogen Maskulin, erscheinen seine Worte in ganz neuem Gewandt.
Das hier ist sehr gelungen!

Freitag, 25. März 2022

KW 12, 2022: Die luserlounge selekiert

Bild: android-developers.googleblog.com
(ms/sb) Frühlingszeit ist Pollenzeit und das nervt, wenn die blöden, kleinen Dinger den Körper ärgern. Also, logisch: Ab zur Apotheke und die kleinen Helferchen für die Alltagsbewältigung in die Tasche packen. Die große Frage bei diesem irren Shoppingerlebnis ist jedoch: In welche Filiale gehe ich?! Und damit meine ich nicht, wo der Service besonders gut und umsichtig ist. Fahre ich durch die Ausläufer der Stadt oder gehe durch ihre Mitte, falle ich ja alle fünfzig Meter in eine Apotheke. Warum, zur Hölle?! Warum gibt es derart viele Apotheken? In der Stadt, in der ich arbeite, sind es innen - ohne Scherz - auf 150 Metern drei Läden! In Zahlen: 3, in Worten: DREI! Wieso?! Wenn da drei H&M, McDonalds, Douglas, Thalia, Nordsee, dm oder sonst was wäre, würden die Kommentarspalten der lokalen Presse üppig gefüllt sein. Über Apotheken habe ich das noch nicht gelesen. Reingehen, Kram kaufen, raus gehen. Mehr machen Menschen dort nicht. Wie im Buchhandel oder bei Klamotten. Plus Beratung wie überall sonst auch. Und wieso tragen die eigentlich weiß? Da bekomme ich schon wieder die Krise, rege mich auf, der Kopf läuft heiß, die Fäuste ballen sich, der Herzschlag pumpt, Gallensteine bilden sich, ich glaube ich muss zur... 
Aber jetzt mal echt: W A R U M?

Medizinische Hilfe haben wir aber auch in petto. In Form von Seelenheil durch Musik. Klingt zu pathetisch? Da gibt's sicher was von... der luserlounge!

Dödelhaie
(sb) Die Dödelhaie aus Duisburg feiern dieses Jahr ihr 40-jähriges Jubiläum. Ergo: Die Herrschaften sind nicht mehr die Allerfrischesten, aber wen stört das schon? Die Pioniere des Deutschpunks sind noch immer aktiv und veröffentlichen am 22.04. ihr neues Album Linksextreme Hassmusik. Man kann nun natürlich sagen, dass das nach alten Männern klingt, die der Jugend nachhängen und sich nicht weiterentwickelt haben. Oder aber - und dazu tendiere ich ganz stark - man verweist darauf, dass sich die Band treu bleibt und ihre Stärken, die sie seit jeher auszeichnen, auch auf dem neuen Werk zelebrieren. Klar, das klingt mitunter ein wenig aus der Zeit gefallen und fast schon zu oldschool. Aber so fucking what? Die Dödelhaie brauchen nun wahrlich nichts mehr beweisen! Die Vinyl-Ausgabe kommt übrigens mit Download-Code und sehr innovativem Brettspiel daher.
 
 
Peter Doherty & Frédéric Lo
(sb) Ein zusätzliches "r" im Vorname, eine Ehe, ein Umzug nach Frankreich, keine Drogen mehr und ein gesetteltes Leben - Herr Doherty hat sich neu erfunden und das steht im verdammt gut. Musikalisch ist vom rotzigen Libertines-Sound nichts mehr übrig, der Künstler ist erwachsen geworden, seine Musik reifer. Die neuen Tracks sind voller Herzenswärme, pendeln zwischen folkig schlicht und Indie-Pop mit großen Streicherarrangements. Zusammen mit dem französischen Musiker Frédéric Lo hat Peter Doherty ein Werk geschaffen, das überrascht, wärmt und begeistert. The Fantasy Life Of Poetry And Crime (VÖ: 18.03.) ist ein großartiges Album, das sich zurecht in diversen Jahrescharts wiederfinden wird und das man unbedingt gehört haben sollte, auch wenn - und gerade dann! - man Doherty nicht mag. Songs wie Invictus oder Keeping Me On File haben das Zeug zum Klassiker. Ganz, ganz stark!
 
 
Jóhann Jóhannsson
(ms) Die Frage nach Genregrenzen lässt mich einfach nicht los. Zum Einen möchte ich sie gerne überwinden, auf der anderen Seite sind es nach wie vor hilfreiche Begriffe zur Einordnung. Beim Stöbern im Plattenladen oder dem Kennenlernen von Neuem bleibt es (für mich) unumgänglich. Für den leider viel zu früh, mi 48, verstorbenen Jóhann Jóhanssons ist Klassik oder Neo-Klassik der erste Begriff der einfallen mag. Und in dem 'Neo' steckt für mich der Hinweis zum Pop. Im wörtlichsten Sinne für populär. Erfolg hatte Jóhansson glücklicherweise noch einige Jahre zu Lebzeiten! Denn wenn klassische Musik bei Filmen verwendet wird, bekommt sie aus meiner Sicht automatisch einen popkulurellen Anstrich. Das is bei Jóhansson definitiv der Fall! Nun ist wenige Jahre nach seinem Tod erstmals das Oratorium Drone Mass zu hören. Er selbst hat es mehrere Male live dargeboten, aber nie aufgenommen, das hat Paul Hillier als Dirigent nun übernommen. Eingespielt hat er es mit dem American Contemporary Music Ensemble (ACME) und der Vokalgruppe Theatre Of Voices. Knapp 50 Minuten entführt uns diese Musik in eine gänzlich andere Welt. Eine wahnsinnig schöne Welt! Die jedoch sändig vor einer Bedrohung steht. Diese Bedrohung steckt im Namen, das Drohnen, eine beinahe permanente Vibration, die dem fast textlosen, aber im Vokalsingen breiten Gesang unterliegt. Es is mystisch, religiös, aufregend und beruhigend zugleich. In jedem Fall weich, wunderschön und trösend. Also ideal für diese verrückte Zeit!


