Freitag, 29. Oktober 2021

KW 43, 2021: Die luserlounge selektiert!

Quelle: facebook.com/43degreesrecords
 (sb/ms) Wenn ein mögliches Ende der sogenannten 'epidemischen Lage' als Freedom Day betitelt wird, ist mir das zu pathetisch. In China wird momentan wieder eine Millionenstadt unter Quarantäne gesteckt. Diese Menschen können von Freiheit sprechen, wenn sie wieder raus sind. Vielleicht ist Freiheit eh ein Begriff mit dem viel zu lax umgegangen wird. Ich schweife mal wieder ab, denn ich wollte auf Folgendes hinaus: Nun war ich ja in Dänemark und es gibt keinerlei Beschränkungen dort. Nirgends braucht man eine Maske oder muss irgendein Dokument vorzeigen, um rein gelassen zu werden. Also alles normal, so wie es sein soll.
In einigen Zeitungen hier las ich dann, was sich ändern würde, wenn wieder alles wie vorher ist. Die ZEIT betitelte, dass das Händeschütteln doch bitte beendet werden solle. Das glaube ich nicht. Im Privaten tu ich das eh schon und es ist ein gutes Gefühl von Nähe. Vielleicht wird es im Beruflichen weniger werden, möglich. Doch daraus eine verschwurbelte Diskussion zu machen, halte ich für vergebene Mühe. Der Mensch lernt wenig aus vergangenen, misslichen Situationen. Und so werden bald auch wieder fleißig Hände geschüttelt. Doch denke ich, dass sie danach häufiger gewaschen werden. Das hat noch keinem geschadet.

Luserlounge hier. Da unser Fachgebiet Musik und nicht die intellektuelle Auseinandersetzung mit Hygienemaßnahmen ist, haben wir erneut selektiert. Macht euch ein Bier auf und genießt!

DAF
(ms) Von außen betrachtet ist dies natürlich kein sonders hörenswerter Track, wenn man die Interpreten außen vor lässt. Dann hört sich das an wie amateurhafte Spielerei. Lustigerweise geht dieses Stück auf genau so eine Situation zurück. Vor über vierzig Jahren ereignete sie sich wohl im Keller des Ratinger Hofes, dem legendären Laden in Düsseldorf. Dort standen Gabi Delago und Robert Görl zusammen und haben erstmals experimentiert: Die Erste DAF Probe. Alles was danach geschah ist wirklich deutsche Musikgeschichte. Es entstand DAF: Deutsch-amerikanische Freundschaft. Ein Duo, das von seiner immensen Spannung lebte. Delago und Görl waren wirklich ein kongeniales Paar, Hass und Liebe, Genie und Wahnsinn standen immer zusammen auf der Bühne und haben sich dort verewigt. In UK haben sie anfangs wesentlich mehr Anklang gefunden, auch aufgrund ihres martialischen Auftretens. Der Ruhm und die Anerkennung hierzulande kam später.
Vor eineinhalb Jahren verstarb Gabi Delago, alt ist er leider nicht geworden. Tatsächlich wollten DAF zu der Zeit ein neues Album aufnehmen. Robert Görl hat es dann mit der Produzentin Sylvie Marks zu Ende geführt. Am 26. November erscheint das Ergebnis via Groenland Records, programmatisch wie eh und je heißt es Nur Noch Einer. Darauf verneigt sich Görl vor seinem langjährigen Partner und dies wird wohl das endgültige Ende dieser Band sein.

Lizki
(ms) Heute erscheint ein wirklich hörenswertes Album. Aus mehreren Gründen. Denn: Was ist es, was Musik erlebenswert macht? Unter anderem zählt fundierte Kenntnis und Umsetzung für Stimmung, Dynamik und Atmosphäre für mich absolut dazu! Ich will hören, dass hinter dem Klang ein geschicktes Arrangement steckt, das voll aufgeht! Meine Güte: Bei Lizki ist das verdammt noch mal der Fall! Die Kenntnis kommt durch eine klassische Ausbildung am Piano und der Stimme. Wer nun denkt, dass es sich hierbei um das nächste Wunderkind der Neo-Klassik handelt, liegt meilenweit daneben. Ihr Wissen um stimmige Arrangements nutzt Rey Lenon für wuchtige elektronische Tracks, die unglaublich harmonisch und sehr, sehr tanzbar sind. Die Stücke auf ihrem heute erscheinenden Debutalbum Forward überraschen durch unfassbar klug eingesetzte Klänge, die immer wieder herausstechen, aufhören lassen und das Ganze sehr einzigartig machen. Ich bin enorm angetan von dieser bestechenden Verbindung aus glasklarem, festem Gesang und extrem gelungenen Soundflächen! Große Empfehlung!

French For Rabbits
(ms) Ungewohnt elektronisch geht es diese Woche hier zu. Wobei auch zu sagen ist, dass das Gerüst dieser Musik der klassische Indiebandsound ist. Tanzbar ist dies nicht zwingend, aber herrlich fürs Herz, so wunderschön warm und sanft und herrlich harmonisch! French For Rabbits haben nicht nur einen sehr guten Namen, sondern kommen auch aus Neuseeland und veröffentlichen am 12. November ihr neues Album The Overflow. Die Synthies hier erzeugen eine wunderbare Klangfläche, über der sich sanfte Gitarrenakkorde und vor allem die Stimme von Sängerin Brooke Singer ausbreiten. Seit zehn Jahren besteht diese Band und sie zeigen erneut, wie rund Musik klingen kann. Walk The Desert ist der erste Track, der aus dem Album ausgekoppelt wurde und er besticht durch seine tolle Eingängigkeit. Mir gefällt sehr, dass im Grunde genommen keine große Entwicklung innerhalb des Stücks stattfindet, die dem innewohnende Energie kann sich dann jedoch komplett ausbreiten. Das ist sehr gut gemacht. 

Lana Del Ray
(ms) Bereits letzte Woche Freitag erschien das neue Album von Lana Del Ray. Zugegeben bewegen wir uns hier auf den Schauplatz des ganz großen Popbusiness'. Ihre Musik, ihre Karriere verfolge ich überhaupt nicht, halte jedoch Summertime Sadness seit einiger Zeit für einen extrem guten Track. Auf Blue Banisters beweist sie erneut, wie klug ihre Musik ist. Sie ist sehr rund, warmherzig und emotional eindringlich. Diese Behauptung stelle ich auf, trotz dass ich keinen einzelnen Text gelesen habe und sie mir eigentlich auch egal sind. Doch mich beschleicht das Gefühl (ja, das Wissen darum interessiert mich nicht), dass Text und Musik hier sehr, sehr gut zusammen gehen. Einfach mal wieder hinfühlen und sich an großen Pop trauen. Mit dieser Platte wird man definitiv nicht enttäuscht!

Metronomy
(ms) Was für ein Output! Das muss hier mal festgehalten werden. Joseph Mount von Metronomy hatte ich nie als den kreativen Klangtüftler auf dem Schirm, der er ist. Und das schon seit langer, erfolgreicher Zeit. Vor wenigen Wochen erst hat er unter dem Bandnamen die Posse EP Vol 1 veröffentlicht, jetzt wird das nächste Album angekündigt! Small World wird am 18. Februar erhältlich sein (warum dreieinhalb Monate schon der erste Song veröffentlicht wird und sicher bis zur VÖ noch weitere folgen, ist mir immer noch ein Rätsel) und It's Good To Be Back ist ein irre kurzweiliges Stück, das einen Vorgeschmack verheißt. Bei den ersten wenigen Takten habe ich mich kurz erschreckt und wusste beim zweiten Hören auch, woran die Keyboardsounds mich erinnerten. An Alexander Marcus. Das ist aber zum Glück nur eine sehr kurze, Nonsense-Assoziation. Zudem überzeugt das entspannte, tanzbare Lied mit einem kreativen Video. Mal wieder Musikvideos bewusst schauen, hier fällt es ganz leicht!

Dienstag, 26. Oktober 2021

One Night In... Four Nights in Copenhagen!

