Freitag, 29. Mai 2020

KW 22, 2020: Die luserlounge selektiert

Quelle: commons.wikimedia.org
(ms/sb) Durchaus nervig kann es sein, wenn man beispielsweise bei der Post in der Schlange steht, und irgendwer labert einen voll. Das interessiert mich meistens nicht. Ähnliches beim Einkaufen. Dieses anonyme Hintereinanderstehen hat ja durchaus seinen Reiz. Außerdem ist der Gang in den Supermarkt ja nicht mehr als zweckmäßig. Gut, auf dem Wochenmarkt sieht das vielleicht ein wenig anders aus. Was ich sagen will: Bei einigen Menschen will man nicht wissen, was sie so tun. Das ist Fakt. Bei anderen schon. Sehr sogar. Und gar nicht auf romantischer Ebene. Sondern, weil sie vielleicht etwas sonderbar sind. In meiner aktuellen Wahlheimat läuft zum Beispiel regelmäßig eine Dame durch die Straßen, die stets eine transparente Plastiktüte mit noch mehr Plastiktüten innen drin mit sich herum trägt. Was tut sie damit? Warum? Sammelt sie? Gibt es ein geheimes Plastiktüten-Quartett und ich habe nichts davon mitbekommen? Mag sie Produkte aus Erdöl? Was kommt hinein? Säubert sie die Tüten zu Haus? Spannende Fragen. Aber ansprechen will ich sie auch nicht. Denn... ganz ehrlich... irgendwie auch super egal.

Was nicht egal ist, ist Musik! Ein Glück, dass wir uns damit befassen. Luserlounge. Selektiert. Freitags.

Juse Ju
(ms) Es war heute morgen in der Früh. Kurz nach Sechs. Der erste Kaffee war gerade leer, doch ich hätte ihn gar nicht gebraucht, um wach zu werden. Denn niemand anderes als Juse Ju hat heute einen neuen Track samt super sehenswertem Video rausgehauen. Und mein lieber Herr Gesangsverein! Was hat dieser Kerl für eine irre Entwicklung hingelegt! Ich blieb ganz unglaubwürdig zurück, als ich Kranich Kick zum ersten, zweiten, dritten Mal und auch nun gehört habe. Klar, das ist ein lässiger Diss-Track, das alte Rap-Spielchen. Doch dieser satte, flinke Beat und das immer besser gewordene Sprechgesangshandwerk von Juse sind beeindruckend. TNT war ja schon ein - seien wir ehrlich - von ihm nicht zu erwartender Supersong! Und direkt hinterher nun ein nächster Kracher. Mit diesen beiden Auskopplungen aus dem kommenden Album Millennium hat er die eigene Messlatte sehr hoch gesetzt. Das ist gut so. Ebenfalls erstaunlich und ein bisschen provokativ ausgedrückt: Mit diesen beiden Singles hat er Shibuya Crossing schon getoppt. Locker. Juse Ju! Ich hab Bock!



Deerborn
(sb) "Figured Out handelt von etwas, mit dem sich die meisten Menschen identifizieren können. Egal wie schnell Sie laufen und wie viel Sie erreichen möchten - die Zeit läuft immer schneller und bevor sie sich umschauen, werden Tage zu Wochen und Wochen zu Jahren. Es geht darum, das Beste aus seinen Tagen herauszuholen und sicherzustellen, dass man diejenigen erreicht, die wirklich wichtig sind. " Diese Kurzbeschreibung des neuen Tracks der dänischen Band Deerborn (VÖ: heute!) durch ihren Leadsänger Lasse Nørbys spricht wohl tatsächlich vielen aus der Seele und gerade in Zeiten wie diesen ist es umso wichtiger, Prioritäten zu setzen und sich mit den richtigen Leuten zu umgeben. Americana trifft Rockballade in sehnsuchtsvoller Umgebung - mal schauen, was das für 28. August angekündigte Album sonst noch Schönes in petto hat.


Going Up North
(ms) Der Unterschied zwischen langweilig und nur vermeidlich langweiliger Musik liegt manchmal nur im Grad der herrlichen Entspannung, die sie zu vermitteln weiß. Oder die Zeilen, die hängen bleiben. Und wenn dann diese Band, die dann eben nicht langweilig ist, grob nach modernem amerikanischem Alternative-Country à la Calexico klingt und aus Bergen, Norwegen, kommt, wird es gut! Going Up North heißen sie passenderweise. Letztes Jahr erschien ihr erstes Album und heute kommt mit How Can I Sleep eine weitere Single daraus auf den Markt. In diesem Jahr soll sogar ein neuer Longplayer erscheinen. Holla, da ist aber wer reichlich produktiv. Was den Song schön macht, ist die herrliche Sehnsucht und Melancholie im Refrain-Satz How can I sleep without your love? Das ist ja nicht nur Liebeskummer, sondern geht viel tiefer. Ohne Liebe des Gegenübers keine Erholung, nicht mal eine Minute Schlaf sei dem Singenden vergönnt. Obsessive Liebe oder pure, ehrliche Romantik - zwischen diesen beiden Polen geistert dieser Track. Dabei ist er so schön eingängig und hinterlässt doch ein schwingendes Gemüt, dass er ideal in diese Sonnentage passt! Passt!


Albrecht Schrader
(ms) Es gibt ein paar Phantome, die durch die Musikszene geistern. Sie agieren oft und gerne im Hintergrund und genießen dort hohe Reputationen. Wie scheue Rehe trauen sie sich aber doch regelmäßig in den Vordergrund. Albrecht Schrader gehört in jedem Fall hierzulande dazu. Bekannt als Weggefährte von u.a. Herrenmagazin oder ehemaliger Kopf von Böhmis Rundfunktanzorchester Ehrenfeld, tritt er hier und da auch prominenter auf. Logisch, wenn man selbst ein Album veröffentlicht. Sein eigenes, zweites folgt am 26. Juni - also schon ganz bald - und hört auf den Namen Diese Eine Stelle. Vor drei Jahren erschien der Vorgänger Nichtsdestotrotzdem, jetzt wird nachgelegt auf dem Label Krokant. Die erste Möglichkeit für einen Höreindruck besteht seit dieser Woche mit dem Lied Auf Dem Golfplatz. Ein Lied das sanft-melancholisch startet und dann eine etwas gaga'eske Wende nimmt. Zwischen Ernsthaftigkeit und saloppem Entertainment. Auch nach mehrmaligem Hören, weiß ich nicht so genau, was ich mit dem Song anfangen soll. Ist es ein bisschen dämlich oder auch ein bisschen schön?! Gut, dass man sich sein eigenes Urteil fällen darf.


String Layers
(sb) Was für eine zauberhafte Idee als Hommage an die Welt der Streichinstrumente: 18 Künstler/innen aus der ganzen Welt (z.B. Deutschland, Schweiz, Polen, Griechenland, Türkei, England, Russland und USA) steuern je einen bisher unveröffentlichten Track zur wunderbaren Compilation String Layers (VÖ: heute!) und zeigen in ihren Werken eindrucksvoll die Variabilität und Wandlungsfähigkeit der Instrumente. Typische Klassik-Stücke treffen auf zeitlose Melodien, elektronisch angehauchte Kompositionen und pop-affine Arrangements. Es ist ungemein spannend zu verfolgen, welchen Ansatz die Musiker/innen wählen, um ihr jeweiliges Instrument in Szene zu setzen: von klassischer Träumerei über lebendige Farben und experimentelle Ansätze bis hin zu ungestümer Kraft - eine überaus vielschichtige und abwechslungsreiche Zusammenstellung, um den eigenen Musikhorizont zu erweitern.
Bitte beachten: Hior Chronik sind zwar auch vertreten, allerdings mit einem anderen Track; zum Album ist leider (noch) kein aktuelles Video verfügbar.


Flo Holoubek
(ms) Stichwort Phantome mit hoher Reputation. Eine kleine Vermutung: Wahrscheinlich hätte der kleine in Österreich aufgewachsene Flo Holoubek nie gedacht, dass er eines Tages ein sanftes, wunderschönes Akustikgitarrencover veröffentlichen würde. Denn eigentlich war immer das Schlagzeug das Instrument seiner ersten Wahl. Als Bub, als Kopf der Blue Man Group oder mit Tim Neuhaus zusammen. Wer die beiden mal zusammen, gleichzeitig auf ein Schlagzeug hat trommeln sehen, weiß, was Harmonie und Geniegeist bedeutet. Und jetzt, in diesen Wochen zwischen Frühling und Sommer präsentiert dieser Flo uns All My Days, ursprünglich von Alexi Murdoch. Doch Holoubek verleiht dem Stück noch mehr Zauber als das Original; wir sprechen hier also von einem wirklich guten Cover, auch wenn es weitestgehend 'nur' nachgespielt ist. Denn seine gezupfte Gitarre klingt sinnlicher und insbesondere seine sehr sanfte, weiche Stimme kommt so entscheidend tiefer als das Original, dass sie Gänsehaut erzeugt. Dazu das leichte 'uhh uhh' und ein paar andere, versteckt auftretende Elemente, und ein rundes, kleines, wunderbares Lied ist da. Es erzeugt für mindestens drei Minuten und vierundzwanzig Sekunden ein wunderbares Strahlen auf dem Gesicht.


Internet Friends.
(ms) Reden wir nicht lange um den heißen Brei: In Phasen großer kognitiver Herausforderung - zum Beispiel das Lernen für das zweite Staatsexamen - braucht der Kopf genug Momente, in denen er einfach entspannen kann; wo feine Berieselung absolut notwendig und gut ist. Klar, Serien. Aber auch Musik. Wenn diese feine Berieselung dann noch so unverschämt lässig ist wie von der Band Internet Friends. (ja, mit dem Punkt dabei), dann läuft vieles richtig. Mit ihrem diese Woche veröffentlichten Song The Kids That I Used To Know legen sie einen neuen Maßstab der herrlichen Eingängigkeit an den Tag. Gitarre, Gesang, Schlagzeug, Bass: Geil! Einfach dreieinhalb Minuten purer, extrem relaxter Gitarren-Indie-Pop, wie wir ihn lieben. Das Trio aus Göteborg, Schweden, haut damit nicht nur einen catchy, kurzweiligen Track raus, sondern schlagen mit dem dazugehörigen Video einen nicht allzu anstrengenden Tanz für den Sommer vor, der weniger kompliziert als der von Daði Freyr ist. Ab!