Laut Fragen
(ms) Die oben erwähnten Apotheken sind oft in den Innenstädten zu finden. Die bilden ja ein trauriges Dasein. Ununterscheidbar reihen sie sich aneinander. Alles dasselbe, trostlos, langweilig, schwer und müde. Die vorherrschende Farbe, klar: Grau. Alles zubetoniert in Zeiten, wo PlanerInnen mal dachten, dass das fresh ist. Oder einfach schnell und billig ging. Diesem Thema hat sich nun das Wiener Duo Laut Fragen gewidmet. Grau (Viva Beton) heißt ihr neues Stück. Der Pressetext bezeichnet sie als Post Punk. Von der Einstellung her schon, klanglich passt das (für mich) nicht. Das is Avantgarde. Und bevor das hier einen pseudointellektuellen Überbau bekommt, geht es mir um die wortwörtliche Seite: Vorweg gehen. Was Maren Rahmann und Didi Disko machen geht weit voraus, befindet sich zwischen Geschichte, Lysik, Kunst, Musik und Politik. Davon zeugen nicht nur vertonte Zeilen von Ingeborg Bachmann oder fast vergessene Dichtkunst aus dem Widerstand während des Nazi-Regimes, sondern auch dieses Stück. Es oszilliert zwischen Wahn, religiösem Eifer und Sinnentleerung durch die Wiederholung, dass alles, alles, alles grau, grau, grau ist. Dazu gesellt sich ein Performance-theaterartiges Video, wo im Refrain wilde BetonanbeterInnen ihrem mystischen Eifer verfallen. Große, gelungene Kunst auf einer Orgelwalzermelodie!


Muff Potter
(ms) Es hat etwas gefehlt. Und ich bin nun richtig gemein und sage, dass es nicht zwingend diese Band ist. Dafür kenne ich mich mit der Musik, den Alben und Liedern von Muff Potter viel zu wenig aus. Auch ihre Tragweite kann ich nicht einordnen, da sie nie wirklich auf meinem Radar waren, weiß der liebe Gott wieso... Das was gefehlt hat, war ein Sound in der deuschsprachigen Gitarrenrockmusik. Ein dringlicher, satter, wenig verkopfter, energiegeladener Klang, der recht kompromisslos und kräftig ist. Dafür stand die Band immer schon mit ihrem Namen, so viel weiß ich. Als ich nun Ich Will Nicht Mehr Mein Sklave Sein hörte, riss es mich direkt ab der ersten Sekunde mit. Derartigen Klang habe ich lange, lange nicht gehört und er wusste sofort zu gefallen. Direkt, schnörkellos. Es ist nicht nur der Sound, sondern auch ein sehr kluger Text, der zwischen Individuum und seltsamem Alltagsdruck aus der Gesellschaft pendelt. Wir liefern uns gewaltig blöden Aufgaben und unbegreifbaren Konventionen aus, die uns zermürben. Schluss damit. Dabei Nagels herrlich, leicht rauchige Stimme. Und dann muss ich mich doch korrigieren: Diese Band hat offensichtlich gefehlt!
Nach den ersten Konzerten in den letzten Jahren nach der Auflösung 2009, kommt dieses Jahr, was kommen muss: Ein neues Album! Bei Aller Liebe erscheint am 22. August und könnte ziemlich gut werden. Live gibt es das dann selbstredend auch:

05.10.2022 Köln, Gloria Theater
06.10.2022 Wiesbaden, Schlachthof
07.10.2022 Jena, Kassablanca
14.10.2022 Hamburg, Uebel & Gefährlich
15.10.2022 Berlin, Festsaal Kreuzberg
02.11.2022 Leipzig, Conne Island
03.11.2022 Nürnberg, Z-Bau
04.11.2022 München, Freiheiz
05.11.2022 AT-Wien, Flex
09.11.2022 Saarbrücken, Garage
10.11.2022 Düsseldorf, Zakk
11.11.2022 Münster, Skaters Palace
12.11.2022 Bremen, Schlachthof


Mittwoch, 23. März 2022

Placebo - Never Let Me Go

Foto: Mads Perch
(ms) Fazit: Wow! Das muss direkt am Anfang stehen, dass diese Platte wirklich ordentlich reinknallt! Damit war aus meiner Warte überhaupt nicht zu rechnen. Dazu möchte ich zwei Gründe aufführen. Nummer 1: Placebo machen seit sehr, sehr vielen Jahren Musik. Da müssen sie einem nichts mehr beweisen. Überspitzt gesagt hätte dieses Album in dieser Wucht gar nicht sein müssen. Dass sie es trotzdem mit scheinbarer Leichtigkeit machen, erstaunt mich zutiefst. Andere Bands, die derart lang und erfolgreich unterwegs sind, agieren anders. Placebo zeigen einfach mit Never Let Me Go, dass sie es immer noch verdammt gut können und es allen zeigen! Bäm! Grund Nummer 2: Als vor einigen Wochen Beautiful James als erste Single raus kam, entstand Grund Nummer 1. Ich dachte mir: "Ja, ein poppiger Placebo-Song, das ist schon okay, aber halt nicht Special K!" Gut, dass auf diesem Werk ausreichend Lieder enthalten sind, die die Band von einer ganz anderen, frischen, mutigen, ihrer charakteristischsten Seite zeigen! Fazit: Wow!

14 Sekunden braucht die Platte nur, um mir den Atem zu rauben. Diese unsagbar stark verzerrten Gitarren kombiniert mit den brachialen Percussions und einer satten Portion Bass! Bäm! Forever Chemicals ist ein Start nach Maß! Und eines ist ja hoffentlich logisch: Wie klar, stark und unverkennbar Brian Molko (immer noch) singt, macht mich ganz weich! Ein Lied, das ich immer lauter stelle, je länger es läuft! Wenn er einem dann wieder Zeilen für die Ewigkeit zusingt! Gut, dass besagte erste Single direkt an zweiter Stelle kommt. Nicht, dass es dann abgehakt ist, aber dann ist schlicht mehr Zeit für die anderen Meisterwerke! Denn dann kommt Hugz! Wieder treibende typisch verstimmte Gitarren, rasch Gesag oben drauf und nach wenigen Takten hat dieses rauschhafte Lied komplett Fahrt aufgenommen! Die kleinen Pausen werden ausschließlich dazu genutzt, um dann wieder dort weiterzumachen, wo angefangen wurde: voran, voran, temporeich, voller Dynamik und nach einer Minute und fünfzig Sekunden wird alles noch wenige Töne nach unten gestimmt und mir bleibt fast das Herz stehen! Ein Track wie ein irrer, drogenummantelter Rausch durch einem beengten Tunnel!

