Donnerstag, 30. September 2021

Vlimmer - Nebenkörper

Quelle: blackjackilluministrecords.bandcamp.com

(ms) Dieses Album wird nicht häufig bei mir daheim laufen, aber es ist ziemlich gut. Diese Diskrepanz möchte ich versuchen zu erläutern, was gar nicht mal so einfach ist.

Fangen wir also bei den äußeren Gegebenheiten an. Der Titel lässt einige Assoziationen zu. Meine erste war die des Alter Ego. Eine Parallelidentität, die in einem gewissen, abgesteckten Raum ausgelebt wird. Kunst eignet sich besonders gut, um Seiten auszuleben, die im Alltag nicht den passenden Platz finden. Das kann musikalisch oder auch charakterlich sein. Einen Wesenszug ausleben, der raus will, sich spürbar aufdrängt und eigentlich nur noch den richtigen Kanal braucht. Und dann ist er frei. Dann kann er leben. Die Person dahinter muss sich nicht mehr verstellen, hat endlich die Möglichkeit, sich fallen zu lassen und wirklich frei sein. Was für eine enorme Erleichterung! Eine gewisse Entrückung geht damit einher. Das lässt sich auch auf einer mystisch-spirituellen Ebene ausbreiten, wenn die Seele - so es sie gibt - kurz den Körper verlässt, woanders agiert und später wieder zurück kehrt. Das könnte der Nebenkörper sein.

Tauchen wir weiter ein ins Werk von Vlimmer. Seit gut einem Jahr stehe ich mit Alex in Kontakt, dem Menschen hinter dieser Musik. Vlimmer ist eine von mehreren Bands, in denen er sich auslebt mit der größten Freiheit die es gibt: Er ist auf Blackjack Illuminist Records sein eigener Labelchef.
Zuerst dachte ich, dass er Dark Wave spielt. Ein Genre, das bei mir zu Hause so gut wie nie läuft. Nicht, weil ich es nicht mag. Mir fehlt eher der emotionale Zugang dazu; mir fällt es einfach schwer, mich in dieser Musik zu verlieren. Das heißt beileibe nicht, dass ich sie schlecht finde. Und genau das ist der Punkt: Wenn gleich zur Sprache kommt, dass Nebenkörper ein ziemlich starkes Album ist, das bei mir daheim nicht oft laufen wird, liegt es einfach an meinen Hörgewohnheiten.
Als ich mich nun in puncto Dark Wave ein bisschen schlau gemacht habe, muss ich feststellen, dass diese Genrebezeichnung nicht so ganz auf Vlimmer zutrifft. Dafür schwirrt mir phasenweise genau die Note an Industrial und 80er-Retro drin, die diese Musik viel größer und schwerer einzuordnen macht.

Nebenkörper ist sein erstes Album. Was an sich eine völlig verrückte Aussage ist. Denn: vorher hat er unter diesem Namen eine 18-teilige EP-Reihe veröffentlicht, in dem er ein selbstgeschriebenes Buch vertont hat. Was für ein irre kreativer Kopf!

Elf Tracks plus ein Intro macht in diesem Falle 39 Minuten Musik. Eine dunkle Welt, in die die Hörenden gestoßen werden. Obwohl... das ist nicht ganz korrekt. Es ist vielmehr eine Konfrontation, insbesondere für mich Einfallspinsel, der mit diesem Stil wenig Berührungspunkte hat.
Bevor es um die Musik geht, einige Worte zum Text. Denn der ist so gut wie nie zu verstehen. Alex hat seine Stimme derart krass verzerrt, dass es Aufmerksamkeit verlangt zu verstehen, manchmal ist es aber auch schlichtweg nicht möglich. Dabei lohnt sich ein Ausflug in die Zeilen. Nicht zwingend, weil sie von lyrischer Finesse brillieren, sondern weil sie den Albumtitel ausführen. Auf den meisten Stücken spielt er metaphorisch mit Schmerz, dem Heraustreten aus dem Körper, aus einem Rahmen, Distanz und Nähe werden ausgehandelt. Was ist echt? Welches Alter Ego dominiert gerade? Beinahe schizoide Passagen tun sich da auf. Doch auch unterhaltsame, beinahe witzige Verse verstecken sich auf diesem Klanggewitter!

Instrumental und Farbenmüde startet diese Platte. Danach bleibt auf Fensteraus unter einem nicht endenden, hämmernden Einschlagen von Schlagwerk auch wenig Stimme übrig, wenn allerhand verdichtete Synthieklänge zudem die Gehörgänge beengen. Dieses Album - hier vermute ich nur - ist ausschließlich mit elektronischen Elementen produziert worden, das kann keine Band einspielen, beziehungsweise, wenn echte Instrumente am Werk wären, klänge es in jedem Falle anders. Das Artifizielle verstärkt natürlich die soghafte Dunkelheit. Das Eintauchen über Kopfhörer verdichtet dieses Klangerlebnis komplett. Die Wände kommen auf Mutem näher, der Puls erhöht sich. Hier gibt es keine (musikalische) Hoffnung, es ist der absolute Abgrund. Hört man aufmerksam bei einem Track wie Restfall auf die Musik, wird klar, dass im Hintergrund eine große Hingabe an die düstere Seite der 80er Jahre verankert ist. Vielleicht ist dies auch das Stück, dem am besten zuzuhören ist und es steht für alle Lieder auf Nebenkörper: Kein einziges Lied weist einen Refrain auf. Alex bedient sich nicht dem klassischen Songwriting, was einige Lieder textlich etwas unrund macht, aber die große Kraft besitzt, eine größere Geschichte zu erzählen.
Die große, große Stärke dieses Werks liegt in seiner extremen Vielfältigkeit: Obwohl viele Passagen oder auch ganze Stücke mir den Atmen einschnüren durch diesen massiven Klang, so ist Meter unfassbar tanzbar - das war so nicht zu erwarten! Ja, hier lauert unterschwellig 80er-Depeche-Mode-Pop, darauf lege ich mich fest! Mannigfaltigkeit gibt es auch lyrisch neben den Aushandlungen über Persönlichkeit, Charakter, Selbst. So ist I.P.A. - der Titel verrät es ja - ein Lied über Bier. Humor ist Alex nicht zu nehmen - gefällt mir! Auch Kartenwarten scheint mir ein Stück zu sein, das einen anderen inhaltlichen Kosmos eröffnet. Nun lehne ich mich weit aus dem Fenster und bediene mich an der Freiheit der Interpretation: Wenn es ein Stück über Bier gibt, dann ist dies ein Lied über einen Spieleabend. Beweise man mir das Gegenteil!

Dieser etwas unrunde Text ist der beste Beweis, dass mir das komplette Versinken in Nebenkörper schwer fällt. Ja - es liegt an der grundsätzlichen Ausrichtung der Musik. Die Konfrontation übersteigt den Genuss, den ich hier ganz selten bis gar nicht finde (ein Stück wie Kron kann ich einfach nicht genießen). Live würde ich Vlimmer aber liebend gern erleben, weiß aber auch, dass das nicht von Alex' Seite aus geplant ist. Das wäre mit einer künstlerischen Tanz- und Lichtperformance sicherlich ein perfekter Anlass, um in eine dunkle, hoffnungslose Welt einzutauchen. Das ist Kunst.

Freitag, 24. September 2021

KW 38, 2021: Die luserlounge selektiert

Quelle: facebook.com/weinbar38
(sb/ms) Im realisierten Erwerbsleben nach den verschwenderischen Studierendendasein (körperlich und zeitlich in erster Linie), darf nun auch das ganze Geld verprasst werden. Einige Gespräche führte ich schon, die irgendwann diesen Satz verlauten ließen: "Lass uns mal ins Casino gehen und jeder haut gut Geld auf den Kopf!" Begeisterte Zustimmung folgte oft dieser komplett bescheuerten Idee. Ich stimmte auch zu. Möglicherweise war Bier im Spiel.
Diese Hochglanz Casinos à la James Bond sind viel zu weit weg für uns, alles Akzeptable wäre mir dann doch zu plump irgendwie und dann gibt es noch diese Kaschemmen, die mit zugeklebten Fenstern einige Straße der Innenstädte säumen. Das sind keine Orte, in denen die große Verschwendungseuphorie der Anfang-Dreißiger herrscht, sondern ein trauriges Paralleluniversum ohne Zeit und Gefühl.
Doch es gibt einen Moment am Tag, in dem dieses Universum auf unsere Realität stößt. Gegen sieben Uhr morgens fahre ich durch die Stadt, in der ich arbeite und eines der Casinos lüftet dann. Tür und Fenster stehen offen. Es ist also möglich, rein zu schauen. Und dann wurde es halt noch bitterer: Ein ganz furchtbar trauriger Ort blickt hinaus und wäre auch lieber unterwegs, als dort sein Dasein zu fristen. Klar, dass Menschen dort ihre Zeit vergeuden und auch ihr Geld, ist ein anderes Thema. Der Ort an sich macht mich fassungslos genug.