Dienstag, 26. Mai 2020

Hania Rani - Home

Foto: Marta Kacprzak
(ms) Wie sich Charakter entwickelt, weiß ich nicht. Aber manch Idee bleibt ja umso verwunschener, wenn man sie nicht mit harten, wissenschaftlichen Fakten anfüllt. Sondern ihr stets etwas Mystriöses, Nebulöses umgibt. Das wiederum hat dann Potential, dass das Staunen so richtig eindrucksvoll wird. Natürlich kann ich einen Vollmond betrachten und dabei sagen: Das ist jetzt nur so hell, weil er von der Sonne angeschienen wird. Soweit korrekt und nüchtern. Sich aber bewusst machen, dass da ein Himmelskörper um unseren Planeten schwebt, der von abertausenden Kilometern aus angeleuchtet wird und mir dann durchs Fenster scheint... das ist eine ganz andere Seite der Medaille.
So viel zu Idee der Faszination.
Zurück zum Charakter.
Ein Kind aufwachsen zu sehen, ist faszinierend. Die kleinen Schritte. Sitzen. Greifen. Laufen. Sprechen. Jeden Tag etwas Neues dazu lernen. Und dabei einen Charakter entwickeln, eine eigene Handschrift an den Tag legen. Größer werden. Markanter werden. Abgrenzen, Wege finden. Das ist hochspannend.
Und nicht nur bei Kindern.
Das geht in der Musik genauso. Eine Band, eine MusikerIn zu begleiten, die Entwicklungsschritte zu sehen, zu hören, zu verinnerlichen: Das ist auch faszinierend. Denn als Hörender weiß man nie, wohin die Reise geht. Man bekommt nur das Ergebnis des kreativen Prozesses präsentiert und kann dann Rückschlüsse ziehen und sich begeistern lassen. Da ist das Beispiel von Hania Rani sehr beeindruckend. Letztes Jahr erst hat die junge Polin ihren Erstling ans Tageslicht gelegt. Esja war ruhig, filigran, beinahe zerbrechlich. Diese Woche (VÖ: 29. Mai) erscheint mit Home der direkte Nachfolger. Und höre da: Hania Rani hat innerhalb kürzester Zeit einen hörbaren, markanten Charakter entwickelt, sich abgegrenzt, den eigenen Weg gefunden.



Home heißt die Platte. Der erste Gedanke bezüglich des Titels war unkonkret. Denn: Bei instrumentaler Musik, kann es ja mehr oder weniger nach allem klingen. Auch nach zu Hause, Heimat. Ist Interpretationssache.
Diese Spekulation hat sich hier relativ schnell, direkt mit den ersten Takten jedoch erledigt. Wie das? Hania Rani hat weitere Instrumente auf ihrem neuen Album untergebracht, die ein ganz neues, viel klareres, gewissermaßen reiferes Bild der Musikerin zeichnen. Und eine der schönsten Hinzufügungen ist ihre eigene Stimme. Auf fünf der insgesamt 13 Lieder singt sie. Und das klar, aber zurückhaltend. Im Fokus bleibt das Klavier, die Töne der Instrumente. Der erste Track also, Leaving, behandelt das Thema: Gehen - doch weiß ich wirklich, dass es woanders besser ist?! Das Lied ist so zart, so filigran wie ein langsam beginnender Morgen. Ab und an hört man sogar die leicht mechanischen Klänge des Klaviers und im Refrain entsteht ein schöner Schwindel durch den übereinander geloopten Gesang. Dazu gesellen sich dezente elektronische Töne. Eine Revolution im Hause Rani!
Direkt zu Bginn ist klar zu behaupten: Sie ist mit diesem Album ganz schnell raus aus einem diffusen Dickicht aus Neo-Klassik und hat ihren eigenen Charakter gesucht - und hiermit vielleicht gefunden.

Buka klingt in seiner mechanischen Machart ein wenig wie Hauschka und es entsteht eine wuselige Spannung, wo dennoch Ordnung herrscht. Wie ein Ameisenhaufen. Es entwickelt sich ein erhabener Sound, als ob die Königin zutage tritt, nebenbei fällt leichter Regen im Sonnenschein, sie hält eine hoffnungsvolle Rede und tritt wieder ab. Nest geht direkt aus diesem Lied hervor, doch mit ganz anderem Akzent. Der anrührende Gesang hier ähnelt Agnes Obel, aber ihr Klavierspiel ist nicht miteinander vergleichbar. Im Lied ein wunderschöner kleiner Text, dass sich die Protagonistin entschlossen hat, allein zu leben und vollkommen glücklich damit ist.
Auf den Liedern von Home sind unterschiedlichste kleine Geräusche zu entdecken. Hört man auf Letter To Glass eine Schreibmaschine oder das Ticken einer Uhr?
Der Titeltrack wiederum ist beinahe art-poppig und entfernt sich weit von der Neo-Klassik. Sogar Percussion ist darauf enthalten - hier findet jemand seine Rolle im großen, undurchsichtigen Musikbusiness. Dabei erscheinen dann solch wunderbare Zeilen: There is a place so close and far / extremely warm when cold outside.
Und noch mehr Überraschungen und Neuerungen! Zero Hour ist ein Kohlstedt'scher Electro-Track, beinahe tanzbar; in diesem Song und Sound kann man sich verlieren. Atem-Geräusche zum Ende hin verdichten die ohnehin intensive Atmosphäre.



F Major (siehe/höre oben) ist ein Track, einfach mal nach der Tonart benannt. Wieso nicht?! Natürlich ist das Video dazu sehr harmonisch, die Bilder aus Island beeindruckend. Doch andere Lieder (s.o.) hätten sich aus meiner bescheidenen Warte eher geeignet als Single ausgekoppelt zu werden, weil raffinierter, eindringlicher, charakteristischer, ja, besser.
Dazu noch zweieinhalb Beispiele, dieser - hoffentlich ist das bis hier klar geworden - herausragenden Platte. Auf Summer erklingt Vogelgezwitscher, das Klavier setzt erst nach fast zwanzig Sekunden ein. Für mich klingt es nicht nach Sommer, dann wäre es ein zerbrechlicher. Eher wie das sanfte, behütete und frühe Aufwachen auf einer spärlich bewohnten Insel und man steht früh allein am Strand.
Tennen überzeugt noch mal richtig zum Ende hin! Der erste klare Ton erklingt nach 1:24 Minuten, bis dahin erstreckt sich eine elektronische Klangfläche gepaart mit Streichertönen, vergleichbar mit der von uns sehr geschätzten Anne Müller. Der Text schlussendlich von Come Back Home schwingt zurück zum Thema des Albums und schließt es unheimlich harmonisch und sehr bedacht ab.

Wow! 57 Minuten Hörgenuss. Purer Eskapismus. Hörbar stark, wie Hania Rani dieses Album darlegt. Sie hat experimentiert, aber ohne auszubrechen. Ist groß geworden. Erkennbar. Abzugrenzen. Auf eigenen Beinen. Zu Hause. Home.

Hoffen wir, dass dies ganz bald in sicherer Umgebung live zu genießen ist.
Und irgendwann zieht man nicht mehr einschlägige Namen des Genres zu, wie in diesem Text. Sondern den von Hania Rani!

Freitag, 22. Mai 2020

KW 21, 2020: Die luserlounge selektiert

Quelle: br.de
(sb/ms) Ein Lichtblick mit komischem Bauchgefühl: Dieser Tage ging durch die Presse, dass das Reeperbahn Festival dieses Jahr stattfinden soll. Das ist durchaus erstaunlich. Bis Ende August sind alle Großveranstaltungen abgesagt, das RBF findet am dritten Wochenende im September statt. Auf große Acts außerhalb Europas soll verzichtet werden und die Veranstalter planen mit allen Clubs und Veranstaltungsorten individuelle Hygienepläne. Ist große Weitläufigkeit des Festivals nun ein Vorteil oder verstärkt es das mulmige Gefühl der großen Menschenansammlungen? Ich kann mir vorstellen, dass die Sitzgelegenheiten am Spielbudenplatz entfallen, vielleicht auch die Ausstellungen auf dem Heiligengeistfeld. Aber mit Maske im Club? Ich will doch auch Bier trinken! Nun gut, es ist noch nichts offiziell, aber man darf äußerst gespannt sein, wie die Macher dies handhaben wollen! Das RBF habe ich ein paar Mal besucht, mir gefällt, dass man so viel entdecken und sich treiben lassen kann. Dass vermehrt KünstlerInnen aus Deutschland und Europa auftreten sollen, wird dem Event sicher keinen Abbruch tun.

So. Genug spekuliert. Hier die Fakten. Neues. Musik. Töne. Luserlounge. Selektion. Freitag! Prost!

XTR HUMAN
(ms) 1. Dies ist vielleicht wirklich die Platte, auf die wir seit langer Zeit gewartet haben! Ich meine es ernst. Denn es ist ja so: Wir hören doch alle seit Jahren die gleiche Musik. Neues entdecken: Klar, logisch; wir tun hier nichts anderes. Was dann jedoch langfristig haften bleibt, können wir auch pro Jahr an einer Hand ablesen. Ist so. Doch dann kommt nächste Woche die Platte Interior raus. Meine Herren! Auf vierzig Minuten - und ich untertreibe jetzt wirklich nicht - werden die schönsten Seiten und herrlichsten Stärken von The Smiths, den Editors und irgendwas Depeche Mode-mäßiges zelebriert. Das ist so sehr 00er Jahre, dass man es kaum aushält. Breit gefächerte Gitarren, Mut zur Nutzung elektronischer Elemente und dieser extrem bestechliche Gesang. Das ist sicher der Punkt, auf den ich so gar nicht klar komme. Prägnant ohne Ende. Eindringlich. Bleibend. Überzeugend. Auf allen zehn Songs. Das ist Fakt. 2. Bei allem berechtigten Lob und echt überzeugenden Klängen: Was soll der Name?! XTR HUMAN klingt halt nach einem abgegriffenen Sci-Fi-Streifen. Nun gut. 3. Das Trio aus Berlin hat hier wirklich eine Perle hingelegt! Im besten Sinne eingängig, im allerbesten Sinne catchy! Am 29. Mai, in einer Woche, erscheint Interior in allen gewünschten Formen. Da steckt verdammt viel Liebe, Können und Überlegung drin, um so reif und rund abzuliefern. Nicht umsonst hat die Band sich sechs Jahre Zeit gelassen, um dem Erstling einen Nachfolger anzureihen. Die luserlounge sagt: Holt euch das Ding!
4. Okay. Auch wenn es wie eine Kopie von Joy Division klingt, bleibt es super!



