Quelle: blackjackilluministrecords.bandcamp.com |
(ms) Dieses Album wird nicht häufig bei mir daheim laufen, aber es ist ziemlich gut. Diese Diskrepanz möchte ich versuchen zu erläutern, was gar nicht mal so einfach ist.
Fangen wir also bei den äußeren Gegebenheiten an. Der Titel lässt einige Assoziationen zu. Meine erste war die des Alter Ego. Eine Parallelidentität, die in einem gewissen, abgesteckten Raum ausgelebt wird. Kunst eignet sich besonders gut, um Seiten auszuleben, die im Alltag nicht den passenden Platz finden. Das kann musikalisch oder auch charakterlich sein. Einen Wesenszug ausleben, der raus will, sich spürbar aufdrängt und eigentlich nur noch den richtigen Kanal braucht. Und dann ist er frei. Dann kann er leben. Die Person dahinter muss sich nicht mehr verstellen, hat endlich die Möglichkeit, sich fallen zu lassen und wirklich frei sein. Was für eine enorme Erleichterung! Eine gewisse Entrückung geht damit einher. Das lässt sich auch auf einer mystisch-spirituellen Ebene ausbreiten, wenn die Seele - so es sie gibt - kurz den Körper verlässt, woanders agiert und später wieder zurück kehrt. Das könnte der Nebenkörper sein.
Tauchen wir weiter ein ins Werk von Vlimmer. Seit gut einem Jahr stehe ich mit Alex in Kontakt, dem Menschen hinter dieser Musik. Vlimmer ist eine von mehreren Bands, in denen er sich auslebt mit der größten Freiheit die es gibt: Er ist auf Blackjack Illuminist Records sein eigener Labelchef.
Zuerst dachte ich, dass er Dark Wave spielt. Ein Genre, das bei mir zu Hause so gut wie nie läuft. Nicht, weil ich es nicht mag. Mir fehlt eher der emotionale Zugang dazu; mir fällt es einfach schwer, mich in dieser Musik zu verlieren. Das heißt beileibe nicht, dass ich sie schlecht finde. Und genau das ist der Punkt: Wenn gleich zur Sprache kommt, dass Nebenkörper ein ziemlich starkes Album ist, das bei mir daheim nicht oft laufen wird, liegt es einfach an meinen Hörgewohnheiten.
Als ich mich nun in puncto Dark Wave ein bisschen schlau gemacht habe, muss ich feststellen, dass diese Genrebezeichnung nicht so ganz auf Vlimmer zutrifft. Dafür schwirrt mir phasenweise genau die Note an Industrial und 80er-Retro drin, die diese Musik viel größer und schwerer einzuordnen macht.
Nebenkörper ist sein erstes Album. Was an sich eine völlig verrückte Aussage ist. Denn: vorher hat er unter diesem Namen eine 18-teilige EP-Reihe veröffentlicht, in dem er ein selbstgeschriebenes Buch vertont hat. Was für ein irre kreativer Kopf!
Elf Tracks plus ein Intro macht in diesem Falle 39 Minuten Musik. Eine dunkle Welt, in die die Hörenden gestoßen werden. Obwohl... das ist nicht ganz korrekt. Es ist vielmehr eine Konfrontation, insbesondere für mich Einfallspinsel, der mit diesem Stil wenig Berührungspunkte hat.
Bevor es um die Musik geht, einige Worte zum Text. Denn der ist so gut wie nie zu verstehen. Alex hat seine Stimme derart krass verzerrt, dass es Aufmerksamkeit verlangt zu verstehen, manchmal ist es aber auch schlichtweg nicht möglich. Dabei lohnt sich ein Ausflug in die Zeilen. Nicht zwingend, weil sie von lyrischer Finesse brillieren, sondern weil sie den Albumtitel ausführen. Auf den meisten Stücken spielt er metaphorisch mit Schmerz, dem Heraustreten aus dem Körper, aus einem Rahmen, Distanz und Nähe werden ausgehandelt. Was ist echt? Welches Alter Ego dominiert gerade? Beinahe schizoide Passagen tun sich da auf. Doch auch unterhaltsame, beinahe witzige Verse verstecken sich auf diesem Klanggewitter!
Instrumental und Farbenmüde startet diese Platte. Danach bleibt auf Fensteraus unter einem nicht endenden, hämmernden Einschlagen von Schlagwerk auch wenig Stimme übrig, wenn allerhand verdichtete Synthieklänge zudem die Gehörgänge beengen. Dieses Album - hier vermute ich nur - ist ausschließlich mit elektronischen Elementen produziert worden, das kann keine Band einspielen, beziehungsweise, wenn echte Instrumente am Werk wären, klänge es in jedem Falle anders. Das Artifizielle verstärkt natürlich die soghafte Dunkelheit. Das Eintauchen über Kopfhörer verdichtet dieses Klangerlebnis komplett. Die Wände kommen auf Mutem näher, der Puls erhöht sich. Hier gibt es keine (musikalische) Hoffnung, es ist der absolute Abgrund. Hört man aufmerksam bei einem Track wie Restfall auf die Musik, wird klar, dass im Hintergrund eine große Hingabe an die düstere Seite der 80er Jahre verankert ist. Vielleicht ist dies auch das Stück, dem am besten zuzuhören ist und es steht für alle Lieder auf Nebenkörper: Kein einziges Lied weist einen Refrain auf. Alex bedient sich nicht dem klassischen Songwriting, was einige Lieder textlich etwas unrund macht, aber die große Kraft besitzt, eine größere Geschichte zu erzählen.
Die große, große Stärke dieses Werks liegt in seiner extremen Vielfältigkeit: Obwohl viele Passagen oder auch ganze Stücke mir den Atmen einschnüren durch diesen massiven Klang, so ist Meter unfassbar tanzbar - das war so nicht zu erwarten! Ja, hier lauert unterschwellig 80er-Depeche-Mode-Pop, darauf lege ich mich fest! Mannigfaltigkeit gibt es auch lyrisch neben den Aushandlungen über Persönlichkeit, Charakter, Selbst. So ist I.P.A. - der Titel verrät es ja - ein Lied über Bier. Humor ist Alex nicht zu nehmen - gefällt mir! Auch Kartenwarten scheint mir ein Stück zu sein, das einen anderen inhaltlichen Kosmos eröffnet. Nun lehne ich mich weit aus dem Fenster und bediene mich an der Freiheit der Interpretation: Wenn es ein Stück über Bier gibt, dann ist dies ein Lied über einen Spieleabend. Beweise man mir das Gegenteil!
Dieser etwas unrunde Text ist der beste Beweis, dass mir das komplette Versinken in Nebenkörper schwer fällt. Ja - es liegt an der grundsätzlichen Ausrichtung der Musik. Die Konfrontation übersteigt den Genuss, den ich hier ganz selten bis gar nicht finde (ein Stück wie Kron kann ich einfach nicht genießen). Live würde ich Vlimmer aber liebend gern erleben, weiß aber auch, dass das nicht von Alex' Seite aus geplant ist. Das wäre mit einer künstlerischen Tanz- und Lichtperformance sicherlich ein perfekter Anlass, um in eine dunkle, hoffnungslose Welt einzutauchen. Das ist Kunst.