Quelle: facebook.com/katrinestochholm
  (ms) Sehnsucht war das leitende Motiv. Hinzu kam, dass ausreichend Zeit zur Verfügung stand und auch, dass es einfach geht. Vor einer Bühne stehen und Kunst zu erleben, hören, spüren ist eine meiner größten Leidenschaften, ich lebe dafür - auch wenn sich das ungehörig kitschig anhören mag. Wenn Menschen mit Stimmen, Arrangements, Instrumenten eine einzigartige Stimmung kreieren, die ich davor stehend aufnehmen kann, die mich auf eine wundervolle Art bezaubert, bin ich begeistert! Und ich bin gerne begeistert. Nun ist das Problem hierzulande, dass das in diesem Umfang lange nicht möglich war. Oder ist. Denn insbesondere Konzerte, die drinnen stattfinden, werden immer noch regelmäßig abgesagt, verschoben und irgendwann nachgeholt. Mir fehlt da etwas. Und zwar auf ganz eminente Art und Weise. Wenn es irgend möglich ist, stehe ich an den Wochenenden (bei guter Erreichbarkeit auch unter der Woche) regelmäßig vor Bühnen und lasse mich mitreißen. Ich will dicht gedrängt in einer Menge stehen, abgehen, mich verlieren, tanzen, die Augen schließen, pure Musik genießen. Ja, gewissermaßen bin ich frustriert, dass das geringe Impftempo und die fehlende Bereitschaft der Bevölkerung eine lockere Handhabung für den Rest nicht zulässt. Was ist los mit den Menschen, Herr Kimmich?! Egal, anderes Thema.
Zum Glück gibt es Orte, in denen das möglich ist und dahin zu kommen, ist kein Problem, wenn man ein gültiges Reisedokument und einen Impfnachweis hat. Habe ich. Also: Los! Ab nach Kopenhagen! In sechseinhalb Stunden bin ich mit dem Zug in der dänischen Hauptstadt. Im Vorhinein geguckt, was so geht, blind Tickets gekauft und ab dafür. Es geht mir um das reine hedonistische Erlebnis, das gebe ich unumwunden zu. Die Impfquote in Dänemark ist sehr hoch, es gibt keinerlei Beschränkungen. Nirgends (!) ist eine Maske zu tragen, man kann einfach so in Restaurants, Bars, Geschäfte gehen. Es ist so, wie es sein soll. Tagsüber galt es die Stadt zu entdecken (sehr sehenswert), abends die Kultur.

Start war am Donnerstag im La Fontaine, wo ich sicher sieben Mal dran vorbei gelatscht bin. Astro Buddha Agogo luden zur Ekstase ein. Der Laden ist berühmt für seine ausladenden Jazzexzesse, das Quartett zeigte, dass dem auch so ist. Früh da sein lohnte sich, der Laden war relativ schnell proppevoll. Herrlich, wie habe ich es vermisst. Das Bier ist teuer, egal. Die vier Herren auf der Bühne waren nicht nur wahnsinnig sympathisch (obwohl ich keine der dänischsprachigen Ansagen verstanden habe), sondern auch irre an ihren Instrumenten, haben sich in einen Rausch gespielt. Der Drummer, der voller Spielfreude war, der Percussionist, der aus seinen einfach aussehenden Instrumenten wirklich alles rausgeholt hat, der Herr an der Hammondorgel, dem ich nicht glaube, dass er sie mit zwei Händen und Füßen bedient hat - das klang nach mehr -, der Saxophonist und Bandleader, der durch den Abend führte und spätestens als er für den letzten Track die Querflöte nahm und eine Art Beatboxing damit an den Tag legte, konnte ich meine Kinnlade nur noch mit der Hand wieder nach oben schieben. Wahnsinn! Endlich wieder!

Weiter ging es am Freitag im Loppen. In der selbst verwalteten Kommune Christiania gelegen, war ich natürlich sehr gespannt auf das Ambiente. Die Kommune an sich ist halb so spannend, der läuft ein folkloristischer Ruf voraus. Das Loppen (dt.: Floh) würde aber vom TÜV sicher nicht abgenommen werden. Und endlich bezahlbare Bierpreise. An jenem Abend: Felines und Mija Milovic! Letztere eröffnete den Abend am Keyboard, aus dem sie allerlei arhythmische Töne raus holte, sehr faszinierend. Obwohl es so gegenläufig war, klang es enorm rund. Da hätte ich gern länger gelauscht. Im länglichen Raum mit den schönen Holzbalken fanden sich vielleicht 50 Gäste, um dem Quartett danach zu lauschen. Indiepop, so wie er sein soll, stand auf dem Plan. Große Wehrmutstropfen: Leider war der Sound lange Zeit ziemlich mies, was vom Publikum erkannt wurde, aber nicht vom Tontechniker. Den Unmut sah man den Musikerinnen an, extrem schade.

Am Samstag ging es erneut in den gleichen Laden. Dunkel gehalten, bestuhlt, eine flache Bühne. Im Vorhinein war ich auf diesen Abend am meisten gespannt, denn Katrine Stochholm sollte eine Art Electro-Tanz-Performance abfackeln. Was sie auch tat! Ach du liebe Güte, das war wirklich enorm! Das habe ich noch nicht erlebt. Gleich mehr, denn in den Abend starteten Suni, ein Duo mit Akustikgitarre und Cello! Als ich das sah, war ich schon hin und weg. Was für ein schönes Instrument mit diesem herrlich warmen Klang. Als der Cellist sich dann noch ans Klavier setzte, war ich wirklich glücklich - enorm! Dann wurde die Bühne leer geräumt. Zu sehen waren nur noch zwei Mikroständer und eine große, weiße Leinwand im Hintergrund. Licht aus - eindringliche elektronische Musik an! Katrine Stochholm bewies anschließend, was Kunst ist. Das war natürlich arrangiert, musste es auch sein, aber auch so unendlich austariert, wow! Ihre beiden Backgroundsänderinnen trugen zur Stimmung bei, bestaunen waren zudem die beiden Tänzerinnen! Einfach nur stark. Ganz, ganz große Bewunderung. Bewegung und Musik waren eins! Das war der Wahnsinn!

Sonntag. Letzter Abend, andere Location: Stengade. In einem ganz anderen Teil der Stadt gelegen, war ich froh, genau diesen Part noch zu entdecken. Im Reiseführer steht, dass dies der Ort sei, an dem alles stattfindet, was nicht im Mainstream landet. Dicker Pluspunkt. Es schien eher der Ort für laute, experimentelle, düstere Musik zu sein. In der Nähe der Theke der Hinweis, dass es auch extrem laut werden könnte, mögliche Schäden des Gehörs nicht ausgeschlossen seien, daher gäbe es Ohrstöpsel for free. Netter Schachzug. An diesem Abend: Twin Tribes aus den USA, Dark Wave solle das sein. Live noch nie gesehen, daher hin da! Den Abend eröffnete ein Kopenhagener Duo, Solyara spielten auch langsamen, druckvollen Sound, den ich verstanden habe, mir fehlte jedoch das Tempo. Twin Tribes brauchen nur zwei Gitarren, viel Schminke und allerhand Effektgeräte. Mir vielen als erstes die frühen Stücke von Drangsal als Vergleich ein! Wummernde Beats, sehr programmatischer Gesang, extrem viel Hall auf den Stimmen, sehr gutes Arrangement, das hat echt Spaß gemacht. Ging leider nur eine Stunde, ich hätte wesentlich länger dazu tanzen können! Vorher, nachher, zwischendurch war immer wieder zu bestaunen, wie die Dark Wave-Szene sich kleidet: Grau ist schon sehr bunt. Stark!

Ein Konzerteausflug nach Kopenhagen. Mag überzogen klingen, ist mir egal. Es war ein großes, großes Fest, das sehr viel bot und extrem viel Freude bereitet hat. Insbesondere Katrine Stochholm blieb haften. Mal sehen, woher ich ihre Platten bekomme...
Lehre: Mehr in fremde Städte auf unbekannte Konzerte gehen. Vielleicht geht's bald schon genau damit weiter!




Freitag, 22. Oktober 2021

KW 42, 2021: Die luserlounge selektiert

Quelle: arte.tv
(sb/ms) Frage: Es sind Konzerttermine angekündigt für die nahe Zukunft - kaufe ich mir ein Ticket? Grund der Frage: Erneut werden viele, viele Konzerte ins kommende Jahr verlegt. Lohnt es sich also, jetzt schon ein Ticket zu kaufen? Auf der einen Seite natürlich, dann hat man es immerhin, auch für den Nachholtermin. Auf der anderen Seite kommt durch den reinen Kauf natürlich Vorfreude auf, die dann wieder getrübt wird mit der Frage: Wie lange geht das noch so? Das ist eine organisatorische Frage, keine der Sinnhaftigkeit. Es ist nachvollziehbar, warum so gehandelt wird. Weil die Impfquote und die Konzepte eine andere Handhabung nicht zulassen. Letzte Woche wollte ich zu Pascow nach Kiel, erneut verlegt. Art Brut in Hamburg stünde an, erneut verlegt, in den April. Was dann wiederum alles möglich ist: Ins Ausland fahren und da voll besuchte Hallen betreten. Hm, es bleibt schwierig und ungewiss.