Alicia Edelweiss
(ms) Über richtig gute Musik können wir nicht aufhören zu schreiben und so lohnt es erneut, deutlich auf die tollen Töne von Alicia Edelweiss aufmerksam zu machen. Da ist gar nichts Österreichisches mehr drin zu hören; eine lapidare Information, wenn sie nicht Teil der Ansa Panier von Voodoo Jürgens wäre und dort für Unterstützung am Gesang und kräftig das Akkordeon schwingt. Die Dame mit dem ausdrucksstarken Make-Up macht eine herrlich charakteristische Form von Art-Pop und ist (aus meiner Warte heraus) am besten mit dem Werk von Cherilyn MacNeil von Dear Reader zu vergleichen: Starke Stimme, keine Furcht zu Experimentieren, viel Harmonie in den Takten und immer mit dieser notwendigen Spur von Dramatik, um spannend zu bleiben. Letztes Jahr erschien ihr Album When I’m enlightened, everything will be better. Im Vordergrund: Ihre Stimme, die sicher hoch und runter geht ohne je zu wackeln - und wenn dann äußerst bewusst -, Akkordeon, Gitarre, Geigen, leise Percussion. So erzeugt sie eine wunderbare Stimmung, die am besten direkt, bewusst und laut zu genießen ist!



KMPFSPRT
(sb) 2014 sorgten KMPFSPRT mit Atheist für einen meiner Lieblingstracks des Jahres, doch so wirklich weiterbeschäftigt habe ich mich mit der Band leider nie. Zu wenig Zeit, die Angst, enttäuscht zu werden, whatever. Genannter Song läuft zwar noch immer sehr oft bei mir, ansonsten hatte ich jedoch keine weiteren Berührungspunkte mit den Kölner. Bis jetzt. Und dann so ne Ankündigung! KMPFSPRT bringen am 17.07. ein neues, selbstbetiteltes Album raus und das hat es in sich: 10 Songs, 10 Minuten und das Ganze als Hommage an ihre Heimatstadt auf einer rot-weißen Vinyl-7 Inch. Gehts geiler? Das sollte man sich schon alleine der Idee wegen zulegen, zumal das gute Stück auf 300 Scheiben limitiert ist. Irgendwie jetzt schon legendär, oder? Oder wie es KMPFSPRT ausdrücken: Punkrock is e jeföhl!


Zugezogen Maskulin
(ms) Kaum ist eine Ankündigung, ein Song auf der Welt und wird munter durchs Netz geteilt, wird das Ganze von der heißen, brodelnden Gerüchteküche überragt. Ende? Auflösung? Ein letzter großer Knall? Finito? Wenn man Single und Albumtitel so nennt, bleibt einem fast kein anderer Schluss zu. Es geht um die herrlich sympathischen, friedlichen, braven Jungs von Zugezogen Maskulin und ihrem neuen (letzten?) Album 10 Jahre Abfuck. Wie immer feinfühlig und herzallerliebst in der Wortwahl. Nach Grims EP und den recht eindeutigen Bildern und Worten des neuen Tracks EXIT, kann man halt daraus schließen, dass ZM hier ein letztes Mal die Bombe platzen lassen, noch ein Mal ordentlich auf Tour gehen, die Champagnermaschinengewehre laden und ordentlich auf ihr begeistertes Publikum abfeuern werden. Von den irren Livequalitäten durfte ich mich schon ein paar Mal überzeugen und es wäre wirklich schade, wenn der hiesigen Raplandschaft ein Duo wie Testo und Grim fehlen würde. Aber nun gut. Erstmal durchatmen. Runter fahren. Die guten Nachrichten bleiben erstmal: Es gibt neues Material. Alles weitere demnächst!



Polaroyds
(sb) 80er Jahre Synthie-Pop ist jetzt nicht gerade das Genre, das die Luserlounge zu lautem Jubel animiert, aber wenn sowas gut gemacht ist, dann können wir nicht anders, als den positiven Kritiken der letzten Monate zuzustimmen und den Polaroyds ebenfalls Respekt zu zollen. Augsburg, einst Hochburg des süddeutschen Indie-Pops und -Rocks, setzt seine Tradition als Talentschmiede also nahtlos fort und das Duo aus der Schwabenmetropole setzt mit ihrer selbstbetitelten Debüt-EP Polaroyds (VÖ: 29.05.) zum Höhenflug an. Zum Einen versetzt einen die Scheibe und gut drei Jahrzehnte zurück, andererseits könnte der Sound kaum moderner und zeitgemäßer sein. Klar und sauber produziert, eine Vielfalt an tanzbaren Melodien, eine durchaus radiophile Attitüde - da geht einiges, würde ich sagen. Keine Frage: Die Polaroyds können für eine der großen Überraschungen 2020 sorgen!


Alin Coen
(ms) Herausforderungen als Schreiber sind immer herzlich willkommen. Jedes Mal auf Neue ist es eine wunderbare Aufgabe zu versuchen Musik, Text, Stimmung und Atmosphäre wiederum in Worte zu transformieren. So oft es guten Gewissens gelingt, so tauchen ab und an Protagonisten und Künstlerinnen auf, bei denen man beinahe kapitulieren muss. Weil zu gut. Zu fein. Zu stark im eigenen Text. Zu gefühlvoll. Zu direkt. Über Fortuna Ehrenfeld schreiben ist Wahnsinn; kaum möglich dieser Musik gerecht zu werden. Und Alin Coen ist genauso so ein Fall. Mit ihrer eleganten Ruhe, der starken und auch sanften Stimme und diesen mitunter herzzerreißenden Texten bleibe ich als Hörer schon sprachlos zurück. Wie dann darüber schreiben?!
Seit letzter Woche gibt es endlich wieder neue Musik von ihr. Entflammbar heißt das Stück und es zwingt einen in die Knie. Mich zumindest. Ein Lied voller Liebe, Enttäuschung und Verständnislosigkeit. Dies zusammen bringt sie in ihrer wunderbar typischen Art so prononciert auf den Punkt, dass mir nichts anderes bleibt als sprachlos dem Klag und ihren Worten zu lauschen. Ende August (VÖ: 28.08) erscheint dann auch das passende Album dazu, das NAH heißt. Man darf sich auf viel Gefühl und ein paar Tage auf wackligen Beinen einstellen. Zum Glück.



Jules Ahoi
(ms) Wer diese kleine, bescheidene Seite ein wenig verfolgt, weiß, dass wir uns mit kaum einem andere Genre so schwer tun wie Folk-Pop. Grausam überschattet wird das Ganze von 'Musikern' Wie Mumford & Sons (aka Manfred und Hans), dass einem übel wird.
Doch glücklicherweise gibt es Jules Ahoi. Lange ist er umher geirrt und sich an den Küsten dieses Kontinents herumgetrieben, bis er am Rhein anlegte und nun in Köln beheimatet ist. Am 12. Juni erscheint sein Album Dear ____. Das ist natürlich super clever gemacht. Schreibt er die Songs für eine Person, die er nicht benennen mag? Oder will er sie uns Hörenden so präsentieren, dass wir schneller einen eigenen Zugang finden?! Wer weiß... Es ist gut, wenn das offen bleibt. Was uns erwartet ist leicht melancholisch angehauchter Gitarren-Folk-Pop, der vor leisen Tönen (Time Will Tell), Auto Tune (Sonate du Courage) und den ganz großen Gefühlen (Oh, Agnes) nicht zurück schreckt und daher abwechslungsreich bleibt. Das hat gute Chancen aus den Fenstern, Balkonen und Terrassen im anstehenden nicht-Sommer auf die Straßen zu schallen.



Sébastien Tellier
(ms) Was derzeit wirklich fehlt, ist, in angemessenem Rahmen sich in Musik zu verlieren. Das geht bei Streaming-Konzerten nicht, auch wenn ich ein paar wirklich tolle Momente auf diesem Weg schon genossen habe (Fortuna Ehrenfeld, Mine, Enno Bunger). Die Idee mit den Autokonzerten finde ich unglaublich dämlich (vielleicht auch wider besseren Wissens). Was fehlt, sind Abende, in denen man live oder in Form einer wirklich gut aufgelegten Party abtauchen kann. Sich den Harmonien, Rhythmen, Tönen hingeben kann. Das würde ich nämlich so, so gern zu der neuen Platte von Sébastien Tellier machen. Domesticated erscheint am 29. Mai und klingt wie aus einem Guss, daher fällt es mir auch so schwer einzelne Lieder prominent hervorzuheben. Das Album - im weitesten Sinne als elektronischer Relax-Pop zu beschreiben - harmoniert enorm. Nur einmal bin ich aufgeschreckt. Und zwar beim ersten Hören der ersten Töne: Auto Tune über die ganze Scheibe hindurch. Doch es funktioniert hier so gut, dass ich zwischendurch dachte, Neues von Lambchop zu hören. Ist aber nicht der Fall. Der Franzose macht seit zwanzig Jahren Musik, hat sein Heimatland schon beim ESC vertreten und mit wesentlichen Größen der elektronischen Musik zusammengearbeitet (Daft Punkt, Jean-Michel Jarre). Domesticated ist tanzbar und auch entspannt genießbar. Angemessen aufgedreht bringt es ein wenig DiscoFeeling in die eigenen vier Wände!