Die Fassung gewinne ich dann wieder beim Musikentdecken. Luserlounge. Casino Royale. Bitte!

Placebo
(ms) Komplett ergeben! Es gibt eine Hand voll Bands, von denen erwarte ich gar nichts mehr. Über Jahre bin ich von deren Musik derart eingenommen, dass ich alles abfeiere. Hinzu kommt, dass diese Gruppen auch gar nichts mehr beweisen müssen. Ganz oben stehen in dieser Rangliste Nada Surf, die ich einfach nur bewundere. Sie müssen niemandem mehr beweisen, wie gut sie sind, sie sind es einfach. Direkt dahinter reihen sich irgendwo Placebo ein. Seit Jahren bin ich total in Brian Molkos Stimme und deren Gitarrenstimmung verliebt. Komplett ergeben. Sie stehen ganz weit oben und müssen diesen Platz nicht mehr verteidigen. Vor acht Jahren erschien ihre letzte Platte Loud Like Love, die ein paar Perlen beinhaltet, aber nicht über die komplette Spielzeit überzeugt. Nicht so wie deren Alben für die Ewigkeit Without You I'm Nothing oder Sleeping With Ghosts. Seit letzter Woche ist nun wieder ein neuer Track zu hören: Beautiful James. Irre vorhersehbar und fürs Radio vollkommen in Ordnung. Ob Molko hier mit sexuellen Begierden spielt oder nicht, ist egal. Er sagt explizit dazu, dass alle Hörenden ihre eigene Geschichte im Lied finden sollen - eine wunderbare Idee. Die Hookline ist ohrwurmträchtig, ansonsten überzeugt mich das Stück nicht. Muss es aber auch gar nicht. Ich bin Placebo eh komplett ergeben!


The Damned Don't Cry
(ms) Das macht mich kirre! Ich komme einfach nicht drauf. Seitdem ich dieses Lied höre, weiß ich genau, dass mich das ganz, ganz stark an eine Band, an ein Stück erinnert, das circa vor fünfzehn Jahren recht regelmäßig bei mir lief. Aber ich kann es nicht greifen, das macht mich verrückt. The Damned Don't Cry sind Schuld an diesem nicht haltbaren Zustand zwischen meinen Ohren! Pah, dreist! Der Track heißt Disconnect Myself und besticht durch sein geringes Tempo und die langsam anziehende Dichte. Hinter der Band stehen Ingo Drescher (Cuba Missouri) und Carlos Ebelhäuser, der durch Blackmail und Scumbucket bekannt sein sollte. Im Herbst soll noch ihre erste EP Namens Doing, Making, Saying Things erscheinen. Ich bin sehr gespannt, ob es bei ruhigem Gitarrensound wie hier bleibt oder die Dynamik auf weiteren Stücken noch breiter, schneller, düsterer wird, wie beide es mit ihren anderen Bands praktizieren oder halt einen ganz neuen Weg einschlagen. Lassen wir uns überraschen!


Ryan Tennis
(ms) Musik kann unterschiedlich je nach Zeitpunkt des Hörens wirken. Würde ich eine Wette mit mir selbst abschließen, würde ich sagen, dass ich normalerweise nicht über das neue Lied von Ryan Tennis berichten würde, da es mir im Grunde genommen zu flach ist, mir fehlt der originelle Faktor. Alligator ist ein kurzweiliger Gute-Laune-Track mit einem sehr pfiffig gemachten Video, mehr aber in meinen Ohren nicht. Doch momentan gibt es hauptsächlich im Job eine Menge zu tun und die Schönen Seiten des Privatlebens werden in solchen Tagen immer kleiner, mitunter erscheinen sie nur noch am Abend. Alles vorhersehbar, daher okay, aber trotzdem schade. Nun kommt aber dieser Ryan Tennis daher und bringt so behände bedingungslos gute Laune ins Haus, dass ich das Lied laut stelle und just eine Runde durch die Wohnung tanze, die dringend mal wieder geputzt werden sollte. Der Singer/Songwriter mit dem Händchen für einen geschickten Bläsereinsatz bringt heute dieses Stück raus, das ich allen empfehle laut zu drehen, um für knapp fünf Minuten den ganzen anderen Scheiß zu vergessen. Nebenbei hat der Mann sehr schöne Haare und sein nächstes Album erscheint im Frühjahr!


Neonschwarz
(ms) Das schreibe ich nun nicht, um dieses Lied bestmöglich zu verkaufen, sondern weil ich wirklich davon überzeugt bin: Im Deutsch-Rap gibt es keine (!) vergleichbare Band mit Neonschwarz! Diese Behauptung kann ich auch belegen. Keine andere Rap-Kombo kann derart aufrecht und leichtfüßig ausgelassene Partystimmung neben knallharter Gesellschaftskritik vertonen! Das nicht aus Attitüde oder Wohlgefälligkeit, sondern weil sie komplett dahinter stehen, künstlerisch und persönlich! Wenn Spion Y, Johnny Mauser, Captain Gips und Marie Curry zuschlagen, ist immer eine Überraschung garantiert. Nach dem Partytrack Salto Mortale kommt nun wieder ein beeindruckendes zeitgeschichtliches Musikstück. Einzelfall ist genau der Track, der wie gemacht ist für diese Tage. Auch der komplett kranke Typ, der in dieser Tankstelle den Kassierer erschossen hat, ist kein Einzelfall. Zum Glück gab es aus derart niederträchtigen Gründen bislang kaum vergleichbare Taten, aber das Milieu aus dem er stammt, lässt dies sicherlich problemlos zu. Hinzu kommen entsetzliche Urteile für den dritten Weg (zum Glück kassiert) und immer noch eine nicht existierende Aufarbeitung des Verschwindens von massenhaft Munition aus Polizei- und Bundeswehrbeständen. Nein, nein, nein, das sind alles keine Einzelfälle. Dann lieber Solidarität mit Lina. Echt mal! Neonschwarz, hammerhart!


Alt-J
(ms) Ratlos sitze ich zu Hause auf dem Sofa und weiß nicht, was ich schreiben soll. Ich war kurz davor, gar nichts über dieses Lied zu schreiben, weil ich es so erstaunlich belanglos finde. Würde ich die Band nicht kennen, schriebe ich erst recht nichts darüber. Das Problem ist: Es geht hier um Alt-J. Und das ist halt nicht irgendeine Band. Zurecht sind sie sehr erfolgreich, weil sie einen beeindruckenden, eigenständigen Klang entwickelt haben. Nach recht langer Pause läuft momentan häufiger An Awesome Wave, dieses komplett irre Debut des Trios. Was für ein wahnsinniges Album mit einem nie dagewesenen Sound. Lange war ich sehr skeptisch, ob die diesen Klang auch live darbieten können, eine vertrauenswürdige Quelle antwortete komplett aus dem Häuschen: JA! Nun ist seit Mittwoch U & Me zu hören und ich bin etwas sprachlos, weil ich das Lied so unkreativ finde. Es kommt kein Twist, die Entwicklung des Liedes ist Minimal, kein Bruch, kaum Dynamik, sondern sehr stoisch. Kann auch Kunst sein, aber meine Erwartung an diese Band ist definitiv eine andere. Okay, kurz durchatmen. Ihr neues Album erscheint am 11. Februar und heißt The Dream. Könnte natürlich stark werden. Frech sind sie leider auch und gehen in den USA mit niemand geringerem als Portugal. The Man auf Tour.