Gewiss ist, dass wir hier abliefern. Am Freitag gibt's die Übersicht auf den Deckel. Ab geht das!

Eivind Aarset
(ms) Wer als Kind alles ein Instrument erlernt hat, musste dann und wann auch bei Vorführungen der Musikschule auftreten. Das Gang und Gebe für mich, sowohl solo als auch im Ensemble am Saxophon. Die Krux besteht darin, dass man sich auch all die anderen Lernenden anhören muss. Solo-Gitarre hat da auf mich einen eher unsexy Eindruck hinterlassen. Na gut, zwingend sexy ist die Musik von Eivind Aarset auch nicht. Aber einvernehmend. Warm. Oft meditativ. Geduldig muss man sein, um den Kern seiner Musik zu erfahren. Das reine Hören reicht nicht aus. Der Norweger macht Musik, die in den Körper eindringt. Klar, sein Name steht auf dem Album Phantasmagoria or A Different Kind Of Journey, auch seine Gitarre ist das Instrument, um das sich alles dreht, auch wenn sie häufig bis zur Unkenntlichkeit verzerrt ist. Doch ohne ein sattes Ensemble an Gastmusizierenden würde diese Platte niemals den Zauber verströmen, der ihr inne liegt. Mal erklingt eine Trompete, dann zwei Schlagwerke, die Sounds von seinem langen Begleiter Jan Bang undundund. Ja, eigentlich ist das hier kein Solo-Gitarren-Album. Nur was ist es dann? Kein Jazz, Postrock, Artpop. Da das so schwer zu beschreiben und wesentlich einfacher zu hören ist, legen wir es allen ans Herz. Oder ans Ohr. Neun Stücke, die eine Stunde Kunst versprechen. Abfahrt!

Brandt Brauer Frick
(ms) Das Trio hat erneut zugeschlagen. Vor zehn Jahren begann dieses schier aberwitzige Abenteuer von Daniel Brandt, Jan Brauer und Paul Frick. Bei Wikipedia werden sie als Techno-Projekt beschrieben. Was für ein irrer Fehlgriff. Aber vielleicht der einfachste, gemeinsame Nenner. Was als Trio in Berlin begann, zog sich relativ schnell um den ganzen Globus in unterschiedlichsten, erweiterten Besetzungen auf der Bühne. Das ist nun anlässlich des eigenen Bühnenjubiläums live für zu Hause zu hören! Diesen Mittwoch erschien 3535 Memory digital, die physische Version folgt am 12. November. Zu hören sind Mitschnitte aus ihrer Livegeschichte. Die Aufnahmequalität ist bei solchen Aufnahmen meines Erachtens immer das entscheidende Kriterium. Wie gelungen das ist, ist kaum zu fassen. Das hier sollte (mal wieder) unbedingt über Kopfhörer gehört werden, um die Atmosphäre komplett aufzusaugen. Die Stücke stammen von Auftritten aus Köln, Berlin und Caracas, genauso wechselhaft sind auch die Sounds der acht Stücke und reichen von 2020 bis zu ihren Anfangstagen 2011 zurück. Das ist wirklich fein gewählt und viel mehr als ein Zwischenstands-Best-Of! Die letzte nennenswerte Info bezieht sich auf den Titel: 263 Personen waren an den Konzerten, die zu hören sind, beteiligt und 3272 Menschen kamen zu Besuch. Addiert man beides zusammen... genau!

Fiesta Forever
(sb) Beim Bandname denkt man unweigerlich an Lionel Richie. Und zwar all night long. Aber egal, wir kommen nun zu einer Band aus Österreich und ihrer Single Volcano. Und die geht richtig gut, erinnert an durchzechte Pub-Abende in England und weckt das Fernweh Richtung Insel. Mit ihrem ersten Release wecken Fiesta Forever Hoffnung auf ein melodisches Gitarrenalbum mit ordentlich Bass und internationalem Anspruch. Wir sind gespannt auf die bevorstehende EP und Liveauftritte - das kann gut klappen!

 
Jolphin
(sb) Wir bleiben in der Alpenrebublik, ziehen ein paar Häuser weiter und landen bei Jolphin. Auch hier wird Indierock dargeboten, auch hier weiß das durchaus zu gefallen. Das Duo ist bereits einen Schritt weiter als die Freunde von Fiesta Forever und legen im November ihre EP Sugar Shock Treatment vor. Fünf Tracks, wobei die Aufteilung meines Erachtens nicht so clever gewählt wurde, was den Gesamteindruck ein wenig trübt. Die ersten beiden Songs sind nämlich bockstark und man denkt sich so "wow, wie geil ist das denn bitte?". Danach baut die EP aber leider sukzessive ab und endet mit dem schwächsten Song, der einen doch etwas erleichtert zurücklässt. Sehr schade, denn das Potential ist absolut zu erkennen, v.a. beim Opener My Dear. Hört es Euch an und geht hin!

Sa 23.10. Krefeld | Werkhaus (DE)
So 24.10. Offenbach | Hafen2 (DE)
Mi 27.10. Hamburg | Astra Stube (DE)
Fr 29.10. Hanau | Elis (DE)
So 07.11. Hamburg | Deichdiehle (DE)
Mi 10.11. Oldenburg | DIE! FLÄNZBURCH (DE)
So 21.11. Hamburg |Superbude (DE)
Mo 22.11. Bamberg | LIVE CLUB (DE)
Di 22.11. Hannover | Glocksee (DE)
 
 
Hand Habits 
(ms) Was an Musik so faszinierend ist, ist oft das so schwer zu Beschreibende. Wärme zum Beispiel. Liegt es an schönen, tiefen Tönen, die eine heimelige Atmosphäre kreieren? Nicht zwingend. Ist es der Gesang, der schön eindringlich ist? Darauf würde ich mich anfänglich einlassen. Bei Hand Habits geht es auch darüber hinaus. Wenn heute die neue Platte von Meg Duffy erscheint, strömt eine extrem versierte Spielweise von Pop durch die Boxen. Sie ist auf ganz reduzierte Weise verspielt. Sie ummantelt mit klaren, wie gesagt, warmen, Arrangements. Die bestechen durch genau das richtige Gespür, um mit wenig relativ viel zu erzeugen. Hier wechseln sich klassischer Bandsound mit Synthie-Flächen ab, dort zupft eine Gitarre, hier treibt ein Schlagzeug ganz sanft nach vorne. Oft besteht die Möglichkeit, dazu leicht wiegend zu tanzen, doch es ist ebenso überhaupt kein Problem es zurück gelehnt und mit geschlossenen Augen zu hören. Fun House ist ein extrem gelungenes, sehr kluges, gefühlvolles Album, das vor allem durch seinen wundervollen Klang brilliert!

Mittwoch, 20. Oktober 2021

Leselounge: Davide Bortot und Jan Wehn - Könnt ihr uns hören?

Quelle: weltbild.de

(ms) Was in diesem Buch wirklich überzeugt, ist die Art und Weise des Schreibstils. Dies ist eine sogenannte Oral History (so wie hier und dort). Das heißt, die ProtagonistInnen, um die es geht, sprechen selbst ohne inhaltliche redaktionelle Bearbeitung. Was für ein irrer Aufwand!
Den haben sich Jan Wehn und Davide Bortot aber gerne gemacht für ihr Buch Könnt Ihr Uns Hören? Es ist bereits in der Unterüberschrift zu lesen, dass es eine Abhandlung über die Geschichte des deutschsprachigen Rap geht. Das klingt so simpel, so gut überschaubar. Ist es mitnichten! Diese Wirrungen, Wege, Keimzellen, Bewegungen, Motivationen haben die Autoren so gut durch ihre Beteiligten klar werden lassen, dass es beinahe frech ist! So gut ist dieses Buch! Es liest sich tatsächlich wie ein Krimi, es ist richtig spannend! Denn die Frage, wie sich Rap hier entwickelt hat, geht immer mit der Frage her: Warum genau so und nicht anders! Das wird so gut aufgeschlüsselt und geklärt, dass ich als Außenstehender einen erstklassigen Überblick bekomme. Was für ein Verdienst der Autoren und was für eine Offenheit der MusikerInnen.
Das hier ist keine Nischenliteratur. Hören tue ich Rap sehr gerne, aber halt auch super ausgewählt, ist ja klar. WTG, Fatoni, Juse Ju, Audio88, Yassin, sookee, Mädness, Döll. Diese Ecke. Als Jugendlicher habe ich selbstredend auch Aggro Berlin, Massive Töne und Fettes Brot gehört. Die Zeiten ändern sich.
Dieses Werk entknotet ein ziemlich großes Wollknäuel an Musikgeschichte und -kultur. Es geht zum einen immer wieder um die großen Wegbereiter und deren unangefochtenes Können am Mikrophon. Cora E., Samy Deluxe, Stieber Twins, Torch, Kool Savas.