Mittwoch, 20. Mai 2020

Lesetipp: Roger Willemsen - Musik! Über ein Lebensgefühl

Quelle: rogerwillemsen.de, Foto: Jörg Steinmetz
(ms) Darin müssten wir uns alle einig sein: Mit Roger Willemsen ging die wichtigste, prägnanteste, humorvollste, versierteste intellektuelle Stimme dieser Breitengrade viel zu früh. Gerne wüsste ich, was er zu Bands sagt, die mit Der.../Die.../Das... anfangen. Gerne wüsste ich von ihm, wie sich der Jazz nun weiter entwickelt. Wo die Klassik heute steht. Wen er gern interviewen würde. Wen er liebend gern in Grund und Boden schreiben würde. Nie respektlos oder tölpelhaft, sondern mit analytischem Schneid und einem unmissverständlichen Lächeln im Auge.
Was von ihm bleibt sind seine herausragenden Texte. Seine Kunst die Sprache zu beherrschen und mit ihr vogelwild, aber handwerklich zu hantieren. All das können wir glücklicherweise für immer nachlesen. Oder seine Auftritte im Fernsehn anschauen. Oder seine Radiosendungen nachhören. Sie werden für immer da sein. Gleichzeitig existiert eine tiefe Anerkennung seines Könnens. Klar, er war Intellektueller ersten Grades, doch war nie hochnäsig, herabblickend. Willemsen war immer Aufmerksamer, Interessierter, Hinschauer, Hinhörer, Nachfrager.
Und, wie bereits angeführt, Analytiker. Für Musik. Sein großes Steckenpferd, das mir als Laie ihm gegenüber auch nicht als erstes aufgefallen ist. Doch war er kein Musikwissenschaftler, verstand das Musikhandwerk dennoch messerscharf und konnte es wiederum in Worte ummünzen. Die beeindruckenden Beweise, wie genau er das konnte, wie prägnant ohne um den heißen Brei herum zu schwadronieren - das läge ihm stets fern - ist seit einiger Zeit nachzulesen. Im Fischer-Verlag erschien eine Sammlung eines Großteils seiner musikalischen Texte. Eine große Menge von seinen Stationen im Radio, einige Beiträge für Zeitungen oder Liner Notes.
Den überwiegenden Teil aus dem Buch Musik! Über ein Lebensgefühl füllen Radiosendungen aus dem WDR und NDR. Da hat er - oft spät - seinen neugierigen Zuhörenden Jazzstücke zu bestimmen Schlagworten vorgestellt, sie in einen Kontext gebettet. Über verliebte Männer, Heimweh oder die Stimmung vor Tagesanbruch. Dazu hat er anscheinend aus einem unendlichen Fundus von Platten und CDs Stücke gefunden, die dazu wie angegossen passen. Durchstöbert man das Namensregister hinter den herrlichen 500 Seiten Text wird einem das erst richtig bewusst. Will sagen: Ich kenne mich mit Klassik und Jazz (Willemsens Steckenpferde) wirklich nicht aus, kenne nur Nuancen, und was einem dort präsentiert wird, ist lexikalischen Ausmaßes.
Seine große Liebe gegenüber Miles Davis oder John Coltrane kann er nicht verschweigen und das tut er auch nicht. Andere Größen wie Dizzy Gillespie kommen ähnlich vor wie unbekanntere Protagonisten aus Südafrika. Mal werden sie gegenübergestellt, mal portraitiert. Immer mit feinem, gefühlvollen Vokabular umrissen und ins Scheinwerferlicht gestellt, dass seine Worte genauso klingen wie die Musik, die er so liebte.
Das ist auch der Punkt, der mich so begeistert an diesem kurzweiligen Buch. Jeder Song ist aufgelistet, lässt sich blitzschnell nachhören. Doch ich wollte lieber seinen Worten nachgehen, seinen Formulierungsswing aufsaugen und genießen. Es kein Buch für Nerds. Auch keins für ausschließlich Intellektuelle. Es ist für Sprach- und Musikgenießer. Wie hier über Töne, Melodien, Rhythmen und die Passion der Menschen dahinter geschrieben wird, ist ohne Vergleich. Wunderbar! Neben dem hohen Lesegenuss, den ich während der Lektüre erlebte, konnte ich auch dazu lernen. Willemsen hat mir das Genre Jazz näher gebracht, greifbar aufgeschlüsselt und mit Leben gefüllt. Nicht auf musiktheoretischer - was ich auch wissenswert fände - sondern auf emotionaler Ebene lässt er die Töne mit Worten klingen.
Allein das ist schon herausragend. Der große Verdienst dieses Buches ist es, den Jazz aus einer verstaubten, profanen Fahrstuhlmusikecke herauszuholen und ihn glänzend voller Puls, technischem Können und Leben zu füllen!
Doch die vereinzelten Glossen zum Ende des Buches setzen dem ganzen eine Krone auf. Denn wer so wundervoll in den Himmel loben konnte, war auch im Stande vernichtend zu sezieren. Die Beispiele über Helene Fischer oder Modern Talking sind großes Kino. Pures Entertainment für die, die es verstehen.
Selten hat sich ein Musikbuchkauf derart gelohnt wie diese Textsammlung von Roger Willemsen!

Freitag, 15. Mai 2020

KW 20, 2020: Die luserlounge selektiert

Bild: https://www.br.de/
(ms/sb) Von Solidarität wird derzeit viel gesprochen. Das ist  gut, denn das ist ein Wert, eine Handlungsweise, der eine Gesellschaft hält und zusammenträgt. Ja, jetzt oft noch ein Stückchen mehr als sonst. Diese Woche habe ich 'sonst' erfahren - was etwas widersprüchlich zur aktuellen Solidaritätsbekundung steht. Auf dem Weg zum Einkaufen kam ein Auto an einer Ampel nicht vom Fleck, die Schlange dahinter wuchs und wurde ungeduldig. Ich war als Fußgänger unterwegs und näherte mich der Situation, als das ältere Paar dann das Auto immer wieder anschob. Selbstredend habe ich meine Sachen beiseite gelegt und geholfen. Doch damit blieb ich allein auf weiter Flur. Stattdessen Gehupe und absolutes Nichtstun. Wie unverschämt ist das?! Wie wenig empathisch zeigt sich die Gesellschaft bei den einfachsten Dingen? Die beiden waren locker über siebzig und die Bequemen fuhren hupend vorbei. Da kann man verzweifeln.

Ob die Musik hier immer aufbauend ist, steht zur Debatte. Doch sie ist neu. Luserlounge. Selektiert.

Hinds
(sb) Ich habe ja einige Freunde und Bekannte in Spanien und wenn die in der Vergangenheit mit musikalischen Tipps um die Ecke kamen, habe ich mich aufs Schlimmste eingestellt. Erfahrungsgemäß geht da alles als Rockmusik durch, das auch nur annähernd eine E-Gitarre hören lässt. Meine Gegenvorschläge á la Obrint Pas oder Furious Monkey House sorgten für fassungsloses Staunen und Fragen, wie man sich solchen Lärm freiwillig anhören kann. Also sollte ich ihnen die Hinds besser nicht vorstellen... Die vier Damen aus Madrid hauen am 05.06. ihr Album The Prettiest Curse raus und das macht von A bis Z richtig Spaß und strotzt nur so vor Lebensfreude. Vorwiegend wird zwar auf Englisch gesungen, doch gerade die Passagen in ihrer Muttersprache ragen besonders heraus und machen Lust auf noch mehr - gerade weil die Kombination aus Spanisch und wirklich guter Rockmusik so selten ist. Das Quartett spielt auch textlich hervorragend mit den Vorurteilen, die ihm als All-Girl-Band entgegengebracht werden, und befreit sich spielend aus den Fesseln sämtlicher Konventionen, denn auch Disco- und LoFi-Elemente kommen nicht zu kurz. Überraschend großartig!



Maple & Rye
(sb) Wie reif und erfahren kann ein Debütalbum denn bitte klingen? Wenn man sich For Everything (VÖ: 29.05.), den Erstling von Maple & Rye anhört, hat man unweigerlich das Gefühl, es mit alten Hasen aus dem Business zu tun zu haben, die genau wissen, was dem geneigten Ohr schmeichelt. Tatsächlich aber sind Herren aus Göteborg (zumindest in dieser Konstellation) bislang echte Newbies und ich bin mir sicher, wir werden noch viel von denen hören. Warum? Weil die Schweden mit ihrem Folk den Nerv der Zeit brutal gut treffen und sich das Beste von anderen, erfolgreichen Bands zunutze machen und daraus etwas Eigenes schaffen, das unterhält, berührt und bewegt. Zunächst klingt die Scheibe wie das Album, das Mumford & Sons immer machen wollten (allerdings ohne deren nerviges Rumgeheule), später fühlt man sich stark an Friska Viljor erinnert und der Track Con Of The Century (siehe Video) könnte ohne Weiteres auch auf einem derer Alben vertreten sein. Trotzdem: Maple & Rye klingen zu keiner Zeit wie eine Coverband, sondern schaffen es, ihren eigenen Stil zu etablieren, der so unterschiedliche Gefühle wie Glück, Langeweile, Wut, Traurigkeit, Euphorie, Einsamkeit, Unsicherheit und Vergnügen widerspiegelt. Netter Sidefact: Die Aufmachung und das Artwork von For Everything ist wirklich extrem schick und alleine schon die Anschaffung wert. Also los, sofort vorbestellen!


Krakow Loves Adana
(ms) Das Hamburger Duo hat mal wieder zugeschlagen. Krakow Loves Adana ist sicher eine Band, die wir hier am häufigsten nennen und bewerben. Das liegt nicht nur daran, dass Robert und Deniz einfach irre sympathische Menschen sind, sondern halt wegen der sehr guten Musik, die sie über viele Jahre abliefern. Jetzt gibt es wieder neue Töne und bald auch endlich wieder ein ganzes neues Album! Im Herbst erst erscheint Darkest Dreams doch heute schon kann man in die erste Auskopplung reinhören! Die frühe Vogel... ihr wisst schon! Der Titel des Albums kommt der Musik des Paares entgegen. Oft geht es gewissermaßen düster zu, wofür Deniz' enorm eindringliche Stimme und die dazu passende Instrumentierung verantwortlich sind. Das weiß schnell zu gefallen! The Ocean Between Us spielt erneut mit 80er-Jahre-Synthie-Elementen, die sich auch im Video wiederspiegelt. Trotz der harten Aussage im Refrain - There's nothing between us / It's too late for us - ist der Track melancholisch tanzbar! Das Wort Disco als Genrebezeichung schwebt im Raum. Haben sie die Gitarren jetzt gänzlich ad acta gelegt? Diese Frage können wir zum Release des Albums beantworten! Bis dahin suchen wir uns jetzt auch so ein geiles, rotes Telefon!



Ivy Flindt
(ms) Es kann mitunter schon sehr spannend sein, das eigene Musikhören zu beobachten. Wie es sich entwickelt, aber auch wie es immer wieder neu vonstatten geht. Beim Namen Ivy Flindt ging ich zunächst - so mir nichts, dir nichts - von einem Soloprojekt aus, einer Dame, die halt diesen Namen trägt. Weit gefehlt. Dahinter verbirgt sich ein Duo, bestehend aus Cate Martin und Micha Holland. Diese Woche haben sie aus ihrem Erstling In Every Move (bereits vor zwei Jahren erschienen) eine weitere Single ausgekoppelt - samt sehr, sehr eindrucksvollem Video. Ich mag diese Langsamkeit im Prozess. Besser so als drei Singles ein halbes Jahr vor Veröffentlichung. Zu hören bekommen wir einen zarten, leicht melancholischen, aber nie zerbrechlichen Indie-Gitarren-Song, der herrlich in diese verrückte Zeit passt: Give It A Break. Und auch aus genau diesem Grund ausgekoppelt worden ist. Cates feste und gleichzeitig sanfte (also nicht zitternde) Stimme beherrscht das Lied und wird später unterbrochen von einem eher unerwarteten Gitarrensolo. Doch es bricht nicht aus, bleibt harmonisch, spricht den Hörenden zu: bleib entspannt, es wird sich schon alles regeln. Das kann man inhaltlich fatalistisch nennen - drauf gepfiffen. Musikalisch ist es wunderbar weich und dennoch bestimmt. Mit einfachen Worten: Ein schöner, purer Song zur richtigen Zeit!