 
Moses Pelham
(sb) Ob man seine Musik nun mag oder nicht, ist - na klar - Geschmackssache. Dass Moses Pelham jedoch eine fucking Legende ist, dürfte außer Frage stehen. Und nun hat es der Rödelheimer Rap-Pionier auch schriftlich: Laut GfK ist er der erste und einzige Rapper weltweit, der über fünf Dekaden hinweg in den Offiziellen Deutschen Charts vertreten war. Respekt und Gratulation! Mit seinem neuen Album Nostalgie Tape überzeugt der Altmeister überraschenderweise auch mich. Nicht von A bis Z, so ehrlich muss ich sein. Über weite Strecken haut der Frankfurter aber Banger raus, die ich ihm in der Form nicht zugetraut hatte. Neben Marteria ist auch die großartige Cora E. zu hören, der ich bereits in den 90ern an den Lippen hing. Favorit: Bleib Bitte.


Tocotronic
(ms) Dies wäre auch eine Band, die ich verteidigen würde. Doch mit diesem Stück nerven sie mich. Es ist zudem das zweite Video hier, in dem skatende Menschen zu sehen sind. Dass Jugend Ohne Gott Gegen Faschismus am Klimastreik-Tag veröffentlicht wurde, ist sicherlich auch kein Zufall. Das nervt nicht, das ist geschicktes Marketing. Was nervt, ist Folgendes: Das Lied hat den Anschein, als ob eine Rockgruppe, bestehend aus 50-jährigen Männern, die Anwälte der Jugend seien. Sind sie nicht. Früher wollten sie Teil einer Jugendbewegung sein. Damit haben Tocotronic heute aber gar nichts mehr zu tun. Sie sind die Feuilletonlieblinge und kaufen die mittelgroßen Hallen aus. Ihre in die Luft gereckte Faust nehme ich ihnen komplett ab, aber der Rest ist zu viel Getue. Zudem wird dieser lasche Text mit einem recht uninspirierten Sound garniert. Was ist da denn los gewesen bei Tocotronic? Zu gewollt? Zu bemüht? Zu unkreativ? Auf neue Musik von von Lowtzow und Co. habe ich mich richtig gefreut, es bleibt leider nichts anderes als eine mittelgroße Enttäuschung.

 
Roger Rekless
(sb) Er ist schon einer der Guten, der Roger Rekless. Nachdem er mit seinem Buch Ein Neger darf nicht neben mir sitzen völlig zurecht die Charts gestürmt hat, widmet er sich nun wieder der Musik. Natürlich legt er auch in seinem Kerngeschäft den Finger in die Wunde der Gesellschaft und wird nicht müde, Missstände anzuprangern und uns zu erinnern, dass alle Menschen gleich sind und auch dementsprechend behandelt werden sollen. Planspiel hat es dabei gar nicht nötig, auf fette Beats zu setzen. Der Star sind die Lyrics und David Mayonga, so der bürgerliche Name des Künstlers, ist ein Meister des Wortes. Hört rein, versteht, handelt.

 

Freitag, 17. September 2021

KW 37, 2021: Die luserlounge selektiert

Quelle: 37mmg.com
(ms) Hier in Niedersachsen durften wir bereits am vergangenen Sonntag in den Kommunen neu wählen, einige Stichwahlen stehen größeren Städten bevor, hier auch. Das dürfte sehr spannend werden! Es wird gleichzeitig zur Bundestagswahl stattfinden, die nächstes Wochenende über die Bühne geht. Wählen gehen - das ist klar.
Tatsächlich könnte es außerordentlich spannend werden, wenn abends hochgerechnet wird, ein recht offenes Spiel steht uns bevor. Logisch, dass die Trommeln gerührt werden und ihre Gesichter in jede Kamera blicken und die drauf los sabbeln. Vieles ist gut und berechtigt. Folgendes ist berechtigt, war aber vielleicht nicht so gut durchdacht. Wer die phantastischen 'Kinder fragen Rapper-Interviews von Pauline und Romeo kennt, weiß Bescheid. Ein Format von Late Night Berlin, in dem die Kids offensichtlich einen Knopf im Ohr haben und die Gäste in die Ecke drängen. Das hätte sich das Presse-Team von Armin Laschet vorher mal ansehen sollen. Vielleicht wär er dann besser nicht hingegangen. Dieses Video ist auf der einen Seite sehr unterhaltsam und auf der anderen natürlich unfassbar beschämend. Zum Einen muss klar gewesen sein, dass diese (!) Kinder nicht einfach Kinderfragen stellen. Zum Anderen kann der doch nicht solch irre patzige Antworten geben. Der soll und will Kanzler werden?! Was für eine wahnsitzige Idee.
Klar, man kann jetzt sagen, dass Scholz auch da war. Darum geht's aber nicht, liebe Whataboutism-Menschen! Laschet... Teddy is back!

Ende des kleinen politischen Ausflugs. Unsere Wahlempfehlung: die luserlounge! Weil wir es können!

Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys
(sb) Ja, wir verehren sie. Sehr sogar. Und wir haben Unmengen Amore für sie. Heute ist Zahltag und all die Liebe kommt zurück in Form der Single Quanto Costa. Die Herren vom schwäbischen Ufer des Gardasees kommen einfach so herrlich nonchalant rüber wie sonst niemand und der Charme von Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys ist ja schon seit Mitte der 80er weit über die Grenzen Italiens hinaus legendär. Große Gefühle, große Gesten!

 
Adrian Sutherland
(sb) Adrian Sutherland wuchs fernab der Großstädte in der Attawapiskat First Nation in Ontario, Kanada auf und konnte nicht zuletzt dadurch einen authentischen Einblick in die Nöte und Ängste der Indigenos gewinnen. Right Here, die erste Single aus seinem neuen Album When The Magic Hits (VÖ: heute) wurde im Juni veröffentlicht und hat mit ihrem Musikvideo, das aus 1600 Selfies besteht, landesweit Aufmerksamkeit erregt. Sutherland ist Sänger, Songwriter, Musiker, Schriftsteller, Redner, Fürsprecher und Unternehmer. Er ist außerdem Vater von vier Kindern, Großvater von vier Enkelkindern, Bewahrer traditionellen Wissens und ein angesehener kultureller Führer, der fließend Mushkegowuk Cree spricht. Als Musiker ist er im Folk zuhause und schafft es, den Hörer mit seinem neuen Album bestens zu unterhalten, ohne dabei oberflächlich oder monoton zu werden. Und das ist gerade in diesem Genre ganz schön schwierig...

 
Mini Trees
(sb) Ach Indie, Du kannst so schön sein, selbst wenn Du nicht unbedingt die Sonnenseiten des Lebens beleuchtest. Beispiel: Mini Trees. Das Soloprojekt von Songwriterin Lexi Vega glänzt mit poppigen Songs, die zum Mitsingen einladen, obwohl (oder weil?!) sie sich mit der kollektiven Angst vor der Ungewissheit des Lebens beschäftigen. Always in Motion (VÖ: heute!) schwankt zwischen Fragen und dem Wunsch nach Antworten - und der Erkenntnissen, dass das Nichwissen die einfachste Lösung darstellt. Kann unbefriedigend sein, muss aber nicht. Das Album jedenfalls macht Spaß und ist eine willkommene positive Überraschung.
 

School Of X
(sb) „Es geht um das Verlangen, aus der täglichen Routine und Langeweile auszubrechen, um das Verlangen nach Freiraum, Aufregung und größeren Gefühlen. Es ist eine Sehnsucht, die mich verführt und verfolgt und die manchmal einen Preis hat. Manchmal ist man am Ende ganz allein, weil man vom Licht geblendet wurde.“
So fasst Rasmus Littauer, das Gesicht zu School Of X, die Motivation für sein neues Album Dancing Through The Void zusammen. Das Ergebnis lässt sich hören. 11 Tracks, die sich im Gehörgang festsetzen und trotz des locker-leicht-elektronischen Auftretens durchaus Tiefgang haben. Für mich persönlich eine der größten Entdeckungen des laufenden Jahres - gerade weil ich mit derartiger Musik normalerweise nicht so viel anfangen kann. Das Album strotzt aber geradezu vor toller Kompositionen, catchy Melodien, fragiler Momente und überraschender Wendungen. Ganz stark!