Happy Birthday In The Sky nimmt ein wenig das Tempo raus. Das ist auch eine sehr gute Idee. Erstmal durchatmen. Diese Phase währt nicht lange, zeigt aber in heller Schönheit, dass die Band sowohl ein Händchen für die Eskalation als auch für sanfte Melodien hat. Hier zeigen sie, wie Songwriting auch funktionieren kann: Mit vielen, klug eingesetzten Elementen, die sich sachte aufeinander legen. Was mir seit jeher bei Placebo so unsagbar gut gefällt, dass sie Kitsch perfekt kontrolliert einsetzen können. Wenn bei The Prodigal zu Beginn großflächig die Streicher erklingen, ist das saugut und sauschön gemacht! Und wenn Brian Molko mit dem Zauber seiner Stimme davon erzählt, wie er die Welt verlassen wird, erlöst ist (was später aufgelöst wird), dann bin ich mir ganz unsicher, ob mir die Tränen kommen sollen oder in mir eine Woge der Berührung sich breit macht. Oder beides?!
Dann die nächste Single Surrounded By Spies. Ein Lied, das mir langsam, kräftiger werdend, mit Samtthandschuhen bestückt die Kehle zuschnürt. Gerne gebe ich mich dem hin, lass mich in die Ohnmacht fallen. Ein Song der inhaltlich ganz, ganz stark zwischen Individuum und großer Politik oszilliert. Es ist ein typisch für die Band sich entwickelnder Track, quasi mit dem Küchengeheimnis zubereitet, das seit 26 Jahren zurecht die Gehörgänge verzückt! 

Foto: Mads Perch
Auch Try Better Next Time war schon vorher zu hören, geht in eine ähnlich poppige Nummer wie der schöne James. Das geht problemlos in den Gehörgang, aber auch schnell wieder von dort hinaus. Bevor ich die Band das erste (und bislang leider einzige) Mal vor einigen Jahren auf einem Festival sah, bestand sie noch offiziell aus einem Trio. Mittlerweile sind Brian Molko und Stefan Olsdal als Duo das Gesicht der Band. Doch wie viele Leute brauchen sie, um diesen Sound auf die Bühne zu bekommen? Fünf, sechs zusätzliche Menschen müssen es schon sein. Gut zu hören ist diese Notwendigkeit auf Sad White Reggae, wo sie mal wieder schön mit elektronischen Elementen spielen! Ein Lied, das sich ganz hervorragend in dieses Album einfügt!

Zugegebenermaßen knallt die Platte zum Ende hin nicht mehr so außerweltlich wie vorher. Das ist aber nicht wild. So kann man ein wenig mehr auf den Text achten. Und ohne viel vorweg zu nehmen lohnt sich das insbesondere bei This Is What You Wanted. Irgendwo her hat Brian Molko ja ein irres Talent die düsteren Seiten des menschlichen Wesens ins sehr treffende Worte zu fassen!

Es ist kaum zu glauben, dass Loud Like Love neun Jahre her ist! Enorm! Die Zwischenzeit haben sie offensichtlich perfekt genutzt, um eine irre Scheibe rauszuhauen! Und ja, das letzte Drittel der Platte ist in meinen Ohren nicht mehr so überzeugend wie vorher. Dort liegt die Messlatte allerdings auch jenseits von Gut und Böse! Schwamm drüber, dass die Platte ein wenig austüdelt. Fazit: Wow!

Live wird das dann im Herbst knallen:

01.10. Frankfurt, Festhalle
04.10. Stuttgart, Schleyerhalle
06.10. Berlin, Mercedes Benz Arena
19.10. Leipzig, Quarterback Immobilien Arena
22.10. Hamburg, Barclaycard Arena
26.10. München, Olympiahalle
29.10. Zürich, Samsung Hall
02.11. Wien, Stadthalle
07.11. Köln, Lanxess Arena

Freitag, 18. März 2022

KW 11, 2022: Die luserlounge selekiert

Quelle: br.de
(sb/ms) Hinter dem Garten früher, wo ich aufgewachsen bin, auf der anderen Straßenseite, stand immer eine gelbe Telefonzelle. Klar, wir haben da auch mal Schindluder mit getrieben, gebrannt hat es da auch, aber das waren wir nicht. Ehrlich. Eine Telefonzelle also. Ein Raum in der Öffentlichkeit, in dem es möglich ist, ungestört zu sprechen. Über alles mögliche. Das bekommt dann ja glücklicherweise keiner mit. Schade, dass es sie nicht mehr gibt. Wir bräuchten sie dringend zurück. Dringender denn je. Denn es ist ja kaum auszuhalten. Ich merke es oft in der Bahn. Ich bin Pendler. Da telefonieren Menschen auch. Das stört, kann man denen ja aber nicht verbieten. Teils geht es dabei um derart private Dinge, dass ich mich frage, warum sie das mit allen teilen müssen. Das geht doch wirklich keinen etwas an. In den Innenstadtstraßen bietet sich das gleiche Bild. Teils wirklich laut und deutlich. Noch eindrücklicher wurde es mir dieser Tage im Wartezimmer beim Arzt. Und, ehrlich: Da saßen wir. Vier Typen. Bei zweien klingelte das Handy laut! 1. No Go. Sie sind beide dran gegangen. 2. No Go. Und plauderten über ihre Wehwehchen für alle hörbar. 3. No Go. Leute, Leute...

Was immer geht: Diesen Blog lesen. Denn er ist echt gut. Überzeugt euch selbst:

Johanna Amelie
(ms) Es kommt auf die richtigen Worte an. Auf die passenden Bilder. Die geglückten Vergleiche. Wenn es um schwere Zeiten, harte Zeiten, wackelige Zeiten geht, sind Durchhalteparolen selbstredend fehl am Platz. Selbst jedes noch so gut gemeintes Wort kann oft nicht helfen. Dann sind es Gesten und Handlungen, die Menschen auffangen. Wenn das wiederum in richtig sanfte, empathische Musik voller Güte und Menschlichkeit eingebettet ist, vermag ich von großer Kunst zu sprechen. Das ist Johanna Amelie mit ihrem Lied Swimsuit mehr als geglückt. Denn es ist ein Werk, das komplett stimmig ist. Damit meine ich das zarte, poppige Arrangement ohne allzu melancholisch zu werden, die treffenden, gesungenen Worte und vor allem das irre gut dazu passende Video, das die Haltung der Hilfe, der Unterstützung, des Beistandes einfach aber eindrücklich zeigt. Das hier ist sehr, sehr gelungen. Hut ab! Ihr neues Album Fiction Forever erscheint nächsten Monat!