Rockpalast Back Home
(ms) Wer wie ich in Nordrhein-Westfalen aufgewachsen ist, den haben sie Sendefrequenzen des WDR beim Laufenlernen, Schleifebinden, Größerwerden, Biertrinken stets begleitet. Sie waren unumgänglich. Damit verbunden als Teenie natürlich 1live, welcher Radiosender denn sonst, und damit auch die Stimme von Ingo Schmoll. Heute ist Schmoll immer noch (oder eher: wieder) beim WDR tätig und kreiert dort die wunderbare Rockpalast-Doku-Reihe (neben vielen Musikvideoprojekten etcetcpp). Da das Geschäft ja still steht, hat er die sehr gute Idee gehabt, in seinem Musiknetzwerk nachzufragen, wie die unterschiedlichsten Protagonisten denn mit der aktuellen Situation so umgehen und/oder zurecht kommen. Daraus entstand das Interview-Format Rockpalast Back Home, wo schon viele KünstlerInnen - auch aus unserem Kosmos - Frage und Antwort gestanden haben. Gut gefragt, gut geantwortet, kurzweilig, unterhaltsam, informativ. So könnte man es zusammenfassen. Unter anderem dabei: Thees Uhlmann, Martin Bechler (Fortuna Ehrenfeld) oder Alexander Thomé (Pascow). Film ab:



Honey Lung
(sb) "Suche nach Gleichgesinnten für die Erschaffung einer akustischen Hölle" - würdet Ihr auf so ein Gesuch nach Mitmusikern antworten? Hättet Ihr mal tun sollen, denn dann wärt Ihr jetzt vielleicht Bandmitglied von Honey Lung und würdet am 29.05. eine ziemlich geile Scheibe rausbringen. Die PR-Agentur schreibt von Shoegaze, aber auch mit der Beschreibung College Rock hätte man sicher nicht viel falsch gemacht. Mich erinnert die Post Motorcade Music EP in mancher Passage an die unvergessenen Fountains Of Wayne oder auch an die allererste EP von Good Charlotte aus dem Jahr 2000, als die noch nicht versuchten, Punks zu sein und sich damit lächerlich machten. Aber das ist ein anderes, trauriges Thema... Die Londoner hingegen liefern fünf starke Tracks ab, die abwechslungsreich und zu keiner Zeit fad sind. Mögen sie dieses Niveau halten und bald auch auf Albumlänge zeigen - wir drücken die Daumen und hoffen, dass die Band zusammenbleibt und nicht bald wieder Gesuche stellen muss.




The Winter Passing
(sb) Emo klingt ja per se erstmal ein wenig abschreckend, wenn man sich dann aber doch drauf einlässt, dann wird man gelegentlich für seinen Mut belohnt. Die Iren von The Winter Passing werden am 03.07. beispielsweise ein Album veröffentlichen, das Psychologen wohl als "manisch-depressiv" beschreiben würden. Diese Bipolarität der Musik überträgt sich während der Spielzeit auf den Hörer - irgendwie spannend zu beobachten... Weibliche und männliche Gesangsparts sind perfekt aufeinander abgestimmt und verstärken die catchy Melodien mit eindrucksvollen Erfahrungen mit Einsamkeit, Mobbing, Selbstbewusstsein und Ängsten als Teil der Arbeiterklasse. Dem Quintett aus Dublin gelingt es mit New Ways Of Living auf jeden Fall, mit ihrer Mixtur aus Punk und Indie ins Herz vorzudringen und das dürfte auch live - wenns denn mal wieder erlaubt ist - ein Erlebnis sein. Wir halten Euch da auf dem Laufenden.


Von Wegen Lisbeth
(sb) Ich habe echt lange überlegt, ob ich überhaupt was zu Von Wegen Lisbeth schreiben soll, weil ich deren Musik seit jeher nicht sonderlich mag. Nun habe ich mich aber tatsächlich durch Live in der Columbiahalle (VÖ: 22.05.) gequält und wurde bestätigt: Ich bin wahrscheinlich deutlich zu alt für diesen Scheiß und habe vermutlich auch das falsche Geschlecht, um dem etwas abzugewinnen. Vor einer gefühlten Ewigkeit fand ich ja Anajo ganz toll (was aber auch viel an den Menschen und weniger an der Musik lag) und ungefähr auf deren oberflächlichem Niveau bewegen sich auch die Texte der Berliner. Sehr anstrengend. Und so unglaublich trivial und schlicht. Es kommt ja des Öfteren vor, dass ich Musik höre, die mir persönlich nicht zusagt, bei der ich aber durchaus erkenne, wieso sie anderen gefallen kann. Hier nicht. Kein bisschen. 3.500 (zumeist sehr junge, weibliche) Besucher sehen das anders. In diesem Sinne: Live and let live. Bleibt die grundsätzliche Frage (völlig unabhängig von meiner Antipathie gegenüber Von Wegen Lisbeth): Muss man nach zwei Studioalben wirklich schon ein Live-Album veröffentlichen?


Jonas David
(ms) Dieses Jahr haben sie nochmal zugeschlagen. Zum dritten Mal. Leider habe ich es nicht geschafft, denn die ersten beiden Male gingen direkt ins Herz und in die Beine. Die Tour of Tours hat vor niemandem Halt gemacht. Groooßartige Idee! Ein Teil davon ist/war Jonas David. Groß und etwas schüchtern stand er mit seiner Gitarre auf der Bühne und kam richtig zur Geltung, als er seine eigenen Stücke spielte. Seine Stimmverzerrungen waren etwas ungewohnt, aber es ging voll auf! Nun kommt von ihm neues Solo-Material! Ruhig, getragen, kaum vernehmbare Gitarren. Im Vordergrund der neuen Single Sorri stehen breitflächige Bläser, Klavierakkorde und seine Stimme, bis sich irgendwann harmlos ein Schlagzeugbeat in das Lied schleicht und den gesamten Track wie ein behütetes, sanftes Crescendo erscheinen lassen. Nein, wirklich melancholisch ist das nicht - doch eine gewisse Andächtigkeit ist nicht von der Hand zu weisen. Es plätschert auch nicht daher, sondern bleibt bestimmt. Dazu gibt es ein wunderschön langsames aber bildgewaltiges Künstenvideo! Lohnt - ebenso wie die Vorfreude auf das neue Album Goliath, das im August erscheinen soll! Juhu!



Everything Everything
(ms) Zum Abschluss drehen wir nochmal richtig auf. Das ist ein gutes Zeichen. Denn beim ersten Vorboten zum neuen Album von Everything Everything ging es zwar visuell kunstvoll, doch klanglich eher ruhig zu. Dabei sind die Briten so herrlich experimentell und unglaublich pfiffig im Songwriting. Das haben sie oft, auch auf ihrer letzten Platte bewiesen. Die neue Scheibe wird auf den Titel Re-Animator hören und am 21. August erscheinen. Damit wird der Sommer spannend in puncto Veröffentlichungen. Und die Hoffnung, dass im Herbst - wo sowieso die guten, großen, ausgiebigen Touren laufen - alles wieder einigermaßen so ist, wie es sein sollte und die Jungs aus Manchester hier aufschlagen und uns endlich wieder beschallen, bleibt!
Bis zur Veröffentlichung des Albums können wir nun auch Arch Enemy genießen! Ob die Metalband was damit zu tun hat, bezweifle ich. Den Song zieren elektronisch verspielte Beats und Percussion, die herrlich artpoppig daherkommen. Nicht ganz so vertrackt, wie man sie kennt, eher tanzbar und eingängig geht es hier ab. Heißt nicht, dass sie flach oder einfallslos klingen. Diese Adjektive könnte man mit Everything Everything niemals in Verbindung bringen! Also, aufgedreht und abgespielt! Die letzten Takte zeigen, dass die Band immer eine Überraschung in petto hat!


Mittwoch, 13. Mai 2020

Moses Sumney - græ

Foto: Eric Gyamfi
(ms) Sprechen wir über außerordentlich lange Alben. Wo natürlich die Frage gestattet sein muss, ab wann man denn von einem sehr langen Album spricht? Gibt es da eine Grenze oder ist das eher so ein Gefühl? Wahrscheinlich hängt es ganz enorm vom Genre und den leitenden Gedanken dahinter ab? Sind alle Geschichten nach 30 Minuten erzählt? Oder doch eher nach einer Dreiviertelstunde? Was ist den Hörenden noch zuzumuten? Wann schaltet man unwillkürlich ab? 50 Minuten sind da so eine verankerte Zeit aus der Pädagogik. Man erinnert sich an endlose Stunden in der Schule, Gedichtinterpretationen, Vokabelnpauken in Latein oder stinklangweilige Versuche in Physik. Da waren fünfundvierzig Minuten mitunter die Hölle.
Punkrock geht schnell. Da ist eine halbe Stunde mitunter die ideale Zeit. Schnelle Stücke voller Aggression und Dynamik. Nach der halben Stunde ist man auch k.o.
Eine Compilation kann man schon länger hören, gleicht sie einer Playlist mit Höhen und Tiefen und durch die naturgemäß unterschiedlichen Interpreten entsteht viel Abwechslung.
Für mich persönlich gibt es so einen Knackpunkt, den nur wenige Künstler bislang gut ausfüllen konnten. Und das ist eine Stunde. 60 Minuten. Das ist in meinen Ohren schon viel für ein Album. Zuverlässig überzeugt hat mich bislang Get Well Soon. Sowohl The Horror als auch Vexations waren Alben, die solch eine Spielzeit hatten und komplett überzeugen konnten!
Nun. Bislang. Denn an diesem Freitag (15. Mai) erscheint das neue Album von Moses Sumney, den ich bis dato auch nicht kannte, aber die Wege des Herrn sind ja bekanntlich unergründlich. græ heißt das Werk. Klein geschrieben und mit diesem lustigen Buchstaben. Und logischerweise beträgt die Spielzeit knapp über eine Stunde. Die hat sicherlich ihre Schwächen. Doch die Stärken sind schier unglaublich. Fangen wir vorne an!



Childish Gambino wurde ja nur so bekannt, weil das Video für so einen großen Aufschrei gesorgt hat. Wäre der (gute) Text mit einem etwas weniger sensationserhaschenden Video erschienen, wäre das sicher alles so nicht gekommen.
Musikalisch wesentlich breiter und mit einem - für meinen Geschmack - ästhetisch wesentlich anspruchsvolleren Video kommt besagter Moses Sumney daher. Das gilt für Virile - der bereits letztes Jahr ausgekoppelten Single des neuen Albums. Wie kommt man denn auf diese Idee?! Es ist zugleich abartig, widerlich und beeindruckend, faszinierend dass man kaum weggucken mag! Dazu noch diese außergewöhnliche Musik! Da wehrt sich jemand mit Händen und Füßen in eine Schublade gesteckt zu werden. Rockelemente und R'n'B plus soulige Stimme erstrecken den künstlerischen Anspruch des Videos in die Musik. Bloß nicht festlegen, bloß nicht.
Das scheint die Parole der Stunde zu sein. Denn dieses Album mit seinen 20 Stücken kommt dem Titel nah. Graubereiche werden abgetastet. Des Zumutbaren. Der Genres. Der Erzählweise. Ziehen wir die fünf Interludes ab, sind es immer noch 15 Tracks.
Und mit was für einer Wucht von Musik wird diese Platte denn bitte eröffnet?! Cut me. Soulig, groovy, catchy, Gospel! Direkt zu Beginn dieses Albums beweist Sumney, welche Gewalt in seiner Stimme steckt. Gern tastet er die höheren Ebenen ab, ohne sich darin zu verlieren. Man fragt sich nebenbei, ob Whoopi Goldberg noch lebt (ja, sie ist erst 65). Ein irrer Track, der Lässigkeit neu definiert (s.u. in einer tollen Studio-Version)! Er leitet ein Album ein, dass im Grunde genommen sehr ruhig ist, doch dieser Ruhe wohnt viel Dramatik und Zerbrechlichkeit inne.