Zahn
(ms) Klar, der Name ist großartig, aber die Musik mindestens genauso einfallsreich und pfiffig. Der große, große Vorteil instrumentaler Musik ist ja, dass ich mir dazu meinen eigenen Text, meine eigene Geschichte basteln kann und sie ist mir nicht zu nehmen. Oder ich kann mich einfach gedankenlos darin verlieren. Kommt manchmal echt auf die Spielart an, ob es ruhig, poppig, elektronisch oder gitarrenlastig zur Sache geht. Bei Zahn verschmelzen diese Möglichkeiten des Musikgenusses komplett. Am 20. August erschien ihr selbstbetiteltes Album und nun veröffentlichte das Trio eine Live-Aufnahme dreier Lieder, die darauf enthalten sind. Knapp eine viertel Stunde ist wundersam schleppender Gitarrenrock, Postrock, whatever zu genießen. Der besondere Zauber liegt darin, dass das Tempo so gering ist, das ist fast schon frech. Dieses wuchtige, dröhnende Traben ist jedoch keineswegs langweilig oder öde, sondern strahlt für sich. Anders kann ich das beschreiben. Diese Musik fasziniert mich, weil sie mutig und frei ist! Ab dafür:


Metronomy
(ms) Wenn es heißt 'XY bringt überraschend neue Musik raus', dann ist das leider häufig Schrott für die Verwertungsindustrie. Da hat vielleicht ein Label dann gesagt: "Macht mal ein bisschen, das hauen wir dann über Nacht raus, super Surprise, super gut, spielt super Geld ein." Ein großes Glück, dass Metronomy solch eine Herangehensweise völlig egal ist. Klar, sie haben sich einen Rang erspielt, aber auf das ganz große, kalkulierende Geschäft sind sie mit Posse EP Vol 1 sicherlich nicht aus. Diese fünf Lieder sind eine extrem kreative, mutige Zusammenstellung von Musik, die sich weit über dem Bandtellerrand findet. Metronomy selbst sind auf den Songs gar nicht so recht zu hören oder wahrzunehmen. Vielmehr hat sich der Kopf der Band, Joe Mount, gedacht: "Hey, gerade läuft ja gar nicht so viel, ich bastel mal an ein paar Ideen und schicke sie dann MusikerInnen, die mir mit ihrem Gesang die Nummer komplettieren." Gesagt - getan! Das Ergebnis hört sich an wie ein extrem rundes Mixtape mit klanglich-rotem Faden! Mount kannte nicht mal alle KünstlerInnen vorher, umso besser, weil unvoreingenommen. Es geht poppig, rappig, beinahe soulig zu auf den Tracks! Super kreativ, super gut, super hörbar!


Dope Lemon
(ms) Dass sich solch opulente Musikvideos heute noch irgendwie lohnen, finde ich super. Oder zumindest, dass sie gedreht werden. Vielleicht war das Abfackeln eines Maisfeldes gar nicht so teuer, aber die Bilder kommen ziemlich gut an bei mir! Das ist das erste Ungewohnte. Das Zweite folgt im Klang. Dope Lemon, das Alter Ego von Angus Stone, ist bekannt für seine zurückgelehnte Kiffermukke. Klar, entspannt geht es hier auch zu, aber mit einem ganz neuen Gewandt. Klammert man kurz das sehenswerte Video zu Stringray Pete aus, könnte der Track fast auch von den Gorillaz kommen, so abgefuckt entspannt und groovig ist das! Hach, das gefällt mir aber sehr! Gut, dass am 17. November das neue Album des Australiers kommt: Rose Pink Cadillac könnte ein ziemlich facettenreiches Ding werden! 

Dienstag, 14. September 2021

Mehr auf Konzerte oder: Ronja Maltzahn live in Oldenburg

Foto: Angela von Brill

(ms) Nicht ein Lied habe ich vorher gehört. Der Name war mir unbekannt und in der Location war ich vorher auch noch nie. Im Endeffekt denke ich, dass genau diese Mischung die Verlockung des Besuchs so groß gemacht hat.
Lange, lange Zeit bin ich sehr gut vorbereitet auf Konzerte gegangen. Die Hauptacts kannte ich ja eh, aber auch die Vorgruppen habe ich recherchiert und mir möglichst viel angehört. Warum ich das getan habe, weiß ich nicht mal genau. Vielleicht wollte ich meinen Nerd-Status aufpolieren oder möglicherweise auch gar nicht überrascht werden. Was für eine dumme Idee.
Voll aufgeladen bin ich am Sonntagabend nach Hause gefahren, nachdem ich Ronja Maltzahn mit ihrem Blue Bird Trio im Wilhelm13 gesehen habe, einem kleinen, feinen Jazz-Schuppen in Oldenburg. Nein, Maltzahn macht keinen Jazz, ihr aktuelles Album hat sie #worldpop genannt und sollte damit mehr als richtig liegen. Es war ein phantastisches Konzert, sehr rund, nah, frei!
Die Wochen momentan sind sehr voll - war absehbar und ist okay. Daher halte ich mir die Wochenenden frei für Langsamkeit und Schönes. Gerne wollte ich in der Stadt auf ein Konzert, wo ich gerade mal ein Jahr wohne und die ich C. sei Dank noch gar nicht soo gut kenne. Das Wilhelm13 scheint eine sehr gute Adresse für Jazz und Außergewöhnliches zu sein. Aufgesucht, nachgeschaut, hängen geblieben. Was mir so gefiel, ist die Beschreibung von Maltzahns Musik, so zart, klug, offen!
Also hin! Klar! Mehr Sachen machen! Keine Erwartungen haben, nur überrascht werden und glücklich nach Hause fahren. Geht es nicht darum bei einem Konzertbesuch? Ist es nicht das wohlige Gefühl, der leere, glückliche Kopf, die Zeit im Hier und Jetzt - auch wenn sich das jetzt nach allen Regeln der Kunst kitschig anhören mag, so ist es doch auch wahr! Immer öfter lese ich die Formulierung 'Raus aus der Komfortzone' und finde sie so unheimlich bescheuert! Was soll das? Ich verstehe es nicht, will es nicht verstehen. Erstens ist Komfort sehr gut und gemütlich, zweitens muss ich mich nicht ständig mit all möglichem Kram konfrontieren, drittens würde ich es lieber 'Überraschung' nennen, darin liegt mehr positiv Unerwartetes.
Genauso war der Abend mit dem Blue Bird Trio. Ronja komponiert, singt, spielt Gitarre, Cello, alles. Mit dabei war Lexy, die zwischen elektronischen Spielereien, Geige und Saxophon pendelte und Federico, der nicht nur Bass und Cajon, sondern auch Hang gespielt halt. Dieses wundersame Instrument aus einer anderen Welt mit einem überragenden, warmen, zauberhaften Klang. Lieder voller Traumlandschaften, Reisen durch phantastische Welten und Zeilen aus ihrem Leben, die ganz nah ans Herz gehen.
Das war wunderschön, das tat sehr gut!

Also: Mehr Überraschungen! Mehr auf Konzerte gehen. Spontan. Einfach machen.

Freitag, 10. September 2021

KW 36, 2021: Die luserlounge selektiert

Quelle: ponderings.com.au
 (sb/ms) Die Gegend hier ist dicht bebaut, besonders schön sind die drei, vier Straßen hier nicht. Bizarr ist diese Bemerkung erst, wenn ich nach der Arbeit, am Wochenende oder gerne abends auf dem Balkon sitze: dann ist es ziemlich still. Da frage ich mich schon, wo die ganzen Leute sind. Auf den anderen Balkonen nicht. Ich hoffe, sie sind unterwegs und kleben nicht vor der Glotze. Unergründliches Menschenherz.
Wenn ich auf dem Balkon sitze, sehe ich die Garagenzeilen von nebenan. Direkt dahinter geht ein Eingang in eine Reihenhausreihe. Vor der ersten Garage sitzt sehr häufig ein Mann, der dort hinter wohnt. Er sitzt oft wirklich einfach nur draußen vor seiner Garage rum und es passiert nichts. Manchmal steht er langsam auf, öffnet das Tor, holt einen Besen hervor und fedelt Laub auf die Straße. Recht behäbig, aber auch entspannt. Dass er so oft da sitzt und so wenig macht, fand ich lange Zeit irgendwie seltsam. Zunehmend beobachte ich jedoch, dass er mit sehr vielen Passanten ins Gespräch kommt, er kennt sie alle hier. Und sie scheinen gerne auf einen kleinen Schwatz vorbei zu schauen. Mit dieser Erkenntnis drehte sich mein Bild von ihm. Finde ich gut. Einfach mal den Mut haben, mit Menschen zu sprechen, die auch hier wohnen. Guter Typ.

