Freitag, 24. September 2021

KW 38, 2021: Die luserlounge selektiert

Quelle: facebook.com/weinbar38
(sb/ms) Im realisierten Erwerbsleben nach den verschwenderischen Studierendendasein (körperlich und zeitlich in erster Linie), darf nun auch das ganze Geld verprasst werden. Einige Gespräche führte ich schon, die irgendwann diesen Satz verlauten ließen: "Lass uns mal ins Casino gehen und jeder haut gut Geld auf den Kopf!" Begeisterte Zustimmung folgte oft dieser komplett bescheuerten Idee. Ich stimmte auch zu. Möglicherweise war Bier im Spiel.
Diese Hochglanz Casinos à la James Bond sind viel zu weit weg für uns, alles Akzeptable wäre mir dann doch zu plump irgendwie und dann gibt es noch diese Kaschemmen, die mit zugeklebten Fenstern einige Straße der Innenstädte säumen. Das sind keine Orte, in denen die große Verschwendungseuphorie der Anfang-Dreißiger herrscht, sondern ein trauriges Paralleluniversum ohne Zeit und Gefühl.
Doch es gibt einen Moment am Tag, in dem dieses Universum auf unsere Realität stößt. Gegen sieben Uhr morgens fahre ich durch die Stadt, in der ich arbeite und eines der Casinos lüftet dann. Tür und Fenster stehen offen. Es ist also möglich, rein zu schauen. Und dann wurde es halt noch bitterer: Ein ganz furchtbar trauriger Ort blickt hinaus und wäre auch lieber unterwegs, als dort sein Dasein zu fristen. Klar, dass Menschen dort ihre Zeit vergeuden und auch ihr Geld, ist ein anderes Thema. Der Ort an sich macht mich fassungslos genug.

Die Fassung gewinne ich dann wieder beim Musikentdecken. Luserlounge. Casino Royale. Bitte!

Placebo
(ms) Komplett ergeben! Es gibt eine Hand voll Bands, von denen erwarte ich gar nichts mehr. Über Jahre bin ich von deren Musik derart eingenommen, dass ich alles abfeiere. Hinzu kommt, dass diese Gruppen auch gar nichts mehr beweisen müssen. Ganz oben stehen in dieser Rangliste Nada Surf, die ich einfach nur bewundere. Sie müssen niemandem mehr beweisen, wie gut sie sind, sie sind es einfach. Direkt dahinter reihen sich irgendwo Placebo ein. Seit Jahren bin ich total in Brian Molkos Stimme und deren Gitarrenstimmung verliebt. Komplett ergeben. Sie stehen ganz weit oben und müssen diesen Platz nicht mehr verteidigen. Vor acht Jahren erschien ihre letzte Platte Loud Like Love, die ein paar Perlen beinhaltet, aber nicht über die komplette Spielzeit überzeugt. Nicht so wie deren Alben für die Ewigkeit Without You I'm Nothing oder Sleeping With Ghosts. Seit letzter Woche ist nun wieder ein neuer Track zu hören: Beautiful James. Irre vorhersehbar und fürs Radio vollkommen in Ordnung. Ob Molko hier mit sexuellen Begierden spielt oder nicht, ist egal. Er sagt explizit dazu, dass alle Hörenden ihre eigene Geschichte im Lied finden sollen - eine wunderbare Idee. Die Hookline ist ohrwurmträchtig, ansonsten überzeugt mich das Stück nicht. Muss es aber auch gar nicht. Ich bin Placebo eh komplett ergeben!