Dieser aus North Carolina stammende Künstler - klar, er spielt mit seiner Extravaganz. Völlig legitim. Gutes Mittel im Showbusiness. Hier geht es sogar auch auf und plätschert nicht an der Oberfläche entlang. Schauen wir uns noch zwei, drei andere herausstechende Songs der Platte an. Da ist zu Einen Conveyor. Startet der Track mit einem irren Technobeat, bricht dieser nie ganz aus. Doch das Maschinelle, Ohnmächtige bleibt, erzeugt immer wieder eine eindringliche Spannung. Das Thema Pop wird hier in jedem Fall zu Ende gespielt. Ich weiß gar nicht, in welche Stimmung dieses Album passt. Aufregend? Unterhaltsam? Entspannend? Alles und nichts zugleich.
Beim Lied Gagarin muss ich sofort an die Band Someone Still Loves You Boris Yeltsin denken. Die Frage ist hier tatsächlich: Raumfahrt oder Wodka-Kater? Oder doch Soulnischen? Im sehr dramatischen, fast sechs Minuten langen Song, der mit einigen Stimmverzerrungen spielt, begleitet den Hörer bis zum Schluss durch allerhand Effekte ein entspanntes Jazzklavier als roter Faden. Stark!
Zuletzt sei noch Lucky Me angesprochen! Ein Muss! Hier begeistert ein versprenkeltes, einhüllendes Klavierspiel, das die Melancholie des Textes - das Zerbrechen einer Beziehung kann auch seine Vorteile haben - perfekt untermalt. Gibt etwas wie traurige Entspannung? Wenn, dann ist sie hier zu finden!

Haben wir uns bislang eher mit dem Sound der Platte auseinandergesetzt, muss die Frage noch beantwortet werden, worum es denn im Wesentlichen geht? Zugegeben eine Frage, die ich mir bei englischsprachigen Alben nur selten stelle (ich gelobe Besserung)!
Am besten lassen sich die thematischen Graubereiche aus den fünf Zwischenstücken herausfiltern. Sie sind je maximal gut zwei Minuten lang und darin wird zum Hörer gesprochen. Es geht um Isolation, was nichts anderes als Verinselung heißt. Und sehr viel um Denkschemata von und gegenüber People of Colour: I truly believe that people who define you control you. Puh, da muss man erstmal drüber nachdenken. Zwischen den Zeilen ploppt immer wieder Black Lives Matter auf. Gut so! Laut so! Auch fließende (vorhandene?) Grenzen zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit werden infrage gestellt. Graubereiche. Die erstrecken sich von innen nach außen. Von Selbst- zu Fremdwahrnehmung. Breit gefächert. Gut auf den Punkt gebracht.

Moses Sumney ist hier ein irres Werk gelungen. Es will oft nicht zugänglich sein. Es will trotz aller musikalischen Raffinesse und Groove aufrütteln. Dabei überzeugt es klanglich immer wieder; inhaltlich sowieso!

Freitag, 8. Mai 2020

KW 19, 2020: Die luserlounge selektiert


Bild: pnpnews.de/
(sb/ms) Wenn man zu Lebzeiten schon eine Legende ist, dann ist etwas wirklich Außerordentliches passiert. Angeeckt ist er ohnehin. In der Frühphase der Band wurden sie ausgebuht: zu eigenwillig, zu schräg, zu sehr dem Zeitgeist entgegengesetzt. Auch privat ist er ordentlich angeeckt: zu verschwurbelt, zu versunken im eigenen Kosmos, zu ellenbögig anderen gegenüber. Vielleicht gerade weil Kraftwerk seit Jahren keine neue Musik mehr produzieren, sondern die alten Lieder immer wieder in neuem Gewand präsentieren, wuchtiger, basslastiger, moderner und Florian Schneider-Esleben auch seit einigen Jahren nicht mehr Teil des Projekts ist, schwebt sein Name, seine Kreativität über allem. Logisch mit dem Ralf Hütters zusammen. Ja, sie sind/waren Pionieren, haben sehr, sehr große Türen für jegliche Form der elektronischen Musik geöffnet und waren im Ausland immer ein wenig mehr angesehen als hier. Nun ist Florian Schneider-Esleben verstorben. Sein musikalisches Erbe war zu Lebzeiten schon immens. Jetzt erst recht. Kraftwerk für immer!

Am Puls der Zeit sind wir auch nicht. Hören natürlich die Musik, die wir seit Jahren hören. Doch freitags wird selektiert. Perlen für euch. Neues aus den Boxen. Ab geht's:

Der Nino aus Wien
(sb) Was macht den Nino aus Wien eigentlich so megasympathisch? Dass er so ein fantastischer Beobachter des Weltgeschehens und der Menschen in seiner Umgebung ist? Dass ihm selbst die abgefahrensten und absurdesten Themen eine Erwähnung wert sind? Sein großartiger Humor? Dass er nur so semi-gut singen kann und man sich deswegen so leicht mit ihm identifizieren kann? Oder ganz einfach, dass er stets er selbst ist und man ihm einfach jedes einzelne Wort abnimmt, das er von sich gibt? Was auch immer sein Erfolgsrezept ist: Der Nino aus Wien macht verdammt viel richtig und nicht zuletzt deshalb verfolge ich seine Karriere seit vielen, vielen Jahren und komme immer wieder auf seine Musik zurück, wenn ich mal wieder gar nicht weiß, was ich hören mag. Der Nino geht einfach immer! Zugegebenermaßen nicht jedes einzelne Lied oder auch durchgehend ganze Alben, aber wer solche Perlen wie Du Oasch, Unentschieden gegen Ried oder Fuasboi schaun geschaffen hat, der ist ein ganz Großer. Und ich lehne mich jetzt mal (und zwar sehr gerne) ganz weit aus dem Fenster und behaupte, dass er mit Ocker Mond (VÖ: heute!) sein bislang bestes Album veröffentlicht. Warum? Weil es ihm diesmal tatsächlich gelingt, mich über die komplette Albumspielzeit hinweg zu überzeugen. Es gibt keinen unbedingten Skip-Track, dafür aber mit Langsam, Unter Fischen und dem überragenden Hawelka gleich drei Songs, die mit zum Besten gehören, was der Künstler in seiner Laufbahn aufgenommen hat. Wenn Ihr den Nino nicht eh schon auf dem Zettel habt, dann hört Euch das unbedingt an und lasst Euch auf ihn und seine Gedanken ein - es lohnt sich!



Shock Therapy
(sb) Electropunk, Wave und Industrial - so lässt sich das Genre von Shock Therapy wohl recht treffend zusammenfassen. Anfang der 80er taten sich Itchy McCormick und sein Partner Eric Keith Jackson in Detroit zusammen, um die alternative Musikwelt aufzumischen, doch der etwas eigenwillige Itchy verschliss im Laufe der Jahre etliche Bandkollegen, so dass das Projekt Shock Therapy letztendlich quasi auf ihn reduziert werden kann. Im Jahr 2000 musste die Band schließlich eine Zwangspause einlegen, da ihr Mastermind in den Knast wanderte - er hatte einen Brand gelegt und anschließend versäumt, sich bei seinem Bewährungshelfer zu melden. In der ungewollten Auszeit blieb McCormick jedoch voller Tatendurst, für die Zeit nach seiner Freilassung war ein Album in Planung, das dann im Jahr 2008 auch veröffentlicht wurde. Itchy selbst erlebte den Release leider nicht mehr; er verstarb im November 2008 unter mysteriösen Umständen, für die u.a. jahrelanger exzessiver Alkoholkonsum, eine eventuelle Misshandlung hinter Gittern oder eine angeborene Krankheit verantwortlich gemacht wurden.
Wie dem auch sei: Wir schreiben das Jahr 2020 und Shock Therapy veröffentlichen ein neues Album! Back From Hell (VÖ: 15.05.) ist die letzte Komposition von Itchy, wurde bislang nicht released und stammt aus dessen umfangreichen Archiv. Die 12 Tracks sind eine konsequente Weiterentwicklung seines Schaffens und in ihrer Dichte zuvor unerreicht. Ich gebe zu: Mir ist es auf die Dauer etwas zu anstrengend, wer aber auf diese Art von Musik steht, der wird das Album vermutlich als Höhepunkt der Bandgeschichte anerkennen müssen.


Ursula Strauss & Ernst Molden
(sb) Wer die österreichische Seele verstehen möchte, der kommt seit Jahren an Ernst Molden nicht vorbei. Ist so. Der 53-Jährige hat sich nicht nur als Musiker einen Namen gemacht, sondern auch als Schriftsteller - und diese vielfältige Begabung setzt der Wiener wie kaum ein Zweiter ein, um die an Geschichten reiche urbane Mythenwelt seiner Heimatstadt, aber auch seines privaten Umfelds zu durchleuchten. Ursula Strauss hingegen ist dem Publikum in erster Linie als Schauspielerin bekannt und gehört zu den besten Charakterdarstellerinnen der Alpenrepublik. Das passt natürlich wie die Faust aufs Auge, denn an Persönlichkeit, an Charakter und an Eigenwilligkeit hat es der Musik Moldens noch nie gemangelt. Heute erscheint ihr gemeinsames Album Wüdnis, die Quintessenz ihrer seit sieben Jahren bestehenden Zusammenarbeit. Die zwölf Lieder sind einfach arrangiert (zwei Stimmen plus elektrische Gitarre) und leben von ihren herausragenden Texten, die von der Wildnis in und zwischen den Menschen und vom maskierten Krieg erzählen. Das Fluchtmotiv wird als zentrales Themen aufgegriffen und wort- und bilderreich in Szene gesetzt, der dämmrige Untergrund Wiens bildet das Fundament für die Songs des nur auf den ersten Blick ungleichen Duos. Klar: Ein Crashkurs Österreichisch oder zumindest eine gewisses Interesse an Dialekten ist hilfreich, aber wenn das gegeben ist, dann ist man gewappnet, um in Moldens Welt einzutauchen und sie zu verstehen. Sehr stark! Und wenn Ihr schon dabei seid, dann hört Euch auch gleich noch seine anderen Alben, u.a. zusammen mit dem Nino aus Wien, an. Sosososo gut.