Mit der Nachbarschaft ins Gespräch kommen geht auch, wenn die Musik sehr laut ist. Dafür sind wir da.

Und De Scheenen Hoa
(ms) Das tut mir jetzt wirklich leid und ich meine es ernst. Denn Musik ist mir echt ein heiliges Thema. Ich widme ihr sehr gerne einen beachtlichen Teil meiner Zeit, lass mich verführen und verzaubern. Mir fehlt einfach gerade die absolute Entspannung, um mich vollkommen auf den Text von Und De Scheenen Hoa einzulassen. Wenn ich mich anstrenge, würde ich es wohl verstehen, denke ich. Genau das ist das Problem, gewissermaßen. Aufgewachsen bin ich in einer Gegend, in der ziemliches Hochdeutsch gesprochen wird, wohnen tue ich nicht unweit der Nordsee. Da ist es vielleicht nicht unerstaunlich, dass mir der Zugang zum Mostviertler Dialekt fehlt. Aus der Wiener Josefstadt kommt das Trio, das sich Und De Scheenen Hoa nennt und letzte Woche ihr erstes Album Immer Wieder Neu veröffentlicht hat. Acht Lieder, eine halbe Stunde zwischen sanftem Akustikpop (mit Kontrabass!!!) und Mundart. Sie drehen sich um die Liebe, was aus dem morbiden Österreich eine gute Nachricht ist (gestern erst einen Band von Josef Winkler zu Ende gelesen...). Die musikalischen Miniaturen drehen sich um Zuneigung unabhängig vom Geschlecht, in Dialogform verfasst, was den besonderen Reiz ausmacht und ein genaueres Hinhören und Genießen schon verlangt. Es tut mir leid, dass ich dem hier nicht gerecht werden kann. Ergo: Auftrag an alle Lesenden!
 
 
Leyya
(sb) Bleiben wir in Österreich und leiten gekonnt über mit dem Satz: Scheiße, der Sommer ist vorbei! Dabei hätte Longest Day Of My Life die Scheibe des Sommers sein werden können, wäre sie nicht erst am 27.08. erschienen. Allerdings trügt der elektronisch-luftige Schein gewaltig, denn hinter der Fassade verbirgt sich die musikalische Therapie von Bandmitglied Sophie Lindinger. Depression - in der Gesellschaft immer noch viel zu tabuisiert. Für die Musikerin der schmerzliche Alltag, der sie verfolgte und verzweifeln ließ. Der die Kreativität killte. Der alles andere in den Hintergrund drängte. Der aus einem geplanten Album eine EP werden ließ. Ende August verabschiedeten sich Leyya auf unbestimmte Zeit von den Bühnen dieser Welt und bestehen vorerst als reine Studioband weiter. Hoffen wir, dass es Lindinger und ihrem musikalischen Pendant Maarco Kleebauer gelingt, sich aus den Fesseln der Krankheit zu lösen. Auf ihrer aktuellen EP legen sie jedenfalls sechs klasse Songs vor, die die durchlebte Phase der vergangenen zwei Jahre eindrucksvoll dokumentiert. Ganz stark!

 
Kraków Loves Adana
(ms) Musikalischer Mut. Das ist hier vielleicht genau das richtige Stichwort, weil es auf mehreren Ebenen auf diesen Track, diese Band, dieses Album zutreffen wird. Nun gut, von der letzten Behauptung müssen wir uns ab dem 12. November überzeugen lassen, wenn Follow The Voice des Hamburger Duos Kraków Loves Adana erscheint. Und ihre sechste Platte zeugt mal wieder von einer klanglichen Neupositionierung. Zum Einen ist es mutig den Text des gleichnamigen Tracks genau so knapp zu lassen, wie er ist. Er muss genau so sein, braucht keine Ausformulierung. Es ist alles gesagt. Das muss man erstmal schaffen. Zudem ist der Sound mutig, der sich wenig ändert, gewissermaßen stoisch bleibt ohne je lethargisch zu werden. Respekt. Ich denke, dass dieses Stück erst dadurch seine Form gewinnt, greifbar und schön wird. Eine zarte Melancholie schwebt im Hintergrund, über die Deniz Cicek sich gekonnt hinwegsetzt. Die Tendenz geht zu mehr Retro, eine langsame, dichte Version von Sofia Portanet vielleicht gar. Oh, was freue ich mich auf das Album! Es könnte erneut schön werden. Schön dunkel.
 
 
Jan Plewka und die schwarz-rote Heilsarmee
(sb) Es gibt grottenschlechte Cover von Ton Steine Scherben, es gibt gelungene Remakes der Rio Reiser-Klassiker - und es gibt Jan Plewka. Als Sänger von Selig, Tempeau und Zinoba hat er es - auch in den Charts - nach oben geschafft, doch als Verkörperung des Königs von Deutschlands gelingt es dem Künstler, sich neu zu erfinden. Ein Hauch von Reinkarnation, möchte man fast sagen. Auf Wann Wenn Nicht Jetzt (CD/DVD, VÖ: 03.09.) schlüpft Plewka bereits zum zweiten Mal in die Rolle des legendären Songwriters und gibt zusammen mit der schwarz-roten Heilsarmee zahlreiche Songs Reisers zum Besten. Highlights: Wenn Die Nacht Am Tiefsten und Mein Name ist Mensch. So muss es damals gewesen. So und nicht anders. Ein größeres Lob kann man Jan Plewka wohl kaum aussprechen.

 
Víkingur Ólafsson
(sb) Was ist der Kerl nur für eine Maschine! Der isländische Pianist Víkingur Ólafsson veröffentlichte am 03.09. sein viertes Album innerhalb weniger Monate und hat sich diesmal Mozart & Contemporaries vorgenommen. Darauf vereint der Künstler neun Stücke des Komponisten mit ausgewählten Werken von CimarosaGaluppiC.P.E. Bach und Haydn. Zu hören ist Musik des späten achtzehnten Jahrhunderts, die Ólafsson gekonnt interpretiert und perfektioniert. Keine Frage: Technisch ist das einwandfrei, besser kann man das vermutlich nicht spielen. Und dennoch fehlt mir diesmal im Vergleich zu seinen anderen Werken ein wenig die Emotionalität. Das klingt extrem geschliffen, sehr (eventuell gar zu?) sauber und fast schon steril. Vielleicht kenne ich mich in der Klassik aber auch einfach zu wenig aus, um mir da wirklich ein Urteil erlauben zu dürfen...
 

Siberian Meat Grinder
(ms) Ich gebe es wirklich gerne zu. Würde diese Band anders heißen, hätte ich wahrscheinlich niemals auf den Link geklickt. So einfach bin ich zu kriegen. Was für ein bestialischer Name: Siberian Meat Grinder. Klar, da ist eine Menge Show mit verbunden, aber auch das finde ich super. Seit zwei Jahren will ich auch dringend mal zum Wrestling, aber gibt ja Gründe, warum das momentan schwierig ist. Schaut man durch die Videos der russischen Hardcore-Metal-Band mit Rap-ähnlichem Gesang, wird schnell klar, dass das Visuelle neben dem temporeichem Sound im Vordergrund steht. Der vermummte Sänger, die schnellen Schnitte der Bewegtbilder undundund. Egal, find ich gut. Im Januar gibt es dann das neue Album Join The Bear Cult der Kombo, das hier auch schon angeteasert wird. Klanglich ist darüber hinaus noch nichts Neues zu hören, aber das hier auf jeden Fall eine wuchtige Möglichkeit, sich ein Bild (haha) von der Band zu machen:
 

Spencer Cullum's Coin Collection
(ms) Der Vergleich zu Junip kommt mir persönlich schon ein bisschen zu schnell, daher lieber bedacht an diese Musik heran gehen. Eine ganz wichtige Voraussetzung für ihren Genuss ist hier wirkliche Ruhe und die innere Bereitschaft, sich drauf einzulassen. Nicht, weil es hörtechnisch besonders anspruchsvoll ist, sondern weil die Unaufgeregtheit des Klangs im Vorbeihören halt verschwinden kann und dann nicht mehr ihre Kraft ausstrahlt. Packend ist selbstredend die Querflöte ab der ersten Sekunde von Imminent Shadow, der ersten Single aus dem neuen Album von Spencer Cullum's Coin Collection (nebenbei große Liebe für den Namen!). Wahlheimat Nashville ist natürlich eine musikalische Ansage, aber das finde ich hier gar nicht so entscheidend. Viel mehr beeindruckt mich, dass dieses ruhige, leicht brüchige, zart melancholische Stück über weite Teile ohne Percussion auskommt, ein Kontrabass zu hören ist und die gezupfte Gitarre schlängelt sich bedächtig durch das Lied, während Cullum darüber singt oder viel mehr spricht. Außerdem kommt das Stück mit einem wirklich tollen Video daher. Am 24. September erscheint das der Band gleichnamige Album, auf dem es neben dieser Single mit all ihren Feinheiten mit Sicherheit noch viel mehr zu entdecken gibt!