Helge Schneider
(ms) Kunst ist nicht dazu da, um die Realität auszublenden. Aber sie ist für mich das beste Mittel, um in der Realität mal auf die große Pausetaste zu drücken. Das scheint dieser Tage mal wieder mehr als nötig. Sonst bringen mich Kriegsbilder und -berichterstattung um den Schlaf. Da ist es auch absolut legitim, wenn nicht sogar geboten, ein bisschen Quatsch und Klamauk aufzudrehen. Und wer wäre da nicht besser geeignet als Helge Schneider?! Eben. Heute bringt er mit Live in Luxmbourg mal wieder einen Bühnenmitschnitt raus. Ein schräger, kurzweiliger Abend, nur mit Klavier und Gitarre und allerhand Blödsinn, für die Schneider seit jeher bekannt ist. Das weiß schnell zu gefallen. Eine Stunde Quatsch zwischen Klassikern und neuem Material. Herrlich. Doof. Super. Pause.

Ghost
(ms) Hörgewohnheiten. Das ist oft ein Buch mit sieben Siegeln. Woher tauchen Bands auf, die gerade in Heavy Rotation daheim laufen? Wie verschwinden sie wieder? Wie gelangen sie auf den Radar und verschwinden wieder? Manchmal kann ich es mir erklären, manchmal ist es schleierhaft. Bei Ghost sind beide Seiten für mich zu sehen. Sie ploppten auf, da ich die Show und den Sound sehr geil finde. Habe sie zwei Mal live gesehen und war irre begeistert. Starkes Gesamtarrangement, das meines Erachtens ins Theater statt auf die Bühne gehört. Irgendwie verschwanden sie mit dem Album Prequelle aus meiner Sicht- und Hörweite. Nun erschien letzte Woche das neue Album Imperia und Tobias Forge ist als Papa Emeritus IV wieder in neuem Gewand am Mikophon zu hören. Die Nameless Ghouls erscheinen in Steampunkmanier und zeigen erneut, was 80er Heavy Metal und Hardrock kann. Wird bei mir nicht auf Dauerschleife laufen, doch die Faszination bleibt!

Shaban & Marten McFly
(sb) Huch, da sind wir aber spät dran, denn die EP Auf dem Weg nach draußen von Shaban & Marten McFly wurde bereits am 04.03. veröffentlicht. Bei uns trudelte sie vor rund zehn Tagen ein, seitdem war die Zeit arg knapp bemessen. Aber besser spät als nie, oder? Sechs Tracks, reichlich 90er Jahre-Hip Hop-Sound und mit Juse Ju sogar einen Gast, den wir in unserer kuscheligen luserlounge sowieso sehr verehren. Gute Voraussetzungen also, oder? Und tatsächlich enttäuscht die Scheibe nicht, denn textlich macht den Künstlern in Sachen Abgedrehtheit ohenhin kaum jemand was vor und auch vom Sound her knallt das. Wie heißt es im PR-Text so schön: Experimentelle Klangteppiche voll untypischer Breaks und musikalischer Parallelrealitäten. Joa, so oder so ähnlich isses wohl.

 
doppelfinger
(sb) Sososo schöne Musik! Ich hatte die Beschreibung des Künstlers im Vorfeld nicht gelesen, ging also komplett unvoreingenommen an by design (VÖ: heute!) ran - und wurde mit jedem Track noch ein Stückchen mehr in den Bann gezogen. Ich hatte etwas Wildes erwartet, doch genau das Gegenteil wurde mir präsentiert und nahm mich in den Arm. Verletzlichkeit und die kleineren und größeren Krisen einer Existenz bestimmen die Songs von doppelfinger. Der Oberösterreicher liebt die leisen Töne - und zelebriert diese auf eine ungemein angenehme Art und Weise. So koexistieren detailliert-verspielte Instrumentierung oder Gitarrenspiel mit weiten, sphärischen Cello-Melodien, bedrohlichen Harmonium-Parts und lasierenden Synthie-Drohnen. Ganz wunderbar!


Roger Eno
(ms) Einatmen. Ausatmen. Pause machen. Ruhe einkehren lassen. Entspannung. Alles mal fließen lassen. Den ganzen anstrengenden Quatsch mal außen vor lassen. Eskapismus. Wenn auch nur für 51 Minuten. Aber sie können heilsam sein. Heilsam in einer vogelwilden Zeit zwischen Bombenalarm und den neusten Gesundheitsverordnungen. Der Retter in der Not dabei ist Roger Eno. Bruder von Brian und seit Jahrzehnten Visionär mannigfaltiger Klangsphären. Seit 1985 veröffentlicht er alleine oder mit seinem Bruder Musik, die entweder für sich steht oder Filmen die passende Untermalung gibt. Nun wird am 22. April sein erstes Solo-Album auf dem legendären Label Deutsche Grammophon erscheinen. The Turning Year wird es heißen und ganz wundervoll werden. Im Vordergrund steht das Klavier, das immer wieder Unterstützung von Streichern bekommt und alles bleibt herrlich unaufgeregt. Einige Stücke grenzen an Melancholie, ohne sie jedoch je voll zuzulassen. Ein heikler Balanceakt, der sehr gelungen ist. 51 Minuten träumen, einatmen, ausatmen, Pause machen.


Wanda
(ms) Ob Wanda wirklich die Band ist, die den Rock retten wird, darf sicher bezweifelt werden. Auch dass sie im Pressetext als 'Kultband' deklariert werden, tut ein bisschen weh. Doch was Wanda definitiv retten können, ist ein Lebensgefühl. Nicht, dass es abhanden kommt, viel mehr erinnern sie uns daran, wie wertvoll es ist. Die Leichtigkeit, die vollkommene Verausgabung, der herrliche Rausch, das nicht-alles-so-wichtig-nehmen. Im neuen bunten Video zu Rocking in Wien inszenieren sie sich als Bindeglied zwischen Elvis, Falco und vielleicht auch den Village People. Damit geht auch die große Ankündigung einher, dass am 30. September ein neues Album erscheinen wird, das auf den Bandnamen hört. Live sind sie jetzt schon unterwegs bis ins kommende Jahr! Amore, Baby!