Hans im Glück
(ms) Bekommt man mit, dass es frische Musik aus der Gegend gibt, wo man aufgewachsen ist, dann ist das immer ein bisschen seltsam. Das sind entweder Coverbands, unprofessionelle Musik oder anderes zum Fremdschämen. Immer schlimm. Puh.
Und dann kommen Hans im Glück. Sie sprengen zum Glück diese grausamen Kategorien. Mit Groove, Wortwitz, Rap, Bläsern, Beat entsteht eine extrem gelungene Reise durch die Stadt. Durch Detmold. Zwischen Bielefeld und Paderborn. Das sind natürlich schlimme Bezugspunkte, doch es ist wirklich schön da. Wirklich! Ich komme aus der nächst gelegenen Stadt. Warum kommen denn ausgerechnet aus Detmold so flinke, pfiffige Musiker?! Das liegt auf der Hand: Dort ist eine der renommiertesten Musikhochschulen des Landes beheimatet. Als Kind und Jugendlicher bekam ich von ihren Studenten Musikunterricht. Alles richtig gute Menschen.
Detmold ist schnell entdeckt - seit vielen Jahren ist Rudolfs Imbiss ein Highlight für mich, ebenso das schöne Freilichtmuseum. Für die, die nicht in der Nähe wohnen, bringen Hans im Glück mit dem Track DTC - Detmold City einen kurzweiligen und wirklich gelungenen Einblick! Sommerlicher Song, gute Laune, bisschen Lokalpatriotismus und Käptn Peng-Kostüme im Video! Gefällt sehr!



Velvet Volume
(ms) Man kennt diese Geschwister-Klassiker im Musik-Business. Beispielsweise Angus und Julia Stone oder CocoRosie. Bei den White Stripes hat das nie gestimmt! Aber eine Band, die aus drei Schwestern besteht, kenne ich aus dem Stehgreif nicht. Das ändert sich nun mit Velvet Volume. Sie heißen Noa, Naomi und Nataja. Oh man. Die Hölle für alle Bezugspersonen, das ständig auseinander halten zu müssen. Ich spreche aus Erfahrung, doch dazu wann anders.
Die drei im dänischen Ahaus wohnenden Damen machen schön schrammelige Rockmusik. Keine Kompromisse. Gitarre. Bass. Schlagzeug. Gesang. Ob Geschwister auf mysteriöse Art und Weise musikalisch besser harmonieren?! Keine Ahnung. Die Hörproben belegen das zumindest. So ist Carry nicht nur ein solider Rocksong, sondern der stimmliche Wechsel im Refrain kommt besonders gut. Ebenso wie das durchaus ästhetische Video dazu! Voll umfänglich kann man sich ab dem 29. Mai davon berauschen lassen, dann erscheint ihr zweites, neues Album Ego's Need. Spannender Titel, spannende Musik!



Charlie Cunningham
(sb) So wirklich viel ist über Charlie Cunningham nicht bekannt, noch gilt er als Geheimtipp. Doch nicht zuletzt sein 2019er-Album Permanent Way setzte ihn nachhaltig auf die Pop-Landkarte und mit seiner neuen Pieces EP (VÖ: 15.05.) manifestiert der Singer/Songwriter seine Ambitionen. Vier leise, mitunter zerbrechlich wirkende Stücke versammelt er auf der EP, darunter mit All This sogar ein Instrumental, das von einer zarten Pianomelodie getragen wird. Mich berührt vor allem der Auftaktsong Pieces, dessen melancholischer Grundton ansteckend wirkt und einen erstmal schlucken lässt. Das ist Gefühlspop erster Klasse und wartet nur auf den Durchbruch!


Bibio
(ms) Und dann einfach mal zurück lehnen. Aus dem Fenster schauen. Die Maschine anhalten. Durchatmen. Sich über die tollen, kleinen Dinge freuen. Jemandem einfach so ein Lächeln schenken. Ein bisschen frisches Obst essen. Sich selbst etwas Gutes tun. Sich mal wieder bei den Eltern melden. Vielleicht eine Postkarte schreiben? Den Ort ändern. Vom Sofa zur Küche. Schauen, wie es ist.
Dabei Bibio hören. So sanft, so behütet, so ruhig und dennoch auf zarte Weise kräftig nimmt sein Klang einen mit. Es ist eine bestimmte, aber lockere Reise. Mal die Augen schließen. Der gezupften Gitarre und gestrichenen Fiddle lauschen. Dazu die hoffnungsvolle, leicht zerbrechliche Stimme von Stephen Wilkinson hören, sich mitnehmen lassen. Beim zweiten Mal Hören in jedem Fall das tolle Video zu Sleep On The Wing schauen. Allein der Name des Liedes ist ja schon klasse. Ein Wiegenlied? Gut möglich, dass es dazu gedacht ist. Der Vogel nimmt uns in jedem Fall mit hinaus aus dem Alltag. Gut so. Ein kleiner Flug durchs Freie, Ungewisse ist schön.
Und auf der 10-Track-EP (man könnte auch Album dazu sagen), die den gleichen Namen wie die Single trägt, gibt es noch mehr davon. Es ist ein Anknüpfungspunkt an das letzte Album Ribbons aus dem letzten Jahr und setzt dessen Klanggestalt fort. Schönes Konzept. Wunderbar einhüllende Musik!



Sandra Hüller
(ms) Diese Blog-Rubrik entsteht meist über vier, fünf Tage hinweg. Manchmal sogar über einen längeren Zeitraum. Immer wieder entstehen seltsame Zufälle. Zufall diese Woche: Zwei bekannte Gesichter aus anderen Kunstformen treten hier singend auf. Nach dem Schriftsteller Ernst Molden hier die Schauspielerin Sandra Hüller.
Logisch, verdientermaßen ging an Toni Erdmann kein Weg vorbei. Was ein herrlicher Film. Was für eine überragende Schauspielerin. Für mich auch sehr präsent: Ihre umwerfende Rolle in einer Tatortreiniger-Folge, in der es um die Wahl des vermeidlich richtigen Vornamens geht! Wunderbar gespielt. Doch singende Schauspieler sind ein äußerst heikles Thema. Ulrich Tukur - sehr gelungen. Axel Prahl - schon wesentlich schwieriger. Jan Josef Liefers - grauenhaft!
Und jetzt halt Sandra Hüller. Zum Glück auch eine Frau. Zum Glück mit Musik, die so gar nicht gekünstelt, gewollt, aufdringlich daher kommt. Sondern fein, pointiert, voller Sinnlichkeit, Entspannung, dennoch eine gewisse Anspannung. Ihre Stimme über rotzig-grooviger Gitarre und ganz dezentem Percussion. Ganz fein und dennoch kraftvoll. The One macht wirklich viel Freude. Spaß macht das dazugehörige Video. Schön minimalistisch und schräg - ich vermute, so mag es Sandra Hüller. Einfach mal auf oder zwischen zwei Stühlen sitzen, stehen, liegen, rutschen.
Im Sommer soll eine ganze EP mit Musik erscheinen. Wir halten euch definitiv auf dem Laufenden.



PeterLicht
(ms) Ich glaube es war so: Vor vielen Jahren wurde PeterLicht durch ein höchst mysteriöses Erlebnis aus der Wirklichkeit entrückt und schwebt seitdem ein wenig über dem Boden; vielleicht auch manchmal der Tatsachen. Zwischenzeitlich senkt er sich dann wieder zurück auf den Grund und hinterlässt schön-schräge Musik. In der Zwischenzeit geht ein produktiver, sehr verschwurbelter Kreativprozess vonstatten, dessen Ergebnis dann zu hören ist. Sein letztes Album Wenn Wir Alle Anders Sind war so ein Output in LP-Format. Nun gibt es endlich wieder eine neue Single. Hui, elektronisch ist er geworden, der PeterLicht. Aber halt auch irre fröhlich. Grell ja ohnehin schon. ...E-Scooter Deine Liebe ist selbstredend schon ein Titel, der PeterLicht-mäßiger gar nicht sein könnte. Und nur er würde das Wort E-Scooter als Verb benutzen! Doch die Kernaussage, der Sonne hinterher zu laufen anstatt sich der Depression hinzugeben, ist ein guter Rat. Jetzt. Und wann anders auch. Ob sich an diese Single ein Album anschließen wird, ist unklar. Wie so alles bei diesem Künstler aus Köln. Die Hoffnung: Ausgeschlossen ist es nicht!



Trixsi
(ms) Und noch mehr gute Ankündigungen aus dem deutschsprachigen Raum. Denn es gibt Supergroups, die nerven. Und es gibt Supergroups, die super funktionieren. Zu letzterer Kategorie gehören Trixsi. Pfiffiger Name, fetzige Musik. Mitglieder aus folgenden Bands haben sich für diese Musik zusammen geschlossen: Jupiter Jones, Findus, Love A und Herrenmagazin. Es gibt erheblich schlechtere Referenzen hierzulande. Will sagen: Enorm, dass sie sich zusammen getan haben. Jörkk Mechenbiers Stimme ist zwar das Aushängeschild, doch es ist bei weitem nicht Love A, dafür steckt zu viel Indierock drin. Ein großes Glück ist diese Band. Im Gegensatz zu allen anderen Emporkömmlingen, die so gerne mit "Der...", "Die..." oder "Das..." anfangen, machen hier fünf Protagonisten genau das, was sie seit Jahren in bester Manier unter Beweis stellen: Klare Gitarrenmusik ohne Attitüde. Nun ist erstmals Videomaterial zu begutachten. Wannabe ist heute erschienen. Das muss man einfach abspielen lassen, es spricht für dich. Denn solche Zeilen können die Der/Die/Das-Bands halt nicht texten: "Alles für'n Arsch in der Wannabe-Demokratie. Die Jungen sterben online, die Alten sterben nie." Am 26. Juni erscheint dann der Erstling unter diesem Namen bei Glitterhouse: Frau Gott. Richtig Bock!

Freitag, 1. Mai 2020

KW 18, 2020: Die luserlounge selektiert

Bild: businesstraveller.de
(ms/sb) Es gibt ja so dämliche pseudo-moderne Narrative, die als cool und hip gelten. Zum Beispiel: Ich schaue ja kein Fernsehn mehr. Die Frage ist ja: Was will man damit sagen?! Ich hab mich vom Chips-Proletariat verabschiedet und drehe einfach so zu Hause durch? Ich bin so beschäftigt, dass ich es gerade noch schaffe, mir abends ein Brot zu schmieren?! Ach, keine Ahnung!
So vor die Glotze hau ich mich auch nicht. Aber Filme und insbesondere Serien auf Abruf konsumiere ich doch erheblich und sehr, sehr gerne. Mal zum Berieseln, gerne auch für die Konfrontation. Zum Beispiel mit der Miniserie Unorthodox, die auf der einen großen Plattform läuft. Es lohnt sich wirklich. Da der Berlin-Teil von der literarischen Vorlage abweicht, lohnt sicher auch das Buch. Doch im Berlin-Teil gibt es auch einen musikalisch interessanten Aspekt. Eine Tanz-Szene in irgendeinem Club, keine Ahnung. Die Protagonisten verlieren sich im Sound von Catnapp. Die aus Argentinien stammende Ampi mit der Die Antwoord-Frisur macht markante, elektronische Musik. Weiß zu gefallen. Kam in der Serie extrem gut, losgelöst davon aus.