Donnerstag, 9. September 2021

Yann Tiersen - Kerber

Foto: John Fisher

(ms) B. war letztens zu Besuch, wir tauschen uns viel über Musik aus. "Kenne ich nicht", sagte sie dann auf einmal. Ich war etwas verdutzt. Es war die Reaktion auf die Frage, worauf ich mich als nächstes freuen werde. "Yann Tiersen", war meine Antwort. Irgendwie habe ich - nicht nur bei B. - vorausgesetzt, dass der Name bekannt sei. Weit gefehlt in meiner eigenen kleinen, wabernden Blase. Für sein neues Album Kerber ist es auch ziemlich gut, wenn man Yann Tiersen gar nicht kennt. Die Assoziationen und Erwartungen könnten sonst irgendwo zwischen hoch, kitschig, schön romantisch und cineastisch sein. Lösung kommt unten, wer scrollt ist selber Schuld.
Sieben Stücke erstrecken sich auf einer guten dreiviertel Stunde. Wobei erstrecken das falsche Wort ist. Es impliziert, dass es sich dehnt, mitunter zäh und langweilig werden kann. Es sei garantiert, dass Langeweile hier nicht aufkommen wird. Traumhafte Sequenzen öffnen die Stücke. Beim Hören ist es leicht, in diesen Kosmos einzutauchen. Es könnten sechs Kapitel sein, oder eine große Geschichte - die Freiheit des Hörenden.

Alles, was so unter Neo-Klassik läuft, erlebt seit einigen Jahren einen ziemlich krassen Boom. Ich finde es toll, dass das möglich ist. Dass sich diese ruhige Musik ihr Feld sucht. Ob das jetzt alles kommerziell ausgeschlachtet wird, ist mir egal. Ja, vieles hört sich ähnlich an, wenn es still und zart ist. Doch die kleinen, feinen Nuancen sind es, die die Unterschiede entstehen lassen.
Auch bei Tiersen steht das Klavier im Vordergrund. Damit hat er jedes Stück angefangen zu komponieren. Das Schöne: Es blieb nie dabei. Ähnlich wie Ólafur Arnalds oder Martin Kohlstedt hat auch Yann Tiersen die anfänglichen Pianoparts auseinander geschnitten, wieder gesampelt, neu zusammen gesetzt, umgebaut, größer oder kleiner gemacht. Eine schöne, Legobaukasten-ähnliche Weise mit Klang zu experimentieren.
Natürlich, das Klavier bleibt auch im Vordergrund, es ist das bestimmende Instrument, auch wenn Tiersen in den Pressetexten das Gegenteil behauptet. Was für den Künstler auf diesem Album völlig neu ist, sind die elektronischen Spielereien, die er über, neben, auf die Tastentöne setzt. Einige geben dem Arrangement einen mechanischeren Klang, andere erzeugen futuristische Assoziationen, manche stören auf gute Art. Eine vielfältige, sehr hörenswerte Reise. 

Kerber klingt irgendwie hart, aber nur auf deutsch. Französisch müsste es 'kerbee' ausgesprochen werden. Es ist der Name einer kleinen Kapelle auf der Insel Ouessant, die vor Brest im Atlantik liegt, auf der der Künstler seit vielen Jahren lebt. Mit Kerlann beginnt das Werk ganz leicht, verträumt. Einzelne kleine Akkorde, die mit höheren Tönen garniert werden. Elektronisches Knistern gesellt sich dazu, als ob der Bildschirm flirrt. Es wäre jetzt verfehlt, zu behaupten, dass sich das Tempo steigert. Die Melodie wird ein ganz bisschen breiter, schlängelt sich aber in zarten, schönen, harmonischen Bahnen. Dieses Lied ist so unverschämt ruhig, dass es den gesamten Körper beim genussvollen Lauschen runterfahren lässt. Irgendwie orientalisch vom Titel her klingt Ar Maner Kozh. Ich weiß auch nicht was es bedeutet, interessiert mich auch nicht. Doch das leicht Pathetische, Romantische des französischen Wesens kommt ihr - meines Hörerachtens - zur Geltung. Die elektronischen Elemente dienen hier beinahe als Rhythmus. Da tritt das große Tasteninstrument merklich in den Hintergrund! Ein feines Spiel wird hier gespielt! Wirklich ruhig wird es nun auf Ker Yegu. Da könnte Tiersen fast mit Martin Kohlstedt zusammen gearbeitet haben. Irgendwo las ich, wie Klaviermusik gehört werden kann. Das Ohr konzentriert sich wohl automatisch auf die rechte Hand mit den hohen Tönen, sie strahlen auch auf diesem Stück. Die linke Hand jedoch bleibt vollkommen entspannt, mantrahaft spielt sie ihre Akkorde und sorgt für eine gelöste Grundatmosphäre. Mal den Fokus verschieben.
Das titelgebende Stück hat nun mit zehn Minuten und vierzig Sekunden die längste Spielzeit. Es entwickelt sich bedächtig aber mit klarer Kontur, nach zwei Minuten startet schon eine fühlbare Dramatik, eine schöne Unruhe. Die Dauer, aber auch das Arrangement zeigen hier recht eindrucksvoll, dass Tiersen ein Soundtrackkomponist der ersten Reihe ist: Hektische Bilder schwirren durch den Kopf, steigern das Tempo, nehmen es wieder raus, schwanken zwischen zarter Hoffnung und auflodernder Melancholie.

Eintauchen in Musik. Das liebe ich wirklich. Das macht dieses Album sehr leicht. Gerne höre ich mir diese Neo-Klassik an (wir brauchen dringend ein neues Wort dafür!), schließe die Augen, lasse mich entführen. Ehrlicherweise höre ich es auch nicht so oft. Es ist ein Typ von Musik, das Ruhe und vor allem Zeit braucht. Diese 48 Minuten sind ein starker Ausflug mit zahlreichen zu entdeckenden Details!

PS: Er komponierte den Soundtrack zu Goodbye Lenin und vor allem Die Fabelhafte Welt der Amelie.

Freitag, 3. September 2021

KW 35, 2021: Die luserlounge selektiert

Quelle: apotheken-umschau.de
(sb/ms) Der Urlaub ist vorbei und ich bin so derart entspannt, ausgeglichen und ausgeruht, dass mir nichts Berichtenswertes für hier einfällt. Politik wäre natürlich das Thema der Stunde mit einem immer noch recht zähen, öden Wahlkampf. Wie leicht wäre es, dass ich mich nun über diverse Plakatierungen in den Städten aufrege. Nö. Auch der Bahnstreik wäre ein gutes Thema. Arbeitskampf ist wichtig, egal, was Herrn Weselsky vorgeworfen wird. Finde ich gut. Bin auch unmittelbar betroffen, aber das will ich nicht auseinander dröseln, dafür ruht das Hirn viel zu sehr in diesem Kopf. Afghanistan ist mir als Laie viel zu komplex. Natürlich wurden da Fehler ohne Ende gemacht. Vor 40 Jahren, vor zwanzig Jahren, vor zehn, fünf und vor wenigen Wochen, Tagen, Stunden. Unermessliche Schicksale. Aber eine Sache stößt mir da doch echt bitter auf. Ein paar Berichte über die sogenannten Ortskräfte sah ich, die nichts als enttäuscht und verzweifelt sind und - noch viel schlimmer - Angst um ihr Leben haben, da sie deutschen Militärs geholfen haben. Die helfen nämlich gerade im Rückzug nicht. Allein das schockiert mich. Es ist eine offizielle Mitteilung, dass dem Staat diese Menschen vollkommen egal sind. Ob sie leben oder nicht. Ist denen egal. Das zu tippen tut ja schon unheimlich weh. Ich wünsche mir, dass alle Entscheidungstragenden schlecht schlafen. Ich ruhe weiter in mir und rege mich kommende Woche wieder auf.