The Damned Don't Cry
(ms) Das macht mich kirre! Ich komme einfach nicht drauf. Seitdem ich dieses Lied höre, weiß ich genau, dass mich das ganz, ganz stark an eine Band, an ein Stück erinnert, das circa vor fünfzehn Jahren recht regelmäßig bei mir lief. Aber ich kann es nicht greifen, das macht mich verrückt. The Damned Don't Cry sind Schuld an diesem nicht haltbaren Zustand zwischen meinen Ohren! Pah, dreist! Der Track heißt Disconnect Myself und besticht durch sein geringes Tempo und die langsam anziehende Dichte. Hinter der Band stehen Ingo Drescher (Cuba Missouri) und Carlos Ebelhäuser, der durch Blackmail und Scumbucket bekannt sein sollte. Im Herbst soll noch ihre erste EP Namens Doing, Making, Saying Things erscheinen. Ich bin sehr gespannt, ob es bei ruhigem Gitarrensound wie hier bleibt oder die Dynamik auf weiteren Stücken noch breiter, schneller, düsterer wird, wie beide es mit ihren anderen Bands praktizieren oder halt einen ganz neuen Weg einschlagen. Lassen wir uns überraschen!


Ryan Tennis
(ms) Musik kann unterschiedlich je nach Zeitpunkt des Hörens wirken. Würde ich eine Wette mit mir selbst abschließen, würde ich sagen, dass ich normalerweise nicht über das neue Lied von Ryan Tennis berichten würde, da es mir im Grunde genommen zu flach ist, mir fehlt der originelle Faktor. Alligator ist ein kurzweiliger Gute-Laune-Track mit einem sehr pfiffig gemachten Video, mehr aber in meinen Ohren nicht. Doch momentan gibt es hauptsächlich im Job eine Menge zu tun und die Schönen Seiten des Privatlebens werden in solchen Tagen immer kleiner, mitunter erscheinen sie nur noch am Abend. Alles vorhersehbar, daher okay, aber trotzdem schade. Nun kommt aber dieser Ryan Tennis daher und bringt so behände bedingungslos gute Laune ins Haus, dass ich das Lied laut stelle und just eine Runde durch die Wohnung tanze, die dringend mal wieder geputzt werden sollte. Der Singer/Songwriter mit dem Händchen für einen geschickten Bläsereinsatz bringt heute dieses Stück raus, das ich allen empfehle laut zu drehen, um für knapp fünf Minuten den ganzen anderen Scheiß zu vergessen. Nebenbei hat der Mann sehr schöne Haare und sein nächstes Album erscheint im Frühjahr!


Neonschwarz
(ms) Das schreibe ich nun nicht, um dieses Lied bestmöglich zu verkaufen, sondern weil ich wirklich davon überzeugt bin: Im Deutsch-Rap gibt es keine (!) vergleichbare Band mit Neonschwarz! Diese Behauptung kann ich auch belegen. Keine andere Rap-Kombo kann derart aufrecht und leichtfüßig ausgelassene Partystimmung neben knallharter Gesellschaftskritik vertonen! Das nicht aus Attitüde oder Wohlgefälligkeit, sondern weil sie komplett dahinter stehen, künstlerisch und persönlich! Wenn Spion Y, Johnny Mauser, Captain Gips und Marie Curry zuschlagen, ist immer eine Überraschung garantiert. Nach dem Partytrack Salto Mortale kommt nun wieder ein beeindruckendes zeitgeschichtliches Musikstück. Einzelfall ist genau der Track, der wie gemacht ist für diese Tage. Auch der komplett kranke Typ, der in dieser Tankstelle den Kassierer erschossen hat, ist kein Einzelfall. Zum Glück gab es aus derart niederträchtigen Gründen bislang kaum vergleichbare Taten, aber das Milieu aus dem er stammt, lässt dies sicherlich problemlos zu. Hinzu kommen entsetzliche Urteile für den dritten Weg (zum Glück kassiert) und immer noch eine nicht existierende Aufarbeitung des Verschwindens von massenhaft Munition aus Polizei- und Bundeswehrbeständen. Nein, nein, nein, das sind alles keine Einzelfälle. Dann lieber Solidarität mit Lina. Echt mal! Neonschwarz, hammerhart!