Was mich jedoch so begeistert hat, ist, dass klar wurde, warum welche Kreise wie gerappt haben. Die RapperInnen aus Stuttgart, Hamburg und insbesondere Berlin hatten grundsätzlich unterschiedliche Gründe, genauso zu rappen, wie sie es taten. Da ging mir echt ein Licht auf. Allein das ist schon extrem lesenswert! Zudem werden hier selbstredend auch einzelne Stücke ausreichend gewürdigt, die heute immer noch Klassiker sind.
Rap war lange Zeit die absolute Nische, kommerziell unbedeutend. Heute sieht es gänzlich anders aus. Schaut man sich insbesondere Abrufzahlen bei Streamingdiensten an, ist es Rap, der dominiert. Rap ist Mainstream, die vorherrschende musikalische Kultur geworden. Doch eine Krux fällt mir dabei ein. Werden seit Jahren Fettes Brot und noch viel stärker Die Fantastischen Vier dafür gerüffelt, whack zu sein, kann man nicht zwingend behaupten, dass die Autotune-Fraktion true ist. Auch Marteria würde ich nicht mehr als hundertprozentigen Rapper titulieren. Das ist auch Pop mit Sprechgesang. Nun gut...

Dies ist also ein herausragendes Buch, in dem immer wieder zu spüren ist, wie viel Arbeit und Herzblut darin steckt. Eine Sache nur ist als Rap-Außenseiter gewöhnungsbedürftig. Wichtig: Das hier ist keine Wertung. Die Sprache im Rap ist eine andere, als die ich gewohnt bin. Worte wie true oder whack befinden sich nicht in meinem aktiven Wortschatz. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Daran muss man sich gewöhnen, dann steht einem eine neue Welt offen.

Freitag, 15. Oktober 2021

KW 41, 2021: Die luserlounge selektiert

Bild: stilkunst.de
(ms/sb) Es ist nett, nett zu sein. Das hat die sehr gute Gruppe Die Liga Der Gewöhnlichen Gentlemen erfunden. Gerne wäre es aus meiner Feder gekommen. An einem gänzlich unerwarteten Ort habe ich genau diese Losung erfahren! Denn: Hotlines an sich haben irgendwie keinen guten Ruf - und total schräg, dass das auf deutsch ja heiße Leine bedeutet (klar, heißer Draht und so). Nun musste ich in den letzten Wochen sowohl öfter beim Telefonservice meines Energielieferanten anrufen und war alle Male total baff, wie unfassbar freundlichen die Leute am anderen Ende der Leitung gewesen sind. Hat mir sehr gut gefallen! Klar, sie sind Aushängeschild, aber das habe ich so nicht kommen sehen... ähh... hören! Zudem musste ich dieser Tage noch den Kundendienst meines Finanzpartners erreichen, was erfolgreich geschah. Die scheinen technisch ziemlich auf Zack zu sein - das hat mir sehr imponiert. Außerdem war auch hier die Person in meinem Ohr super nett. Also: extrem freundlich! Also: Das habe ich so nicht erwartet. Dabei ist es ja so leicht, nett zu sein. Nicht immer, nein, das muss ich auch zugeben. Aber in Situationen, wo nichts groß zur Debatte steht, kann man einfach so ja mal freundlich sein. Das finde ich gut.

Auch Musik finden wir hier sehr gut. Daher schreiben wir auch leidenschaftlich drüber. Selektiert!

Sluff
(ms) Lange Zeit war relativ klar, wenn eine Musik einen bestimmten Klang hat, dann weiß man automatisch, woher sie stammt. Aber diese Ära ist rum. Seit langer Zeit. Sluff aus Wien klingen so hart nach Gitarrenpop aus UK, dass es kaum zu glauben ist, dass das Quartett mit Kaiserschmarrn statt Vinegar Chips genährt wurde. Heute erscheint ihr neues Album World Wide Worries und es nicht nur eine extrem gelungene klangliche Zeit- und Raumreise. Konzeptuell und auch auf ihren Liedern vereinen sie Humor, Tragik und natürlich die große Liebe, die auch in nicht-heteronormativen Verbindungen gerne gedeihen darf. Die eigenen Probleme als so universell darstellen, dass sie alles dominieren, kommt einem ja oft dämlich vor. Ein bisschen mehr Demut fordern Sluff mit einem Augenzwinkern. Stets dabei ein Bier in der Band, das sich hervorragend zu dieser leichten, beschwingten, teils angenehm melancholischen Musik trinken lässt! Empfehlung!


rokotak
(ms) Beim ersten Hören klang mir Geh Raus zu sehr nach erhobenem Zeigefinger. Die Tipps und Tricks für einen vermeintlich gelingenden Alltag waren mir so umfangreich, dass es mich überfordert: Was soll ich denn nun anfangen mit diesem Text? Soll ich mein Leben ändern? Nein, das wäre ja wirklich zu viel verlangt. Das möchte rokotak von den Hörenden sicherlich auch gar nicht. Das wirklich Schöne an Musik ist ja auch, dass ich mir das rauspicken kann, was ich brauche. Oft ist es die Energie aus dem Klang, die mich beglückt. Manchmal dann wieder nur einzelne Zeilen. Für diese Vorgehensweise entscheide ich mich bei diesem Lied. Die erste lautet "Red' nicht mit denen, die das alles schon wussten / Denn das könnten die Falschen sein" und eine weitere "Sei nie klarer im Kopf als wirklich nötig".
Das gefällt mir gut. Es verlangt nicht zu viel von mir. Wenn Musik moralisiert, halte ich Abstand. Wenn sie durch einen sanften Klang mir etwas Gutes tun will, lasse ich sie an mich heran. rokotak lasse ich an mich heran. Dieses schönes Lied ist auf dem aktuellen Album Riech An Blumen Und Merk Dir Ihre Namen zu finden. 

 
Lygo
(sb) Holla, was ist das denn? Selten so viele kluge und aussagekräftige Texte am Stück auf einem Album gehört wie hier bei Lygo. Die deutsche Sprache kann ja schnell mal holprig klingen, wenn man versucht, sie gewinnbringend in Musik (in diesem Fall: Punkrock) zu verpacken, doch genau das Gegenteil ist auf Lygophobie (VÖ: 29.10.) der Fall. Klar, die Stimme ist nicht jedermanns Sache und a bisserl gewöhnungsbedürftig, passt dann aber doch ganz gut zum Rest und man möchte sich gar keine andere vorstellen. Ganz stark, was das Trio aus Bonn da raushaut. Eine Zitatesammlung vom Feinsten und jeder Track (ja, verdammt: jeder einzelne!) bietet mindestens eine Zeile, die man sich ohne Bedenken auf ein Shirt drucken könnte. Schwerste Begeisterung, weil: geil.

Violet Cheri
(ms) Diese zwei Minuten und achtunddreißig Sekunden klingen so locker, leicht. Ja, fast ein bisschen beliebig, darauf würde ich mich auch einlassen. Aber dieser Tage hatte ich ein großes Bedürfnis nach gut zugänglicher Musik. Großes, Breites, Komplexes wäre mir momentan zu viel und da kamen Violet Cheri aus Stockholm gerade recht. Angenehm plätschert ihr Song I'm Fine nebenher. Doch dann kam irgendwann der Gedanke auf, warum der Typ einfach nur darüber singt, dass es ihm gut geht. Auf der einen Seite natürlich eine super Sache, aber auf der Anderen doch recht verwunderlich. Liest man sich den Text und das was Sänger Daniel Hoff dazu zu sagen hat, hört sich der Track direkt ganz anders an. Denn beileibe, hier geht es niemandem gut. Er wurde zu Schulzeiten übel gemobbt und hat wirklich stark darunter gelitten. Um die Tage, Wochen, Monate zu bewältigen, redete er sich halt immer wieder ein, dass es ihm schon gut ginge. Da bekommt dieses lockere Lied doch direkt eine harte Note. Es wird auf der Platte Sölvesborg zu hören sein, die am 26. November erscheint. 