13.05.2022 Regensburg - Donau-Arena AUSVERKAUFT
14.05.2022 Dortmund - Warsteiner Music Hall
15.05.2022 Köln - Palladium AUSVERKAUFT
21.05.2022 Weissenburg - Heimspiel Open Air
04.06.2022 Innsbruck - Olympiahalle
17. & 18.06.2022 Wien - Stadthalle
23.06.2022 Thun - Cholelerock Open Air
24.06.2022 Zürich - Komplex 457
25.06.2022 Bad Ragaz - Quellrock Open Air
09.07.2022 Linz - Donaulände
16.07.2022 Graz - Freilufthalle B
21.07.2022 Erlangen - Kulturinsel Wöhrmühle
22.07.2022 Lörrach - Stimmen Festival
23.07.2022 Tüssling - Raiffeisen Kultursommer
19.-21.08.2022 Grosspösna - Highfield Festival
20.08.2022 Klagenfurt - Freigelände Wörthersee Stadion
10.09.2022 Dresden - Junge Garde
25.11.2022 Potsdam - Waschhaus
26.11.2022 Osnabrück - Rosenhof
27.11.2022 Rostock - Moya
29.11.2022 Hannover - Capitol
30.11.2022 Bremen - Modernes
02.12.2022 Mannheim - Alte Feuerwache
03.12.2022 Ulm - Roxy
04.12.2022 Bern - Bierhübeli
06.12.2022 Erfurt - Club Central
07.12.2022 Augsburg - Ostwerk
08.12.2022 Stuttgart - LKA Longhorn
10.12.2022 Saalbach - Bergfestival
10.03.2023 Würzburg - Posthalle
11.03.2023 Regensburg - Donau-Arena
13.03.2023 Ravensburg - Oberschwabenhalle
14.03.2023 München - Zenith
16.03.2023 Wiesbaden - Schlachthof
17.03.2023 Berlin - Max-Schmeling-Halle
18.03.2023 Hamburg - Edel-Optics-Arena
20.03.2023 Köln - Palladium

Dienstag, 15. März 2022

Herzrhythmusstörung: Sigur Rós gehen auf Tour

 

Quelle: facebook.com/sigurros
(ms) Die schwindende Hoffnung und die brodelnde Gerüchteküche gaben wenig Anlass, solch ein Ereignis jemals noch erleben zu dürfen. Seit Jahren besteht die Band nur noch aus zwei Künstlern, es gab kein Zeichen, dass sie wieder zusammen kreativ im Studio sind oder gar einen Anhaltspunkt, dass sie je wieder in irgendeiner Form wieder auf einer Bühne stehen würden. Mit einem Satz sind nicht nur sämtliche Gerüchte zerschmettert sondern auch der Rest steht Kopf: Sigur Rós sind im Studio und gehen dieses Jahr noch auf Welttournee! Irre! Das hätte ich in dieser Form in einer Nachricht, sie ploppte vor zwei Wochen auf, nicht erwartet. Entsprechend bekam ich beim Lesen unwiderrufliche Herzrhythmusstörungen. Vollkommen zurecht natürlich. 

Die isländische Band um Jónsi ist für mich klanglich und emotional das Non-plus-Ultra. Klar, ihre Texte versteht kein Mensch, das muss auch gar nicht sein. Es geht ‚einfach‘ nur um die pure Schönheit und Intensität, die sie mit ihren Liedern erschaffen. Ob das nun Postrock, Dreampop oder Ambient ist, ist ja vollkommen egal. Es geht um Zauber, Magie, Unaussprechliches, ja, Mystisches. Wer die Gruppe mal live gesehen hat, weiß wovon ich hier spreche. Und glücklicherweise lässt sich dieses Wundersame auch daheim in ihren Alben nachholen, nachspüren, nachfühlen. Wenn es laut aufgedreht ist und alles rückkoppelt und Musik ertönt, die keinen Vergleich mit sich zieht. 

Zwar habe ich schon an vielen Stellen erwähnt, dass Kettcar für mich die liebste Band ist, dabei bleibe ich auch. Doch gibt es einen wesentlichen Unterschied. Bei Kettcar fühle ich mich zu Hause, verstanden, die Texte sprechen mir aus dem Herzen. Bei Sigur Rós passieren ganz andere Dinge. Es ist, als ob die Seele aus dem Körper tritt und die Welt von oben sieht. Ja, ich lasse so viel Pathos zu und behaupte, dass der Besuch eines Sigur Rós-Konzertes durchaus ein religiöses Erlebnis sein kann. Für mich war das drei Mal so. Derartige Zustände bei mir selbst, waren mir bis dato fremd. Es ist die pure Energie, die auf der Bühne herrscht. Reine Dynamik. Glasklare Schönheit. Musik mit ihrer zauberhaften Kraft an ihr definitorisches Ende geführt. Was soll danach noch kommen?! Genau!

Lange habe ich es mir gewünscht, doch die Hoffnung war gering. Zu sehr sah ich Jónsi in seiner künstlerischen Entfaltung wachsen und wer sollte dieser Band wieder zuwachsen? Neben Bassist Georg Holm, der immer dabei war, ist nun Kjartan Sveinsson wieder zurück, der 2012 die Band verlassen hat. Momentan sind sie in einem Londoner Studio und Daten für Amerika und Europa sind bekannt. Oft habe ich behauptet, dass ich alles dafür tun würde, sie wieder zu sehen. Ich würde echt überall hin fahren, egal wann und was es kostet. Nun kommen sie zu mir. Wie wunderschön! Wann neue Musik zu hören ist, ist noch unklar, doch die Termine für ein außerweltliches Ereignis im Herbst sind da:

05.10.2022 - München, Zenith
07.10.2022 - Zürich, Halle 622
08.10.2022 - Wien, Gasometer
11.10.2022 - Berlin, Tempodrom
27.10.2022 - Köln, Palladium
30.10.2022 - Frankfurt, Jahrhunderthalle