Alt-J
(ms) Ratlos sitze ich zu Hause auf dem Sofa und weiß nicht, was ich schreiben soll. Ich war kurz davor, gar nichts über dieses Lied zu schreiben, weil ich es so erstaunlich belanglos finde. Würde ich die Band nicht kennen, schriebe ich erst recht nichts darüber. Das Problem ist: Es geht hier um Alt-J. Und das ist halt nicht irgendeine Band. Zurecht sind sie sehr erfolgreich, weil sie einen beeindruckenden, eigenständigen Klang entwickelt haben. Nach recht langer Pause läuft momentan häufiger An Awesome Wave, dieses komplett irre Debut des Trios. Was für ein wahnsinniges Album mit einem nie dagewesenen Sound. Lange war ich sehr skeptisch, ob die diesen Klang auch live darbieten können, eine vertrauenswürdige Quelle antwortete komplett aus dem Häuschen: JA! Nun ist seit Mittwoch U & Me zu hören und ich bin etwas sprachlos, weil ich das Lied so unkreativ finde. Es kommt kein Twist, die Entwicklung des Liedes ist Minimal, kein Bruch, kaum Dynamik, sondern sehr stoisch. Kann auch Kunst sein, aber meine Erwartung an diese Band ist definitiv eine andere. Okay, kurz durchatmen. Ihr neues Album erscheint am 11. Februar und heißt The Dream. Könnte natürlich stark werden. Frech sind sie leider auch und gehen in den USA mit niemand geringerem als Portugal. The Man auf Tour.

 
Moses Pelham
(sb) Ob man seine Musik nun mag oder nicht, ist - na klar - Geschmackssache. Dass Moses Pelham jedoch eine fucking Legende ist, dürfte außer Frage stehen. Und nun hat es der Rödelheimer Rap-Pionier auch schriftlich: Laut GfK ist er der erste und einzige Rapper weltweit, der über fünf Dekaden hinweg in den Offiziellen Deutschen Charts vertreten war. Respekt und Gratulation! Mit seinem neuen Album Nostalgie Tape überzeugt der Altmeister überraschenderweise auch mich. Nicht von A bis Z, so ehrlich muss ich sein. Über weite Strecken haut der Frankfurter aber Banger raus, die ich ihm in der Form nicht zugetraut hatte. Neben Marteria ist auch die großartige Cora E. zu hören, der ich bereits in den 90ern an den Lippen hing. Favorit: Bleib Bitte.


Tocotronic
(ms) Dies wäre auch eine Band, die ich verteidigen würde. Doch mit diesem Stück nerven sie mich. Es ist zudem das zweite Video hier, in dem skatende Menschen zu sehen sind. Dass Jugend Ohne Gott Gegen Faschismus am Klimastreik-Tag veröffentlicht wurde, ist sicherlich auch kein Zufall. Das nervt nicht, das ist geschicktes Marketing. Was nervt, ist Folgendes: Das Lied hat den Anschein, als ob eine Rockgruppe, bestehend aus 50-jährigen Männern, die Anwälte der Jugend seien. Sind sie nicht. Früher wollten sie Teil einer Jugendbewegung sein. Damit haben Tocotronic heute aber gar nichts mehr zu tun. Sie sind die Feuilletonlieblinge und kaufen die mittelgroßen Hallen aus. Ihre in die Luft gereckte Faust nehme ich ihnen komplett ab, aber der Rest ist zu viel Getue. Zudem wird dieser lasche Text mit einem recht uninspirierten Sound garniert. Was ist da denn los gewesen bei Tocotronic? Zu gewollt? Zu bemüht? Zu unkreativ? Auf neue Musik von von Lowtzow und Co. habe ich mich richtig gefreut, es bleibt leider nichts anderes als eine mittelgroße Enttäuschung.

 
Roger Rekless
(sb) Er ist schon einer der Guten, der Roger Rekless. Nachdem er mit seinem Buch Ein Neger darf nicht neben mir sitzen völlig zurecht die Charts gestürmt hat, widmet er sich nun wieder der Musik. Natürlich legt er auch in seinem Kerngeschäft den Finger in die Wunde der Gesellschaft und wird nicht müde, Missstände anzuprangern und uns zu erinnern, dass alle Menschen gleich sind und auch dementsprechend behandelt werden sollen. Planspiel hat es dabei gar nicht nötig, auf fette Beats zu setzen. Der Star sind die Lyrics und David Mayonga, so der bürgerliche Name des Künstlers, ist ein Meister des Wortes. Hört rein, versteht, handelt.

 

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