 
Marius
(sb) Man überlegt sich in der Regel vorher, was man schreibt und was man ausdrücken will - so auch in diesem Fall. Dennoch musste ich diese Kurzrezension mehrmals aufsetzen, weil sie am Ende stets negativer klang als sie tatsächlich beabsichtigt war. Und das hat die Alles Neu EP (VÖ: 01.10.) von Marius gar nicht verdient, denn sie vereint vier locker-flockige Tracks, die ins Ohr gehen und auch dort bleiben. Nichts Außergewöhnliches, nichts Besonderes, aber halt doch unterhaltsam und vor allem 30 Tage auf Tour bietet einen schönen Einblick ins Tourleben eines Musikers mit beziehungsbedingtem Heimweh. Schön, das! Weniger schön (und vor allem unnötig!) hingegen sind die Experimente mit Autotune. Phasenweise klingt das nach astreinem Raop und lässt den Kollegen Cro vor Neid erblassen. Ob das nun gut oder schlecht ist, muss jeder für sich entscheiden. Mich hats in erster Linie irritiert, da der Künstler sonst bei der Rockband Heisskalt an den Drums sitzt, also völlig andere Musik macht. Dass seine Band einst bei Chimperator (dem Cro-Label) gesigned war, ist dabei wohl nur Zufall.
 

Dooms Children
(sb) Dooms Children? Tönt düster. Death Metal oder Ähnliches? Mitnichten. Hinter dem Projekt steckt Wade MacNeil, bekannt von Alexisonfire und Gallows, kehrt dabei sein Innerstes nach außen. Entstanden ist sein selbsbetiteltes Album (VÖ: 20.10.) in Zeiten des Entzugs und der Depression. Beim Anhören fühlte ich mich unweigerlich an Mark Lanegan erinnert, dessen Biographie ich kürzlich gelesen hatte. Partymucke geht anders, aber wer sich die Zeit nimmt und die Geduld aufbringt, sich mit dem Werk auseinanderzusetzen, der wird dafür belohnt. Das ist mitunter schon richtig harter Tobak, aber halt auch schonungslos ehrlich und ungeschminkt.


Tristesse
(ms) Neue deutschsprachige Musik sofort gut zu finden; damit tue ich mich seit einiger Zeit relativ schwer, weil mich viele Namen, Auftritte, Darstellungen bereits abschrecken. Isolation Berlin ist der beste Beweis dafür, wie sehr Musik auch nerven kann. Ihre (pseudo-)intellektuelle Selbstgefälligkeit geht mir gegen den Strich. Tristesse ist mir auch schon fast vom Namen her zu programmatisch. Aber das Reinhören wird belohnt! Denn hier dominiert eher die Musik, es ist direkt zu vernehmen, dass der Text durch den leicht modifizierten Gesang etwas in den Hintergrund tritt, aber dennoch viele gute Zeilen beherbergt. Kreis ist der erste Track, den das Berliner Quintett veröffentlicht und es klingt schon enorm reif, rund und teils rotzig. Melancholie trifft auf einen klaren, optimistischen Blick nach vorne. Dann gefällt mir neue deutschsprachige Musik!

Freitag, 8. Oktober 2021

KW 40, 2021: Die luserlounge selektiert

Bild: deutschlandfunknova.de

(ms/sb) Sagen wir so: Worauf die aktuellen Sondierungsgespräche hinauslaufen, war ja am Wahlabend schon einigermaßen klar. Dass der Aachener Teddy nach dieser Niederlage tatsächlich einen Regierungswillen postulierte, fand ich schon... ähh.. mutig. Dabei war ja vorher schon klar, dass er ein schwacher Kanzler in einer extrem brüchigen Koalition wäre.
Darauf wollte ich gar nicht hinaus. Verzettelung. Das hat mich noch nicht mal so krass erschüttert an dem Abend - ja, eher ein bisschen gefreut, so gemein ehrlich muss ich sein. Doch auch zwei Wochen nach der Wahl stößt mir ein Fakt immer noch bitter auf, über den überhaupt nicht gesprochen wird, zumindest nehme ich ihn in meiner eingeschränkten Blase nicht wahr. Eine kurz recherchierte Zahl macht mich stutzig, ja, beängstigt mich. So ehrlich muss ich sein. Diese Zahl meine ich: 4.802.097. So viele Menschen in Deutschland haben mit der Zweitstimme die EkelhAfDen gewählt. Das sind fast fünf Millionen Menschen. Scheiße, man! Folgendes muss man sich vor Augen führen: Das ist keine Euroskeptikerpartei mehr. Das ist keine Professorenpartei mehr. Das sind keine Menschen mit Argumenten mehr. Das ist seit einiger Zeit eine astreine Faschopartei! Ausländerfeinde mit knallharten Verbindungen ins gewaltbereite, militante Rechtsextremistenmilieu. Als Stammwählerschaft wird das nun schon postuliert. Fünf Millionen Nazisympathisanten hierzulande? Lassen wir WTG den Abschluss singen: "Ich hab' in meinem Leben ein paar Nazis verprügelt. Aber bin nicht stolz darauf, weil das noch lange nicht genügt."
 
Stimming x Lambert
(sb) Den Pianisten Lambert habe ich in den vergangenen Monaten dank seiner Zusammenarbeit mit Anna Ternheim für mich entdeckt und bin schwerstens entzückt. Zu meiner Schande muss ich jedoch gestehen, dass mir Stimming bis dato völlig unbekannt war. Gut, verwundern tut es mich nicht, denn er ist im Genre Deep House verankert, das bei mir ungefähr so angesehen ist wie Rosenkohl. Aber man soll ja alles mal probieren und mit einer Prise Lambert schmeckt Stimming sogar richtig toll. Also im übertragenen Sinne natürlich... Das Album Positive (VÖ: 15.10.) ist dabei keineswegs die erste Kollaboration der beiden Künstler, die - trotz der konträren musikalischen Ansätze - bereits seit Jahren miteinander musizieren und 2018 eine vielbeachtete EP veröffentlichten. Ihrem neuen Werk sollte man dennoch völlig unvoreingenommen gegenübertreten. Da ich - wie oben erwähnt - Stimming nicht kannte, hatte ich mich auf einen klassischen oder maximal neo-klassischen Ausritt gefreut, bekam stattdessen aber elektronische Töne zu hören. Beim ersten Listening hatte ich dafür keinen Nerv. Also aus. Die Stunde des Albums schlug dann aber am vergangenen Samstag auf der morgendlichen Busfahrt vom Bodensee nach München. Kopfhörer drauf, Positive rein und genau mit dieser Stimmung an der Hackerbrücke wieder aussteigen. Perfekter Soundtrack. Gefällt sehr und inspiriert. Symbiose pur!
 
 
Juse Ju
(sb) Es tut mir ja im Herzen weh, dass JuNi, das neue Album von luserlounge-Liebling Juse Ju mangels zeitlicher Ressourcen "nur" in der Selektion landet. Ich nehme es vorweg: Es hätte einen eigenen Artikel erwähnt, in dem wir dem Künstler, seiner Musik, seiner Einstellung, seinen Ideen und generell seiner Art und Weise huldigen. Ja, wir mögen Juse Ju schon sehr und sind immer wieder erstaunt, wie er es schafft, noch besser zu werden, wenn wir ihn doch gerade erst für sein bis dahin bestes Album gelobt haben. Aber es ist nun mal so... Auf JuNi übertrifft Juse sich mal wieder selber, auch wenn es etwas seltsam erscheint, Tracks auf einem neuen Album zu hören, die man aufgrund der innovativen Veröffentlichungsstrategie des Künstlers schon seit vielen Monaten kennt. Aber who fucking cares, wenn man die Tracks nochmal neu und im Kontext des ganzen Albums wiederentdecken darf? Eine kleine Frage, Gleisbett, Legit, Mittelschicht Männers, Der Gargoyle - das ist einfach wahnsinnig stark, was Juse Ju da in den Ring schickt. Und auch seine Gäste, u.a. Milli Dance und Fatoni, tragen ihren Teil dazu bei, um JuNi zu einem herausragenden Werk zu formen. Absolut ein Kandidat für die Bestenlisten zum Jahresende!