Hier ist die luserlounge. Du bist ganz richtig. Es ist Freitag. Hier wurde selektiert. Das Ergebnis:

Goldroger
(sb) Es ist ja durchaus ein sehr interessanter Ansatz, sein Album in zwei Stufen - also zeitversetzt - zu veröffentlichen, auch wenn sich mir der tiefere Sinn dahinter noch nicht zur Gänze erschlossen hat. Bereits im November haben wir Euch über Teil 1 des neuen Goldroger-Logplayers informiert, am 08.05. folgt nun endlich Diskman Antishock II. Leider hält die Fortsetzung aber nur bedingt das, was der Appetizer versprochen hatte. Natürlich gilt noch immer, dass sich der Künstler angenehm vom chartsdominierenden Rap-Dreck abhebt, leider wird aber mit wenigen Ausnahmen das Niveau der ersten paar Songs nicht mehr ganz erreicht, obwohl mit Lip Gallagher sogar der beste Track des Gesamtalbums vertreten ist. Generell bin ich der Meinung, dass das Werk ohnehin als großes Ganzes betrachtet werden sollte und da stelle ich Goldroger durchaus wieder ein positives Zeugnis aus: Stil, Themen, Beats und Attitüde überzeugen und lassen das Album aus der Masse herausragen.


Glass Museum
(ms) Diese Woche ist mir das erste Mal die aktuelle Situation auf die Nerven gegangen. So richtig. Schlechte Laune, große Melancholie. Doch glücklicherweise gibt es herrliche Rezepte, die dagegen sehr wirksam sind. Nicht nur Musik. Sondern vor allem Menschen. Liebe, wertvolle, tolle, umsichtige, geduldige, ans Herz gewachsene Menschen.
Aber klar - auch die Musik. Und die immer wieder. Heute und hier aus Belgien. Daher stammt das Duo mit dem schönen Namen Glass Museum. Nennt mich einen musikalischen Nomaden, aber mit Belgien assoziiere ich aus dem Stehgreif kaum Bands; gut, dEUS... aber sonst?! Antoine Flipo und Martin Grégoire sollten dringend zu solch einem Status aufschließen. Beste Voraussetzungen bringen sie mir, denn schon letzte Woche erschien ihr Album Reykjavik. Wer typisch isländisch verträumte, sphärische Klänge erwartet, liegt falsch. Glass Museum machen aber ähnlich schwer in Worte zu fassende Musik. Ist das Klassik-Elektro, Jazz-Minimal-Weltmusik?! Egal! Das ist einfach gut! Punkt! Acht Songs befinden sich auf der Platte, die zwischen ruhigen Pianotönen, wilden Soundwänden, sehr viel guter Laune, Leichtigkeit, soundtrackhafter Wucht, tanzbaren Takten en masse changieren. Diese extrem harmonischen und gut zusammen passenden Übergänge erstrecken sich auf Albumlänge, sind mitunter aber auch in nur einem einzigen Song zu hören. Und wenn sich musikalisch andächtige Melancholie anschleicht, hat sie glücklicherweise nie lange Bestand. Dies ist eine fröhliche, helle, pfiffige Platte. Ein toller Wurf!

Drücken wir ihnen die Daumen, dass diese Konzerte im September stattfinden:
01.09.2020 Hamburg, Turmzimmer (Übel & Gefährlich)
02.09.2020 Berlin, Kantine am Berghain
03.09.2020 Haldern, Pop Bar



Luise Weidehaas
(ms) Das Leben steht still. In den letzten Wochen ganz wenig Trubel. Doch wahrlich keine Entspannung, keine Ruhe. Denn es sind ja keine Ferien. Es ist Ausnahme. Es ist Unsicherheit. Schön, dass das öffentliche Leben wieder ein bisschen stattfindet. Auch gut, dass es mal wieder regnet. Doch - das ist auch nur mein Eindruck - ist es keine leise Zeit. Irgendwo brodelt es ständig.
Das muss nicht sein. Und es fällt mir persönlich schwer, diese Ruhe selbst zu kreieren. Genau in diese Lücke füllt mal wieder Musik. Töne. Stimmen. Geschichten. Ganz, ganz zart und ganz bedacht und umsichtig kommt da Luise Weidehaas um die Ecke und präsentiert auf ihrem Album Shore zehn Lieder, die alles andere abschalten, runterfahren, dämmen. Anders als der Titel suggerieren mag, singt sie auf Deutsch. Und damit herrlich zugänglich. Ihre Lieder sind filigran, aber nicht zerbrechlich. Sie sind gefühlvoll, aber nicht melancholisch. Sie stellen Fragen, aber reißen einem nicht den Boden unter den Füßen weg. Ihre Musik funktioniert am besten, wenn man sie etwas lauter dreht, dann kommt die Gänsehaut schneller. Dazu eine Tasse Tee, ein gemütlicher Ort und die Augen geschlossen. Dann nimmt Luise Weidehaas einen mit in ganz unterschiedliche Orte. Ganz sanft. Ganz behütet. Shore ist ein unfassbar rundes Album; Liebe, Trost, Gefühl. Was mich so beeindruckt dabei, ist, dass es nicht so gestelzt herüber kommt (das macht mir das Hören von Anna Depenbusch beispielsweise unmöglich).
Es ist Musik, die genau zur richtigen Zeit kommt, einen einpackt, ganz weich. Das Album erschien am 27.03. Kauft es. Der Betrag geht in sehr kreative, richtige Hände.



Tim Vantol
(sb) Wir haben in den letzten Wochen ja immer wieder Künstler wie Nathan Gray, Dave Hause, Jesse Barnett oder Sam Russo gefeatured und Tim Vantol ist in dieser Reihe bestens aufgehoben. Auch thematisch ist der Niederländer ähnlich zu verorten, verarbeitet er in seinen Americana-Hymnen doch den Weg aus der Depression und das Überwinden seiner Lebenskrise. Mittlerweile ist der Sänger, der dieses Jahr eigentlich mit den Toten Hosen als Support auf Tour hätte gehen sollen, im schönen Berchtesgaden beheimatet und das sollte ihm auch die Ruhe geben, nach diesen komischen Zeiten wieder voll durchzustarten. Mit Better Days (VÖ: 22.05.) ist ihm auf jeden Fall ein berührendes aber keinesfalls zu sentimentales Album gelungen, das nichtsdestotrotz tiefe Blicke in die Seele und das Herz des Künstlers erlaubt.


The Everettes
(sb) Vor knapp 15 Jahren schlugen The Pipettes bei mir ein wie eine Bombe: Dieser 50's/60's-Girlgoup-Style gepaart mit Texten, die mitunter einen krassen Kontrast zu den Heile-Welt-Melodien darstellten, trafen damals genau meinen Nerv und ich hörte wochenlang kaum was anderes. Als nun das selbstbetitelte Debütalbum (VÖ: 29.05.) von The Everettes eintrudelte, fühlte ich mich direkt an die drei Damen aus Brighton erinnert, beim genaueren Hinhören erkennt man jedoch deutlich Unterschiede. Klar, der Ansatz ist ein sehr ähnlicher: The Everettes bringen das schon fast vergessene Konzept der 60's-Girlgroup mit ihrem ganz eigenen Charme zurück in die Gegenwart. sind in ihrem Auftreten aber nicht ganz so konsequent wie The Pipettes. Müssen sie aber auch gar nicht, denn es gelingt ihnen mit ihren vierzehn Songs spielend, die Uhr zurückzudrehen und die guten, alten Zeiten wiederzubeleben. Solche Experimente können selbstredend sehr easy in die Hose gehen, die Berliner/-innen hingegen wirken jederzeit authentisch und man kann sie sich mit ihrer von Northern Soul inspirierten Musik bestens in den Swinging Sixties vorstellen. Eine ganz, ganz tolle positive Überraschung, die ich mir - aber das nur am Rande - auch bestens im Radio vorstellen kann!


Pabst
(ms) Kleine Zeit- und Ortsreise. Klar, man kann ja durch die Gegend düsen, aber halt nichts Außergewöhnliches erleben. Daher ist die Reise im Kopf in jedem Fall ein probates Mittel und kein Eso-Quatsch! Also ab, ein paar Jahre zurück und nach Bochum. Mitten ins Herz des Ruhrgebiets. Grund des Ausflugs war ein Konzert von Drangsal (saustark!). Wir sind so da gewesen, dass gerade noch die Vorband spielte. Das waren Pabst. Super Name. Mächtiger Auftritt. Da stranden 'nur' drei Typen auf der Bühne und haben mit einem wilden, energiegeladenen Sound beinahe die Decke zum Einstürzen gebracht. Doch ich war kurz davor, sie irgendwie scheiße zu finden. Aber das oft nicht in Worte zu fassende in der Musik hat mich gepackt und ich blieb staunend zurück; mit dem ersten Dröhnen auf den Ohren des Abends. Das kann man sich bald auch zu Hause geben. Denn am 19. Juni erscheint ihr zweites Album Deuce Ex Machina und es ist vielseitig. So wie die drei bislang ausgekoppelten Tracks. Diese Woche kam Hell hinzu. Frohe Botschaften hagelt es nicht unbedingt. Aber einen extrem satten, temporeichen Sound! Das wirklich Überzeugende des Trios ist die nicht vorhandene Attitüde (sonst würden sie 'Die Pabst' oder 'Der Pabst' heißen). Tatsächlich macht dieser Klang, dieser Charakter der Band Hoffnung, dass da was Großes auf uns zu kommt im Juni! Wir werden berichten!



Juse Ju
(sb) So, Leute, Stift gezückt und Termin markiert: 19.06.2020! Da erscheint nämlich das neue Album von Juse Ju, das auf den Namen Millennium hören wird. Hurra! Aber noch nicht genug der Freude, denn es gibt nicht nur ein neues Soloalbum, sondern darüber hinaus hat Juse noch seine alte Band Massig Jiggs wiedervereint. Und siehe da: Dabei ist das Kollabo-Bonus-Album "Popbizenemy" entstanden, das ebenfalls veröffentlicht wird. Wenn das kein Grund zur Freude ist! Mit Shibuya Crossing hat Juse 2018 die Messlatte ja schon verdammt hoch gelegt, die erste neue Single TNT lässt aber auf einen neuen Geniestreich hoffen...