Samstag, 12. März 2022

KW 10, 2022: Die luserlounge selektiert

Bild: www.welt.de
(ms/sb) Selbstverständlich ist Mode Geschmackssache, kann aber dennoch irre scheiße aussehen. Wo genau Trends entstehen, ist für mich persönlich ein ziemliches Rätsel. Aber es ist halt auch irre faszinierend! Einige Personen haben offensichtlich eine wahnsinnige Strahlkraft. Billie Eilish zum Beispiel. Ihr Stil ließ sich mannigfaltig in den Straßen sehen. Zugegebenermaßen auch eine ziemlich coole Socke. Doch was man auch in den Straßen sieht, sind insbesondere Frauen, die campen gehen. Oder campen waren und auf dem Rückweg sind. Anders kann ich mir dieses Kleidungsstück nicht erklären. Sie machen es sich anscheinend im Stehen im Schlafsack gemütlich. Es sieht aus wie eine Jacke, die aus Versehen bis kurz vor die Knöchel geht, weil sonst das Laufen ohne dieses untere Loch, also im reinen Schlafsack, unmöglich scheint. Der nächst große Schwachsinn dabei: Es gibt unten extra einen Reißverschluss, um ein möglichst normales Schrittmaß in die Tat umzusetzen. Als ob die MacherInnen am Ende des Designprozesses dachten: "Ach, das war dumm, aber die sind schon alle gemacht, komm wir schneiden die auf und setzen einen Reißverschluss rein." Der größte Schwachsinn lief mir vergangenes Wochenende über den Weg: Es gibt den Jackenschlafsack auch als Weste! Für die vielen Tage, an denen die Knie kalt, aber die Ellenbogen irre heiß sind.

Statt Mode empfehlen wir lieber gute Musik. Mit oder ohne Reißverschluss...

Honey For Petzi
(sb) Mehr als ein Jahrzehnt nach ihrem letzten Longplayer melden sich Honey For Petzi zurück. Und hey: Irgendwie hatte ich beim ersten Anhören einen kompletten Flashback und fühlte mich extrem an das Album "Reality Check" der französischen Band The Teenagers erinnert. Sami Benhadj Djilali (Gitarre und Gesang), Philippe Oberson (Bass und Gesang) und Christian Pahud (Schlagzeug und Gesang) stammen hingegen aus der Westschweiz, Französisch ist also auch ihre Muttersprache. Sie mischen Synth-Pop und Post-Rock und das hat durchaus seinen Reiz und lässt die Beine zappeln. Irgendwie klingt das alles angenehem unkonform, dennoch stellt sich die Frage: Hört man sich das öfter an? Gibt es wirklich jemanden, der sagt: Ja, das ist meine Lieblingsband! Ich kanns mir nicht vorstellen, aber hört Euch Observations + Descriptions (VÖ: 22.04.) ruhig mal an und bildet Euch selber ein Urteil.


Superorganism
(ms) Schöne, digitale Welt! Menschen ausschließlich aus dem Internet kennen. Das ist für viele Menschen absolut Gang und Gebe. Was daraus entstehen kann, kennt keine Grenzen. Auch eine Band ist drin: Einige Mitglieder von Superorganism kannten sich vor ihrem ersten gemeinsamen Album live gar nicht. Das erschien 2018 und nun legt die Gruppe nach. Schon ihr Debut war knallbunt in Sound und Ästhetik. Genauso machen sie mit World Wide Pop weiter, das am 15. Juli erscheinen wird. Was super sympathisch ist: Der Name ist Programm. Es ist riesengroßer Pop, der er auch sein will. Leichtfüßig, vielleicht ein klein wenig belanglos, ziemlich catchy und angenehm verrückt. Teenager ist der erste Song, der aus der Platte ausgekoppelt wurde und geht genau in diese Richtung. Ehrlich, ich finde das toll. Das ist alles ein bisschen quietschig und drüber, aber genauso soll es halt auch sein. Könnte ein geiles Album werden!


The Kooks
(ms) Letztens wurde ich gemaßregelt, als ich The Strokes zum Britpop zählte. Das tut mir nur bedingt leid. Es gibt ganz, ganz viele mittelgroße und große Bands der großen Indiezeit, die ich nie wirklich gehört habe. Diese zum Beispiel. Oder Interpol (da schleiche ich mich langsam dran). Oder Radiohead. Oder Arctic Monkeys. Da kann ich überall nix zu sagen. Oder The Kooks. Zu den Liedern all dieser Bands habe ich schon Nächte rauschvoll durchgetanzt. Doch keine davon je aufmerksam daheim gehört. Da The Kooks nun aber mit dem luserlounge-Liebling Tobias Kuhn im Studio waren, rückten sie für mich eher in den Aufmerksamkeitsradar. Für ihr kommendes Album 10 Tracks To Echo In The Dark (VÖ: 22. Juli) haben sie sich eine ungewöhnliche Strategie ausgedacht: Es werden drei EPs veröffentlicht, die dann im Album münden. Die erste ist mitsamt neuem Video heute draußen. In Jesse James spielt nicht nur die Halbschwester von Kate Moss die Hauptrolle, es geht auch inhaltlich um was. "Es ist ein Song darüber, dass man nicht immer versuchen soll, sich selbst zu beweisen und einfach mal das Ego abzulegen", sagt Sänger Luke Pritchard darüber. Musikalisch überzeugt mich der Track überhaupt nicht, spricht für meine Hörvergangenheit. Aber man darf sehr gespannt sein, was die kommenden EPs zu bieten haben!


Everything Everything
(ms) Vor einigen Jahren erschien die Seite 'This Person does not exist' und ist furchteinflößend real. Klicke ich mich dort ein wenig durch, denke ich schon ab und an: Der oder die saß doch letztens noch in der Bahn auf dem Heimweg. Kann aber nicht sein, künstlicher Intelligenz sei Dank. Das haben sich nun auch Everything Everything angeeignet und Menschen ihr neues Lied Teletype singen lassen, die es so gar nicht gibt. Das wird dann schräg, wenn auch sehr kleine Kinder mitsingen. Es lohnt mal wieder stark Videos der Briten zu sehen. Mal wieder beweist die Band Experimentierfreude im Songwriting. Im kreativen Prozess wurden Stimmen und Gitarrenspuren gesamplet und in zufällig wieder aneinandergereiht. Das macht den ganzen Song ziemlich frisch und gut zugänglich. Nach dem etwas ruhigen und andächtigen und ernsten Bad Friday, ist dies nun wieder ein lockerer, beinahe tanzbarer Track, der am 20. Mai auf Raw Data Feel erscheinen wird!