Calman
(sb) Erst ein fantastisches Album über Verantwortung, jetzt eins über Freiheit. Calman packt die großen Themen an und er macht das gut. Unaufgeregt. Der Rapper lebt in Berlin. Er erlebt in Berlin. Den Wandel, jeden Tag. Er fühlt sich eingeschränkt durch die Mietzahlungen und schätzt doch die Freiheiten, die ihm die Multimillionenstadt bietet. Die ihn so sein lässt, wie er ist. Die Anonymität und Individualität gleichermaßen fördert. Auf Drei Liter (VÖ: 29.10.) präsentiert sich Calman einmal mehr als aufmerksamer Beobachter, als Geschichtenerzähler, der es nicht nötig hat, sich eine Maske vors Gesicht zu halten. Extrem wortgewandt zeichnet er ein Bild seines Umfelds, der Gesellschaft mit all ihren Facetten. Der politische Exkurs Kann nich will nich werd nich darf dabei gerne als Höhepunkt erkannt werden, denn jede einzelne Aussage in diesem Track bringt es unumwunden auf den Punkt. Natürlich wird auch das Thema Freiheit auf Beziehungsebene auf diesem großartigen Album behandelt und spricht wohl dem ein oder anderen aus der Seele. Tut mir einen Gefallen: Kauft dieses Album, es lohnt sich!
 
 
Lina Maly
(sb) Ich mag Lina Maly ja sehr gerne. Für mich hebt sie sich positiv aus der Masse der deutschsprachigen Sängerinnen/Songwriterinnen ab und ich kann noch nicht mal genau beziffern, woran das liegt. Vermutlich einfach Geschmackssache und ihr sympathisches, unprätentiöses Auftreten. Auch ihr neues Album Nie zur selben Zeit (VÖ: 29.10.) unterstreicht diesen Eindruck und festigt ihre Position. Die Liebe blüht, Wo sind die Jahre hin - großartig! Auch Jeder weint, die Kooperation mit Disarstar, ist ein Highlight. Und trotzdem: Zu 100 % überzeugt mich das Album leider nicht, weil einige Tracks dann halt doch ins Belanglose abdriften und zu sehr aufs Mainstream-Radiopublikum abzielen. Vermutlich noch nicht mal bewusst, aber da fehlt mir das Maly'sche Alleinstellungsmerkmal. Vielleicht hatte ich aber auch nur zu sehr gehofft, dass ein bisschen mehr vom Spirit der Zusammenarbeit mit Dead Rabbit ins Album einfließt...
 
 
Liotta Seoul
(sb) Wer hat nochmal gesagt, Grunge sei tot? Der- bzw. diejenige kennt auf jeden Fall Liotta Seoul nicht, denn die Band, die 2017 in Koblenz gegründet wurde, klingt wie straight outta Seattle Anfang der 90er. Sprich: leider geil! Ihre Cool EP (VÖ: 01.10.) umfasst zwar nur vier Songs, aber die haben es in sich. Mein persönlicher Favorit ist der Abschlusstrack Airplane, der an Melodramatik kaum zu toppen, von Emotionen durchzogen, aber schlicht und ergreifend auch eine verdammte Rock-Hymne ist. Ein würdiges Ende für eine unverschämt eingängige EP, die sich wochenlang im Gehörgang festsetzt. Mitsingen, Tanzen und Kopfnicken garantiert!



Donnerstag, 7. Oktober 2021

We Are Scientists - Huffy

Foto: Danny Lee Allen
(ms) Es wäre ein Leichtes, einfach nur zu schreiben, dass das neue Album von We Are Scientists ziemlich stark sei. Aber ganz so simpel ist es halt nicht. Denn vorher müssen diverse Hüte gezogen werden vor dieser Band. Seit nun mehr einundzwanzig Jahren spielen sie zusammen Indierock. Das ist bemerkenswert! Andere haben aufgegeben oder das Genre gewechselt. Keith Murray und Chris Cain bleiben sich ziemlich heftig treu! Kaum zu fassen, dass sie auf ihrem achten Album immer noch so unfassbar frisch klingen! Dass sie immer noch die kleinen Bühnen bespielen, ist dabei immer noch eine Frechheit. Woran liegt es? Darüber haben wir schon hier und da spekuliert. Sind die großen Ränge im Indierock etwa voll? Trotz, dass ich mich seit Jahren in diesem Genre zu Hause fühle, wüsste ich aus dem Stehgreif gar nicht, wer denn da steht. Viel zu individuell wurde der Musikgenuss durchs Streaming, es gibt kein Leitmedium mehr, das Bands pusht und zur späten Stunde auf den Bühnen der großen Festivals geben sich Jahr für Jahr die gleichen Bands die Klinke in die Hand. Was ich sagen will: Warum zur Hölle sind We Are Scientists nicht so mega erfolgreich? Sie spielen seit 21 Jahren handwerklich astreinen Indierock mit ordentlich Songwriter-Knowhow und dennoch sind es die kleinen Läden, durch die sie seit jeher touren. Ist es schlichtweg Pech oder doch einfach ein Opfer des Überangebots?! Wir werden es wohl nicht herausfinden.

Am Freitag, 8. Oktober, erscheint ihr neues Album Huffy. Dabei muss ich ganz ehrlich sein: Wäre es die Platte einer Newcomer-Band, würde ich es wahrscheinlich nicht mal anhören. Hier spielt also eine ordentliche Portion Nostalgie eine wichtige Rolle und das Festhalten an bekannten Namen. Und: Ich finde das Album stark. Klingt paradox? Ist es auch! Musik ist und bleibt subjektiv und oft schwer zu verstehen. Quatsch! Verstanden werden muss hier gar nichts. Hier wird bitte getanzt - 34 Minuten am Stück!

You've Lost Your Shit beweist: So beginnt halt eine Gitarrenrockplatte. Schnell und kompromisslos und sicher auch vorhersehbar - egal! Wenn in Sekunde 47 alles zu beben anfängt, bin ich halt dabei! Das ist exakt der Sound, die Dynamik, warum ich diesem Genre seit Jahren so verfallen bin. Ein bockstarker Beginn dieser Platte! Da dürfen auch große Melodien nicht fehlen. Contact High ist der beste Beweis dafür! Ich komme einfach nicht drauf klar, wie frisch und leicht das klingt! Oder haben wir wieder 2007? Und sie sind halt auch abgeklärt cool. Eine lässige Gitarrenlinie und ein super Arrangement auf Handshake Agreement ist der nächste Beweis! Das ist eine wahre Zeitreise hier! 

Und: Haben sie die Coolness auf I Cut My Own Hair von Franz Ferdinand geklaut? Ich bin voll drin! Mir ist übrigens vollkommen egal, worum es auf den Liedern geht, daher befasse ich mich auch nicht ausführlich damit - die Freiheit des Bloggenden. Textlich stelle ich auch null Erwartungen an die New Yorker, klanglich viel eher und die werden hier am laufenden Band übertroffen! Auch ein paar Synthiesounds dürfen da nicht fehlen, die einem etwas langsameren Track wie Just Education eine feine, verträumte Note verleihen! Und auf der anderen Seite istSentimental Education eigentlich die (!) massentaugliche Single mit feiner, passend eingängigem Refrain.

Auf Fault Lines sind sie hingegen rotzig cool! Beim Hören dieser Takte fühle ich mich echt eiskalt in der Zeit zurück versetzt! Als ob ich vor zehn Jahren im Bielefelder Forum tanzen würde, wo es mich zu dieser Zeit regelmäßig hinzog. Später waren es die schon eher nostalgischen 00er-Jahre-Indieparty, die diesen Platz angenommen haben. In Zeiten, wo das alte Partygefühl noch nicht so richtig zugegen ist, ein sehr guter Ausgangspunkt, um die Tanzfläche ins Wohnzimmer zu verlagern!
Man muss hier auch einfach festhalten, dass diese Band ein sehr gutes Händchen für die Funktionsweise einen Gitarrenrocktracks hat. Da sitzt jede Brigde, jeder Übergang, jedes Riff. Ist das kalkuliert? Ja, mit Sicherheit! Aber der Plan geht voll auf! Zum Ende hin sind sie sich für einen futuristischen Countrysong, der im Laufe von vier Minuten alle Genregrenzen zum einstürzen bringt, auch nicht zu schade. Das ist halt auch verdammt clever gemacht!