Jetzt wird erstmal gelauscht. Gelust. Daher kommt das Wort. Viele fragen. Wir Antworten. Service!

Ásgeir
(ms) Runde Kunst ist die, die sich gekonnt von vielen Seiten gleichermaßen überzeugend zeigt. Sie kann hier laut, da leise, dort hell, drüben dunkel sein, doch der Ausgangspunkt ist immer der gleiche. Wenn das kreative Zentrum so harmonisch ist, dass es all diese Ausdrucksformen kennt und umzusetzen weiß, ist es nah dran, mich schnell zu überzeugen, da ist das Genre ganz egal. Ásgeir hat dies geschafft. Und zwar ziemlich gut. Bevor ich ihn letztes Jahr in Hamburg sah, war ich überzeugt, dass ich noch nie live erlebt hätte. Tja, vertan. Also: zwar erst zwei Mal live gesehen, aber ganz stark hängen geblieben. Denn er schafft es ganz herausragend, auf den Alben leise, zart, beinahe zerbrechlich zu sein in seinen feinen Arrangements und Atmosphären und live doch recht eindrucksvoll, ja, laut aufzutreten, ohne das beides sich widerspricht. Das ist Kunst für mich. Nun zeigt der Musiker, dass es auch akustisch geht, ohne das ganz große Brimborium. Und dass es trotzdem/deswegen immer noch so, so, so gut klingt. Nähe entsteht in den vier Liedern auf The Sky Is Painted Grey Today auf enorme Weise (dringender Tipp dies über Kopfhörer zu lauschen!). Auf den vier Stücken zeigt sich Ásgeir (der übrigens 'Ausgier' ausgesprochen wird) von einer ganz neuen, sehr lyrischen Seite. Ob alle Stücke autobiographisch sind, weiß ich nicht, ist auch egal. Sunday Drive ist es, zerbrechlich zudem. Wenn die Saiten auf der Akustikgitarre auf dieser EP erklingen, strömt Wärme und starke Emotion hinaus. Ja, auch Melancholie. Aber nicht die, die runterzieht, sondern die, die irgendwo noch ein helles Licht zeigt und dann bin ich angefixt. Das ist Kunst.

Vlimmer
(ms) Eine digitale Doppelsingle. Wusste ich vorher gar nicht, dass es das gibt. Als 7" wäre das sicherlich auch geil! Die Tracks im Internet kann ich halt nicht wenden. Muss ich aber auch gar nicht, da der physische Akt auch immer Pause bedeutet. Das kann den Vorteil haben, das Gehörte tiefer wirken zu lassen. Das direkte Aufeinanderhören bietet mehr Dichte, Nähe, das Gesamterlebnis. Das hat Alex Donat mit seinem Projekt Vlimmer erneut realisiert. Bevor in drei Wochen das erste richtige Album (Nebenkörper, 24. September) erscheinen wird, sind seit Kurzem zwei weitere Stücke zu hören: Meter und Kartenwarten. Sie zeigen eindrucksvoll, wie vielseitig er seinen Sound aufstellt. War die vorherige Auskopplung ein brachialer, positiver Anschlag aufs Nervensystem, haben diese beiden Lieder beinahe heilende Wirkung. Meter ist so dunkel, tanzbar und dynamisch, wie man es mittlerweile gewohnt ist. Kartenwarten hingegen schlägt einen ganz neuen Klang auf; beinahe andächtig, leicht melancholisch, auch vom Tempo her zurückgenommener. Ich gestehe, dass ich bei Vlimmer wenig auf den Text höre, da mich die Atmosphäre viel stärker interessiert. Doch Alex' Wortneuschöpfungen und sein lyrisches Können wird hier (erneut) hörbar. Drei Wochen noch...

Blaudzun
(ms) Immer öfter erwische ich mich dabei, wie ich mich über Veröffentlichungsstrategien aufrege oder zumindest verständnislos zurück bleibe. Beispiel: Blaudzun. Im Januar kommenden Jahres veröffentlicht der Musiker sein neues Album Lonely City Exit Wounds und seit heute sind schon drei Singles ausgekoppelt! Erste und einzige Frage: Warum? Mit dem Nachtrag: Streamingklicks generieren oder traut man den Menschen nicht mehr zu, sich auf eine ganze Platte einzulassen? Naja! Vorerst egal. Closer heißt das Stück, das heute erscheint. Zugegebenermaßen überzeugt es mich stimmlich gar nicht so sehr, aber das Arrangement finde ich für einen Indiepoptrack doch ziemlich gut. Das liegt vor allem an den Streicherparts, die eine gute Dramatik in das Lied bringen. Inhaltlich stellt er eine ziemlich gute Frage, die ich lange im abgegriffenen Paolo Coelho-Kosmos verortet habe: Wer bin ich und wer will ich eigentlich sein? Nein, kitschig ist diese Frage nicht, viel eher wichtig. Vielleicht braucht es eine gewisse Entwicklung, um zu dieser Einsicht zu gelangen. Dem würde der Holländer sicher zustimmen. Text und Arrangement schlägt also Gesang. 

Alicia Edelweiss
(ms) Letztes Jahr habe ich mir ein paar teure Sneaker gekauft. Ich hatte einfach Bock drauf. Und sie sehen auch ziemlich gut aus. Nur schmutzig werden dürfen sie nicht. Erklärt sich irgendwie von selbst, oder? Während dem bestimmt eher impulsiv als begründet viele Menschen zustimmen würden, wehrt sich Alicia Edelweiss mit Hand und Fuß und Haut und Haar dagegen, sauber zu sein! Sie bleibt Kind und ist daher nur zu beneiden. Endlich wieder dreckig sein und sich auf dem Boden wälzen und bloß keine frische Wäsche anziehen, das muss alles genauso so sein und bitte auch so bleiben! Logischerweise heißt Dreck ihr neuster Streich! Wobei eher das Video neu ist, das total verrückte, aber leider auch irre sympathische Stück führt sie schon länger live auf. Edelweiss ist nicht nur visuell auffällig, sondern auch musikalisch: Hier muss sich nichts reimen (wozu auch, Dreck reimt sich auch nicht!), sie schreit und suhlt sich zum Akkordeonklang. Erster Gedanke: Die hat ganz schön einen an der Klatsche. Zweiter Gedanke: Das ist halt auch Kunst. Dritter Gedanke: Das ist verdammt gut. Vierter Gedanke: Nachdem sie nicht mehr Teil der Voodoo Jürgens-Band ist, stehen die Zeichen bestimmt auch gut, sie öfter in Ekstase live zu sehen! Dreckig natürlich!

Fragments
(ms) Letztens sah ich in einer Spiele-Show folgende Idee: Das Logo einer Firma oder irgendeines Unternehmens dargestellt ohne den jeweiligen Schriftzug, nur die Form mit der passenden Farbe. Wäre es ein rechteckiger, fein verzierter, in üppigem gelb leuchtender Rahmen gewesen, wüsste ich sofort, dass es sich um Deutsche Grammophon handelt. So sehr hat mich eine kleine Kassettenbox aus der Kindheit geprägt. Darin waren vier Kassetten unter dem Namen 'Klassik für Kinder'. Das Label, das ich immer als sehr verstaubt und bieder in Erinnerung hatte, ändert seine Strategie seit einigen Jahren, konzentriert sich bei weitem nicht mehr nur auf reine klassische Musik, sondern geht darüber hinaus. Bestes Beispiel, das doch irgendwie im eigenen Kosmos stattfindet, ist Single-Projekt unter dem Namen Fragments. Grundlage ist das Werk des kreativen Erik Satie, der um das Jahr 1900 wirkte, seine Einflüsse sind immens! Das Label nahm sich vor, Vergangenheit und Gegenwart zu verbinden. Ein Stück von Satie aufbearbeitet und neu interpretiert von KünstlerInnen, die heute kreativ sind. 12 Stücke werden es sein, die nach und nach veröffentlicht werden. Den ersten Schritt geht das Duo Two Lanes, das eine - im wahrsten Sinne - traumhafte Klanglandschaft erzeugt hat. Was für ein wunderschönes, leichtes, bezauberndes Stück Musik ihnen gelungen ist. Klar, es heißt ja auch Danses De Travers! Elf weitere Singles folgen, die danach als Album zu genießen sein werden. Oh, bin ich neugierig!