Freitag, 4. März 2022

KW 9, 2022: Die luserlounge selektiert

Quelle: de.wikipedia.org/wiki/Kanal_9_(Schweden)
(sb/ms) Es gibt Dinge, die nerven. Die gedruckte kleine Nahverkehrskarte zu falten und dann genau so in diesen kleinen Schlitz am Bahnhof reinzudröseln bis es endlich Klick macht. Es nervt auch enorm, immer daran zu denken, ein passendes Geldstück für den Einkaufswagen parat zu haben. Anfangs hat es auch super genervt, streng darauf zu achten, immer eine Maske dabei zu haben. Die gehört mittlerweile ja schon zur Grundausstattung neben Schlüssel, Handy, Portemonnaie dazu. Was mich seit ein paar Tagen aber fundamental nervt ist, dass es einen kleinen, aber entscheidenden Defekt in meiner Laptoptastatur gibt. Das T ist kaputt. Es ist eine ungeheure Geduldsprobe, überhaupt etwas zu schreiben. Da wird mir erstmal bewusst, wie oft dieser Buchstabe überhaupt in unserer Sprache auftaucht. Was passiert genau? Die T-Taste reagiert nicht so, wie ich es mir wünsche. Entweder es passiert gar nichts und ich tippe mit vergessenem T/t weiter oder es erscheinen mehrere Buchstaben hintereinander. Ohne T/t geht es halt nicht. Der gleiche Satz sähe ohne Korrekur so aus: Ohne / geht es halt nichttt. Klar, lässt sich alles reparieren. Aber nervt halt komplett.

Was nicht nervt, ist Musik. Wir präsentieren erneut gutes Zeug der vergangenen Tage!

Sam Vance-Law
(ms) Gut Ding hat Weile. Abgedroschen aber wahr. Als ich Sam Vance-Law bei seiner ersten Solo-Tour in Münster sah, sprach er schon davon, dass er an neuen Songs arbeiten würde. Das war vor drei Jahren. Andere KünstlerInnen haben ein strengeres Output. Zur Überbrückung bescherte er uns noch seine NDW EP, gelungenes Schmankerl. Damals schon offenbarte er, dass es nun ein Trennungsalbum sein würde. Nun wird Goodbye am 8. Mai erscheinen und vieles spricht genau dafür. Auch das tolle Doppel-Single-Video, das dieser Tage erschienen ist. Get Out ist textlich direkt hart und musikalisch derart poppig und tanzbar, die Kombination ist ja so frech und geht unfassbar gut auf. Wenn Leichtigkeit auf 'Verpiss dich!' trifft. Und mal wieder sitzt Drangsal (wie bei Sofia Portanet) irgendwo in einem Video rum. In Been Drinking kommt dann der ganze Trennungsschmerz so richtig wuchtig heraus. Im Stillen, Direkten, nicht Beschönigenden. Auf beiden Liedern zeigt er mal wieder, was für eine wunderbare Stimme er hat und wie gut er darin ist, Musik zu komponieren. Das macht mich persönlich unglaublich froh. Das erste Mal sah ich ihn als Teil von Dear Reader, dann gab es eine kurze Phase als Traded Pilots und bei Get Well Soon spielte er auch schon häufiger in der Band. Ich freue mich ungemein auf diese Platte. Sie könnte phantastisch werden!


Wet Leg
(ms) Wie schaffen es neue Bands, Reichweite zu generieren? Sicherlich ist es hilfreich, wenn eine finanzstarke Plattenfirma mit einem pfiffigen Konzept Rückendeckung gibt. Doch das ist auch irgendwie lahm und so berechenbar. Wie Wet Leg das bis jetzt geschafft haben hat zu vermuteten hundert Prozent einen anderen Grund: Sie lassen ihren Sound mit all seiner Eigenständigkeit für sich sprechen. Das ist dem Duo von der Isle of Wight bis hier ziemlich gut gelungen. Erst am 8. April wird ihr erstes Album erscheinen, schon jetzt sprechen die Aufrufzahlen im Netz eine klare Sprache: Das könnte ein ziemlich gutes Ding werden. Klanglich und vom Auftritt her erinnern sie mich sehr an Gurr. Auch zwei Damen, die die Gitarren ordentlich unter Strom setzen und schon ordentlich einen an der Mamel haben! Alle Zeichen sprechen also dafür, dass ihr selbstbetiteltes Album eine ziemliche Wucht wird. Klang und Video bei Angelica beweisen dies erneut!


Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys
(sb) Am 25.11.2020 trug Neapel Trauer. An diesem Tag starb Diego Maradona, der Mann, der der Stadt im Süden Italiens ihre Würde geschenkt hat und über den sich die ganze Region noch heute definiert. Es ist Zeit für neue Legenden und Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys schicken sich an, Napoli ein neues (musikalisches) Denkmal zu setzen. Mit ihrer neuen Single Bella Napoli (VÖ: heute!) liefern die Herren vom schwäbischen Ufer des Gardasees nicht nur einen weiteren Vorboten ihres bevorstehenden Albums Mille Grazie, sondern wecken gleichzeitig auch Reiselust und nähren das ohnehin schon latent vorhandene Fernweh. Einfach immer wieder großartig, was die Burschen abliefern und in Kombination mit dem stimmigen Video wirkt die Hymne gleich noch mehr. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Tifosi von Napoli nicht mehr Ho Visto Maradona singen, sondern Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys.
 
 
Grillmaster Flash
(ms) Zum Einen muss man ja sagen: Ein kleines Bier in drei Minuten geht schon gut klar. Aber Grillmaster Flash seht dafür mitten im Viertel. Den Imbiss hat er hundertpro von dem Laden in seinem Rücken. Es ist richtig lecker dort. Doch warum um alles in der Welt trinkt er Flens? Er ist mitten in Bremen. Dass er Beck's meidet... darüber müssen wir nicht sprechen. Ich halte Hemelinger immer noch für ein super Billigbier. Oder wenigstens was aus der Union-Brauerei... Aber Flens?! Nun gut... spielt ja auch nur eine Nebenrolle. Geil! Grilli ist wieder da und hat eine neue Platte im Gepäck und macht schön einen auf Understatement. Wo Ich Jetzt Bin ist natürlich eine schöne, schmunzelige Erklärung ans hoffnungslose Musikerdasein, aber auch eine Aussage, die für sich steht: Schön durch den Dreck gegangen und sich jetzt im Norden zumindest einen ordentlichen Namen erspielt. Komplett Ready wird am ersten April beim wunderbaren Grand Hotel Van Cleef erscheinen und könnte dann die Hymne für den Sommer werden. Sollte er im Tower, Lagerhaus, der Lila Eule oder gar im Aladin spielen... ich komme!