Ein Album was vom ersten bis zum letzten Takt halt irre Bock macht. Punkt. Darf gerne bald wieder hier bestaunt werden:

06.04. - Köln, Luxor
07.04. - Nürnberg, Z-Bau
12.04. - Leipzig, Werk 2
13.04. - Berlin, Hole44
14.04. - Hamburg, Knust

Dienstag, 5. Oktober 2021

leserlounge: Mark Lanegan - Alles Dunkel dieser Welt

(sb) Egozentrisches Arschloch, Junkie, Dealer, selbstgerechter Asso - es gäbe so viele Bezeichnungen, die Mark Lanegan gerecht würden. Es ist ja kein großes Geheimnis, dass der Musiker nicht die einfachste Persönlichkeit auf diesem Planeten ist, mit seiner Biographie Alles Dunkel dieser Welt untermalt er dies jedoch eindrucksvoll. Was man ihm zugute halten muss: Er glorifiziert sich damit keineswegs, sondern deckt damit gnadenlos und ungekünstelt seine eigenen Schwächen auf.

446 Seiten lang liest man von Drogen, Scheitern, Gewalt und Sex. Was in der durchschnittlichen Hooligan-Biographie dazu führen würde, dass sich der Protagonist als der größte Hecht im Karpfenteich fühlt, wird bei Mark Lanegan komplett anders aufgezogen. Klar, auch Langean geht darauf ein, warum er so ist, wie er eben ist. Seine Sozialisation war keinesfalls problemfrei, ein Einzelgänger und Sonderling war er von klein auf. Mit Drogen und Gewalt kam er bereits früh in Berührung, sein großes Ziel war schon früh, seine Heimat Ellensburg zu verlassen und alle Brücken hinter sich zu verbrennen.

Die Band Screaming Trees bietet ihm als Sänger diese Möglichkeit, die nächste Station heißt Seattle. Die dort aufkeimende und Anfang der 90er explodierende Grunge-Szene katapultiert auch die Screaming Trees ans Licht der Öffentlichkeit. Trotz ihres Überhits Nearly Lost You vom Soundtrack des Filmes Singles und zahlreicher TV-Auftritte bleiben die Trees stets im Schatten von Bands wie Nirvana, Soundgarden, Pearl Jam oder Alice In Chains.

Mit einigen anderen lokalen Musikern verbindet Mark Lanegan mehr als nur eine Freundschaft. Ob Kurt Cobain, Layne Staley oder Courtney Love - sie alle hängen mit dem hochcharismatischen und völlig unberechenbaren Lanegan an der Nadel. Heroin, Crack, Alkohol, Kokain - es gibt kaum etwas, was Langean seinem Körper nicht angetan hat und es grenzt an ein Wunder, dass der Musiker noch lebt.

Mark Lanegan macht kein Geheimnis daraus, dass er dem Tod mehr als nur einmal von der Schippe gesprungen ist. Sowohl bei der Drogenbeschaffung als auch beim Konsum selber stand es des Öfteren Spitz auf Knopf. Als Außenstehender fällt es schwer zu verstehen, wie man sich und seinem Umfeld (Band, Freunde, Management,...) so etwas über Jahre hinweg antun kann und wieso es niemand ernsthaft versucht (geschweige denn: schafft), so auf Lanegan einzuwirken, dass er einen Entzug mit allen Konsequenzen in Erwägung zieht.

In seiner Biographie reiht Mark Lanegan mit einem zeitlichen Abstand von ungefähr 20-25 Jahren seine schwärzesten Momente aneinander. Eine Chronologie des Schreckens, der Verzweiflung, des Scheiterns. Viel Dunkel, wenig Licht. Und man wartet darauf, dass der Protagonist eines Tages elendlich verreckt - wohlwissend, dass er immer noch unter uns weilt und musikalisch noch immer zu den Schwergewichten zählt. Auch wenn Lanegan kommerziell nie zu den ganz Großen gehörte, so war er doch meist Liebling der Fachpresse, seine Stimme einzigartig. Ob er sich im Musik-Business mit seiner Biographie viele Freunde gemacht hat, weiß ich nicht. Zwar hat er wohl alle, die er hier als drogensüchtig bezeichnet (oder gar outet) im Vorfeld um Erlaubnis gebeten, doch auch darüber hinaus teilt Lanegan ordentlich aus. Besonders amüsant ist sein Rundumschlag über drei Seiten gegen Oasis-Frontmann Liam Gallagher, den er als Großmaul und Feigling darstellt.

Die Lektüre ist kräftezehrend, verursacht manchmal regelrecht Schmerzen und ist trotzdem - oder: genau deswegen? - ein Erlebnis. Schon erstaunlich, wie viele Möglichkeiten es gibt, Drogen von A nach B zu transportieren oder sie sich in den Körper zu pumpen. Trotz des düsteren Thematik gelingt es Lanegan, zu keiner Zeit langweilig oder ermüdend zu schreiben. Und ja: Es gibt ein Happy End...

Montag, 4. Oktober 2021

Moritz Krämer - Die Traurigen Hummer

Foto: Max Zerrahn
(ms) Unbedarft und ohne klare Erwartungshaltung an Musik zu gehen, macht ein freies Hörerlebnis möglich. Denn ich habe ein wenig gegrübelt, ob ich mich nun ausführlich über Moritz Krämer schlau machen soll oder eben nicht. Habe mich für Zweiteres entschieden, um an dieses wundervolle Album zu gehen. Dass er Teil der Höchsten Eisenbahn ist, ist klar. Sein letztes Album hieß Ich Hab Einen Vertrag Unterschrieben und meines Wissens geht es auch genau darum: Dass er einen Vertrag unterschrieben, dies aber vergessen hat und noch abliefern musste.

Moritz Krämer kommt genau aus der musikalischen Ecke, in der ich mich seit vielen, vielen Jahren sehr, sehr wohl - ja, zuhause - fühle. Doch die Hörgewohnheiten und -bedürfnisse haben sich geändert. Heute brauche ich keine emotional brüchige, melancholische oder befindlichkeitsfixierte Musik mehr. Es muss (für mich) originell, spritzig, frisch, meinetwegen auch politisch oder unterhaltsam oder gaga sein. Da sind nicht mehr so viele übrig, die (für mich) diesen Spagat schaffen. Klar: Kettcar, Fortuna Ehrenfeld, Gisbert zu Knyphausen, Alex Mayr, Alin Coen. Krämer mit seinem neuen Album Die Traurigen Hummer passt sehr, sehr gut in diese Riege hinein. 
Krämers Markenzeichen ist seine oft schnodderige Aussprache, die aber einfach unfassbar sympathisch ist. 

Was dieses Album künstlerisch so rund macht, ist der Mix aus einem sehr pfiffigen, angenehmen Sound und einem klugen Textverständnis. Klar, das ist Indiegitarrenpop, doch er kommt so leicht und verspielt daher - beinahe frech! Auf fast jedem Stück gesellt sich zum 'normalen' Bandsound ein Instrument hinzu, das Soli und/oder Melodien spielt. Das ist saugut gemacht, beugt jeder Eingängigkeit vor, macht immer neugierig, was als nächstes kommt.
Moritz Krämer ist einer von denen, wo ich mir oft nicht ganz sicher bin, wovon das jeweilige Lied eigentlich handelt. Mit der Frage: Ist das wichtig? Es sind oft Zeilen, die toll hängen bleiben: "Deine Synapsen sind träge / Und du lachst ohne Grund / Wenn das deine Krankheit sein soll / Werd bitte nie mehr gesund" ist beispielsweise auf dem Opener Nackt Und Einsam zu hören. Die Klarinette brilliert auf Finster und bringt eine schöne Wärme in das Stück. Ja, es geht natürlich auch befindlichkeitsfixiert zu auf diesem Album, aber es zieht mich nie runter. Moritz Krämer lässt dabei immer eine wohlige und runde Atmosphäre entstehen - sehr gut gemacht! Das ist paradox: Dieses Lied entfacht in mir ein gutes Gefühl, obwohl der Text gar nicht in diese Richtung geht. Hier wird auf eine Beziehung zurückgeblickt, die entweder zu Ende oder kurz vor diesem war mit der schlussendlichen Hoffnung, bereit zu sein für das familiär-spießige Glück, denn "die verlorenen Freude sind alle Väter geworden."
Auf Jetzt fragt er sich, was die alte Schulliebe wohl so macht. Die Person, mit der kurz vor dem großen Ausbruch von zu Hause, dem Start in Ausbildung oder Studium noch alles möglich schien. Auffliegen fällt daher auf, da kein Schlagzeug, dafür aber wunderbar tragende Streicher zu hören sind. Bei Austauschbar sind es wiederum Blockflöte und Klavier. Diese Abwechslung ist wirklich ganz herausragend gemacht. Anfangs herrscht auf diesem Song der recht fatalistische Blick auf die individuelle Rolle in der Welt. Klar, für große Systeme sind wir unwichtig und halt austauschbar. Beim Blick auf Freundschaften oder Lieben klingt das halt so hart und kalt, ganz anders dieses Lied: Es ist weich und warm und die gute Einsicht kommt auch am Ende.
Schwarzes Licht hat einfach eine wundervolle Melodie im Refrain, es ist das musikalische Highlight auf jeden Fall: Wunderbare Streicher, ein toller Basslauf, ganz sanfte und kluge Arrangements mit solchen Sätzen: "Sie spielen Liebe und wollen Zufall, aber geplant." Verlieren wiederum ist eher Storytelling-Stück mit feinem Humor und einem aufmerksamen Blick auf die Welt. Hat sich hier der Eisenbahnersound auf's Soloalbum geschlichen? Dann gibt es mit Beweisen einen richtigen Mutmacher-Seelenstreichler-Machdirkeinesorgen-Track. Und das nicht nur textlich (einfach mal genießen), sondern erneut musikalisch. Ich genieße dieses Lied so extrem, das ist wunderschön. Es scheint mir länger her, dass mir das bei deutschsprachiger Popmusik so erging. Danke an dieser Stelle.