Mittwoch, 1. September 2021

Bayuk - Exacty The Amount Of Steps From My Bed To Your Door

Foto: May Hartmann

(ms) Tausend Gründe und Möglichkeiten gibt es, auf neue Musik aufmerksam zu werden. Manche bekommt man im Nachhinein gar nicht mehr so richtig zusammen, vieles passiert automatisch. Bei Bayuk weiß ich es ganz genau und der Grund ist wahnsinnig profan, aber er macht genau den Unterschied. Vor gut drei Jahren schwirrte ich durch Facie und sah diesen Titel. Es war echt das Wort. Wäre es normal geschrieben, hätte ich wohl nicht drauf geklickt. Happiness klänge mir vielleicht genau das Stückchen zu platt und ein wenig kitschig. Haaappiiiiiiiiiiiiinneeeeezz hingegen knallt, ist laut, will gehört werden, springt mir ins Gesicht. Dass das Lied gar nicht so wild ist, war dann egal. Denn es strotzt vor purer Schönheit, hat brüchige Ästhetik und holte mich mit der Portion Melancholie ab, die ich lange nicht mehr gehört habe, die ich gar nicht mehr musikalisch suche und dennoch hat es mich gepackt. Es folgte für mich Old June, ließ mich sprachlos zurück. Dieser sanfte, so direkte Text in diesem unheimlich stimmigen Musikkorsett. Ich war baff. Schaute dann auf die Aufrufzahlen und konnte meinen Augen nicht glauben, dass sie so gering waren. Auch die Anzahl der Besucher bei seinem Gig auf dem Reeperbahn Festival 2018 war überschaubar. Doch dann ist etwas passiert. Mit diesem Sound habe ich echt nicht gerechnet. Ich sah nur fünf, sechs Stücke, doch die Intensität und Lautstärke haute mich um. Ebenso Rage Tapes, sein erstes Album.
Ein bisschen gesucht und recherchiert und gelesen, dass Bayuk (Magnus Hesse in echt) sich Ideen von Tobias Siebert (And The Golden Choir) und mighty, mighty Tobias Kuhn (Monta, Miles) holt. Das muss gut sein, das muss packen, es geht gar nicht anders. Festzuhalten bleibt: Bayuk weiß sehr gut, wie ein eigenständiger, kreativer Klang funktioniert, der irgendwo im Pop verortet ist, aber sehr kunstvoll ausgefüllt. Dann gelingt es ihm zudem so oft Zeilen genau in diesen Sound zu singen, die ohne Ende knallen. Bislang.

Vergangenen Freitag ist seine neue Platte auf Groenland Records erschienen und trägt den unfassbaren Titel Exacty The Amount Of Steps From My Bed To Your Door! Boom! Ist es echte Romantik oder Liebeskummer? Erneut habe ich mich in der bescheuerten Lage wiedergefunden: Oh, das muss genauso (gut) werden, wie der Vorgänger. Denkfehler: Ich wünsche mir das gleiche nochmal. Ist ja aber Quatsch, dann kann ich die vorhandene Platte ja direkt hören. Was ich aber schon erhoffe: Auf irgendeine Art nochmal so mitgerissen zu werden. Mit den ersten beiden Singles ist das noch nicht gelungen, egal. Eine Platte muss für mich als Ganzes funktionieren!

Als vorzuziehendes Fazit kann schon mal festgehalten werden, dass das Album nicht mehr so experimentell ist. Lieder wie Phantom Track oder Lions In Our Bedroom sind sowohl von der Länge als auch von ihrem mutigen, wunderschönen Arrangement nicht zu finden.
Was aber auch gar nicht schlimm ist. Denn ich kann es verstehen, dass Bayuk vielleicht etwas mehr gefallen will, etwas runder, leichter zugänglich sein möchte. Klar, wer möchte sich nicht eine gewisse Position erspielen?!
Knapp 40 Minuten dauert die Platte und beginnt mit herrlich schönem, schweren Klang. You Won ist der Beginn dieses Albums. Ein runder Sound, bei dem er leichte Verzerrungen in der Stimme fast als eigenes Instrument nutzt. Inhaltlich wird mit diesem Stück der Leitfaden, der Kanon der Platte festgezurrt. Ein persönlicher Blick zurück auf die Jugend, die vergangenen Jahre. 29 ist Bayuk, daher kann ich mich unfassbar mit diesem Schritt identifizieren, wenn das Erwachsenenleben so richtig da ist und so viel um einen herum sich bewegt, ändert, dann schaut man zurück. Er meint zu dieser Scheibe, dass er seine musikalisch-ästhetische Hülle des Erstlings abgelegt habe und nun eine klarere Perspektive möglich sei, auf sich selbst und seinen Klang. Fast ein zweites Debut also. Hörbar. 200 Miles ist beinahe folkpoppig, der biographische Anknüpfungspunkt vielfältig. Bei diesem Stück ist auch der private, melancholische Fokus ähnlich zu viel Indiepop aus den 00er Jahre, den auch Bayuk geprägt hat: Wo stehe ich mit dieser Beziehung, die gerade in die Brüche geht und was gebe ich dafür?

Ja, das brutal Experimentelle ist nicht mehr da, aber in den Zwischentönen zu hören. Das leichte Schwirren zu Beginn in Head Under Waves zum Beispiel. Musik dringt dann immer stärker ans Herz, wenn sie auch inhaltlich knallt. Dieser Song erwischt mich privat so heftig, dass ich ihm fast dankbar dafür sein muss. 
Als große Tobias Kuhn-Fans müssen wir natürlich etwas aufmerksamer bei Different hinhören, da das Lied als Feature mit Monta ausgezeichnet ist. Es beginn mit Radio/TV-Stimmen, leichte Synthie-Klänge, Akustikgitarre, Stimmung kommt. Wenn Kuhns Stimme einsetzt ist sofort das Bild von Aufbruch da: Voranschreiten trotz gebrochener Seele. Ein Stück gefüllt mit poppiger Dynamik, das gefällt sehr schnell und gut! Auch ein sattes Gitarrensolo muss dabei sein, herrlich nostalgisch im allerbesten Sinne!
Eine persönliche, subjektive Einschätzung von Musik kann ich nicht vermeiden (die Freiheit des Bloggenden). Das Thema Melancholie spielt auf diesem Album schon eine große Rolle. Ist inhaltlich ja auch irgendwie klar, wenn all die Schattierungen der Jugend und des Heranwachsens betrachtet werden, insbesondere auf emotionaler Ebene. Das ist etwas, das ich seit einiger Zeit musikalisch gar nicht mehr suche und brauche. Daher holt ein Stück wie Oslo mich nicht ab. Es bedrückt mich auf schöne Weise, aber das will ich eigentlich gar nicht, aber Skippen tu ich selbstredend auch nicht.
Gleiche Richtung und gleiches Argument bei Holiday Lights, Dear Paul oder Elephants. Überall gefallen mit die kleinen musikkreativen Spielereien, doch sie sind eher Garnitur statt Hauptgang. Glücklicherweise ist Supercoolkidsuniverse dann noch ein Track, der wieder nach vorne drängt, leicht, fast tanzbar ist!

Doch die wenigen Tracks, die klanglich strahlen, können ein recht andächtiges, lyrisch intensives Album für mich nicht in ein helles, begeistertes Licht rücken. Damit meine ich überhaupt nicht die Qualität. Das ist toll komponiert und produziert, sehr schön gemacht. Aber die - ich muss mich hier wiederholen - melancholischen Parts begeistern mich nicht. Sie packen mich nicht. Sie ziehen mich runter. Und aktuell möchte ich von Musik nicht runtergezogen werden. So bleibt das hier ein sehr subjektiver Einblick. Mit Sicherheit wird dieses Album bei vielen Ohren ankommen, da bin ich mir hundertprozentig sicher. Magnus wünsche ich es von Herzen! Wenn er bald wieder live spielen sollte, stehe ich selbstredend da. Das könnte nämlich wieder alles ganz anders klingen!
Und wer weiß... vielleicht wird Album Nr. 3 ja wieder eine Neuerfindung seiner selbst!