How I Left
(ms) So funktioniert dieser Blog: Wir zwei bekommen Mails von Bands, Labels, PR-Agenturen und wir stöbern das so durch nach dem, was uns gefällt. Fertig. Das ist der Zauber. Organisatorisch ziemlich öde, vom Hörprozess doch recht ausgiebig oft. Einer der wichtigsten Punkte dabei ist halt: Was spricht mich an? Was höre ich mehrmals? Was bleibt haften? Fällt mir dazu etwas ein zu schreiben? Oft kann ich das benennen, bei How I Left fällt mir das (noch) schwer. Liegt es etwa 'nur' daran, dass es wahnsinnig entspannt ist? Ist es der richtige Grad an Melancholie? Eine Schwere, die als solche gar nicht im ersten Moment wahrnehmbar ist? Oder liegt es doch an diesem irre guten, unaufdringlichen Bass des kleinen Vorgeschmacks? Von ihrem Album Birds In The City ist tatsächlich noch nicht viel zu hören, aber die 58 Sekunden geben ein Versprechen ab: Wir machen es euch leicht, das gut zu finden. Sie klingen wunderbar nach The Weakerthans und das ist ja ein irres Kompliment! Hoffen wir also, dass bis zur Veröffentlichung am 29. April noch der ein oder andere Beweis hinzukommt. Es wird ihnen sicherlich ganz leicht fallen!


Donnerstag, 3. März 2022

Roedelius & Story - 4 Hands

Story und Roedelius. Foto: Emily Ramharter
(ms) Eine Liebe zur Musik, eine Liebe zu den Tönen. Der Zauber von Klang wirkt stark. Mal ist er hypnotisierend, mal berauschend derb, melancholisch oder so, dass man das Gefühl hat, den eigenen Körper zu verlassen. Wenn vor einer Bühne oder in einem Club stehend, plötzlich alles eins ist. Mensch, Klang, Bewegung, Wärme, Intensität. Das schafft in meinen Augen nur die Musik. Rhythmus, Melodie. Eintauchen. Das ist immer ein Austausch zwischen den Liedern und der eigenen Person. Hörend, wahrnehmend, spielend. Letzteres habe ich lange selbst praktiziert. Musikunterricht genommen, in Orchestern und kleinen Ensembles gespielt. Lang ist es her. Schade eigentlich. Ob ich je so gut werde am Saxophon, wie ich es einst war, bezweifle ich. Sehnsucht. Auch nach dem Beherrschen, eine Stimmung zu kreieren. Spielen und hören sind da zwei Paar Schuhe. Ich höre kaum Saxophonmusik. Es spricht mich wenig an. Anderes würde ich lieber beherrschen, um Atmosphäre zu generieren, die ich selbst gern wahrnehmen will. Cello zum Beispiel. Oder halt Klavier. Damals in der Musikschule war das schlimm, die anderen Lernenden zu hören. Aber so ist das nunmal. Das Klavier ist bestechend vielseitig (Wortspiele hier bitte unterlassen). Es ist in jedem Genre zu Hause und erfährt seit einigen Jahren einen enormen Schwung durch die sogenannte Neo-Klassik.

Das Klavier ist nicht nur aufgrund seines Einsatzes in verschiedenen Stilen so geschickt. Sondern auch aufgrund der wundersamen Art, wie dieses enorme Instrument gespielt werden kann. Oft hat es mich schlichtweg sprachlos gemacht. Hauschka und Martin Kohlstedt haben ihren eigenen Stil. Wenn Martin Bechler von Fortuna Ehrenfeld am Klavier seine Lieder singt, bin ich komplett mit drin. Wenn sich Tom Smith von den Editors an die Tasten setzt, funken wiederum andere Synapsen.
Vollkommen stutzig verließ ich im Herbst ein Konzert von den Grandbrothers. Das war irre. Kaum zu glauben, wie das Duo gleichzeitig am selben Instrument gespielt hat und welche Töne dabei herauskamen. Tanzbar, gefühlvoll, eindringlich.

Am selben Instrument spielten Tim Story und Hans-Joachim Roedelius auch ihr gemeinsames Album 4 Hands ein, das seit Ende Februar zu hören ist. Nur ihr Ansatz ist ein gänzlich anderer als beim Düsseldorfer Duo. Der Klang auf diesem etwas mehr als dreiviertelstündigen Album ist wesentlich reduzierter. Pur fast. Ab und an sind kleine Modifikationen wahrzunehmen. Im Grunde bleibt es bei dem Klang, wenn die kleinen Hämmer an die Saiten schlagen. Beide Musiker kennen sich seit vielen Jahren. Tim Story ist Komponist aus den Staaten und Hans-Joachim Roedelius eine lebende Legende. Der Zodiak-Club, Kluster, Harmonia. Das sollte reichen. Wem das nichts sagt, sollte kurz recherchieren. Er hat Ambient mit erfunden. Und mit Ende achtzig (!!!) ist er nicht müde zu komponieren. Also ab zu Story in die Staaten und er spielte los. Story nahm das auf aber beließ es nicht dabei. Er hat den Grundtönen eine weitere Form gegeben und darüber gespielt. Am selben Instrument, nur ein paar Wochen später. Was für ein tolles Werk, was für eine irre Idee. Klar, der Albumtitel ergibt somit viel Sinn und besticht durch seine Ungleichzeitigkeit. 
Und selbstverständlich durch seine Qualität. Hier möchte ich keine einzelnen Lieder herausstellen, da das Album für mich in seiner Ganzheit nur Sinn ergibt. Es fühlt sich an wie ein warmer, weicher, zarter, leicht nebliger Traum. Weitestgehend leichtfüßig ohne platt zu erscheinen. Ab und an ist zu erahnen, welches der Ausgangspart von Roedelius ist und was Story darüber legte. Doch häufig genug verschwimmt es im besten Sinne zu einer großen Harmonie. Das ist unglaublich unaufgeregt und unglaublich gut gelungen!