Unbedarft und ohne konkrete Erwartung herangegangen und vollkommen belohnt worden! Was für ein wunderbares Album hat Moritz Krämer hier erschaffen! Nochmal: Vielen Dank!

Freitag, 1. Oktober 2021

KW 39, 2021: Die luserlounge selektiert

Quelle: 39taipei.com
(sb/ms) Einige vulgäre Ausdrücke nutze ich recht häufig. Sche*ße zum Beispiel. Es ist ein sehr gutes Wort. Ein Wort, das sich durch seinen hohen Gebrauch komplett von seiner eigentlichen Herkunft emanzipiert hat. Genau das ist mir dieser Tage (mal wieder) recht deutlich geworden, wie dämlich die meisten derben Phrasen sind. Vor allem frage ich mich, warum es so oft um unsere intimen Körperöffnungen geht, jegliche Geschlechtsteile und was man damit so machen kann. Warum ist das denn so negativ behaftet? Ich glaube aus reiner Prüderie. F*cken ist an sich ja eine wundervolle Sache, zwar ein recht harter Ausdruck für hohes körperlich-sinnliches Glück, aber dennoch. Auch der W*chser scheint ein Unhold zu sein. Dabei kann Selbstbefriedigung doch eine wunderbare Angelegenheit sein! Dass das so schmuddelig konnotiert ist, liegt meines Erachtens wirklich daran, dass unsere Gesellschaft ein ganz skurriles Verhältnis zu Körpern und Sex hat. Drüber reden ist schon ungewöhnlich, obwohl es oft normal und schön ist. Dann wird es halt - mir nichts, dir nichts - überspitzt als Beleidigung genutzt. Finde ich dumm.
Auf der einen Seite lässt es sich viel konkreter und verletzender beleidigen, wenn man denn möchte oder halt in so niedlichen Formen, die ich präferiere, du Pappnase, Knalltüte, Quatschkopf!

Na gut. Genug davon, ihr Flöten. Es soll hier immer noch um Musik gehen. Das beginnt hier:

Sissi Rada
(ms) Antworten gesucht! Woher kommt dieser immense Aufschwung an neu-klassischer Musik? Alles rund ums Klavier erlebt schon seit ein paar Jahren eine extrem popkulturelle Belebung. Martin Kohlstedt, Olafur Arnalds, Hania Rani. Anne Müller ist keine neue Interpretin, aber ihre Art und Weise das Cello zu spielen hat wenig mit kammerorchestralen Bühnen zu tun. Nun kommt das nächste Instrument, das ich absolut faszinierend finde: die Harfe! Sissi Rada soll eine sehr begabte Interpretin an diesem wunderschönen Saiteninstrument sein. Den Namen kannte ich vorher auch nicht. Doch hört man in die Musik hinein, wird schnell klar, dass die Harfe nicht mal im Mittelpunkt steht. Viel mehr entwickeln sich elektronisch-sphärische Klänge um sie herum, auch Gesang ist zu vernehmen. Es bekommt einem enorm atmosphärischen Sound, warm und mysteriös. Und vielversprechend! Am 19. November erscheint ihr Album Nanodiamond, ich bin mehr als gespannt!
Nächste Frage: Was kommt als nächstes? Das Cembalo? Die Nasenflöte?

The Weather Station
(ms) Dieser Tage kam eine Mail rein, die das erste Weihnachtsalbum angekündigt hat. Von einer großen, deutschsprachigen Punkrockband. Im Zuge dieses Schwachsinns dachte ich drüber nach, was mich denn bislang in diesem Jahr schon so wirklich überzeugt hat. Ganz vorne dabei ist Tamara Lindeman, die mit ihrer Band The Weather Station ein fulminantes Album hingelegt hat. Auf der einen Seite ist Ignorance recht eingängig, auf der Anderen aber derart künstlerisch ausgeschmückt und mit so vielen feinen, schönen, tollen, hörenswerten Details versehen, dass es mir die Sprache verschlägt. Heute erscheint eine erweiterte Version der Platte digital. Eigentlich finde ich das quatschig, aber wenn es sich um so ein harmonisches, rundes, großes Werk geht, werde ich schwach. In der Deluxe-Version warten zwei neue Stücke, sowie die Instrumentale und Live-Versionen. Am 19. November folgt die physische Variante als Doppel-LP! Ich hab Bock! Zum Glück kann das nächstes Jahr auch hier live bestaunt werden:

28.03.2022 - Berlin - Frannz Club
04.04.2022 - Hamburg - Nochtwache
05.04.2022 - Köln - Blue Shell
06.04.2022 - München -Milla

Eins und Zwei und Drei und Vier
(ms) Es gibt sicherlich viele Menschen, die mir absprechen würden, über Musik aus den 80ern zu urteilen, weil ich schlichtweg viel zu jung dafür bin. Als Jahrgang '90 habe ich mit der Musik des Jahrzehnts vor meiner Geburt halt absolut nichts zu tun. Urteilen kann aber jeder meines Erachtens. Insbesondere, wenn die Musik so derart stark war! Damit meine ich nicht die kommerziell erfolgreichen Bands, sondern alles, was daneben, dazwischen, darunter entstanden ist. Vieles davon hat auch erst im Nachhinein an Reminiszenz gewonnen. Heute erscheint der Sampler Eins und Zwei und Drei und Vier mit Popmusik, die neben dem großen Schweinwerferlicht erklang. 20 Tracks - 71 Minuten deutschsprachige Musikgeschichte, die das extrem geschmackvolle Label Bureau B da zusammengetragen hat. Besonders gefällt mir dieser oft auftretende programmatischer Charakter, gepaart mit einem gewissen Schmunzeln wie auf Mein Walkman Ist Kaputt von P!OFF? Auch große, streitbare Interpreten wie der Pyrolator ist mit dem Stück Im Zoo darauf zu finden. Besonders stark wird es halt bei ganz wichtigen, gesellschaftspolitischen Liedern; da stecken Östro040 selbstredend mit Sexueller Notstand ins Auge. Dies ist nicht nur eine Reise in die Vergangenheit, sondern auch eine Bewusstmachung, wie kreativ und stark die Musiklandschaft hier immer schon gewesen ist, auch wenn ihr der Ruhm vergönnt war, Anerkennung haben sie alle geerntet! Und wenn nicht damals, dann mit dieser Compilation! 

Wet Leg
(ms) Was würde Jürgen Drews zu diesem Video sagen?! Ja, oft braucht es nur diese eine völlig bescheuerte Idee und wir berichten drüber. Anhaltspunkt bei Wet Leg ist selbstredend dieses Video. Also: Wie kommt man drauf? Egal, finde ich super. Einfach ein paar Dinge zusammen schmeißen, die so gar nichts miteinander zu tun haben und der Clip ist fertig. Kommt er obendrein mit einem derart catchy Gitarrenpopflair daher, bin ich hin und weg. Was Rhian Teasdale und Hester Chambers mit dem Track Wet Dream geschaffen haben, ist irgendwo zwischen tanzbarem Indiepop, Funk und ganz viel Leichtigkeit. In Großbritannien starten sie anscheinend momentan richtig durch, touren recht wild und einige Shows sind bereits ausverkauft. Hoffen wir, dass sie diesen Wahnsinn auch bald hier auf die Bühnen bringen werden!