Freitag, 29. Januar 2021

KW 4, 2021: Die luserlounge selektiert

Bild: pixabay.com
(ms/sb) Mittwoch war der 27. Januar. Vor 76 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau von der Roten Armee befreit. Dieser Tag sollte ein offizieller Gedenktag sein, an dem staatliche Einrichtungen und Unternehmen dazu aufgefordert werden, sich mit ihrer eigenen Geschichte auseinander zu setzen und Wege initiieren, wie wir eine Gegenwart mit weniger Rassismen und Ausgrenzungen realisieren können. Klar, vereinzelt passiert das natürlich. Doch - insbesondere in Zeiten, wo die krudesten Mythen miteinander in Verbindung gebracht werden - gilt dies noch mehr.
Daher möchte ich an dieser Stelle von einem kleinen Ereignis berichten, wie auch im Lockdown nicht nur Gedenken stattfinden kann, sondern auch produktiver Austausch, wie wir das Heute lesen können und uns darüber austauschen: Die Fußballmannschaften sind in der luserlounge klar verteilt. Ich, ms, bin Mitglied beim FC Sankt Pauli, sb hängt leidenschaftlich am TSV 1860 München. Der Fanladen Sankt Pauli veranstaltete am Mittwoch Abend eine Online-Diskussion via Zoom. Diese war öffentlich zugänglich und gut 300 Leute haben daran teilgenommen. Klar, an privaten oder beruflichen Online-Konferenzen habe ich auch teilgenommen, doch so eine Form der Veranstaltungsteilnahme war mir neu. Sehr gut hat es geklappt, technisch und organisatorisch. Zwei kleine Vorträge waren zu hören. Zum Einen ging es um die Historie des Antisemitismus in Hamburg und zum anderen wie sich antisemitische Mythen und Judenhass bei Corona-/Impfgegnern breit macht. Ein spannender, höchst informativer Abend, der Gedenken mit Handeln verknüpfte. Mehr davon! Es gilt: Kein Vergeben, kein Vergessen!

Von Ernst zu Unterhaltung. Wir sind und bleiben ein Musikblog. Also: Lauscher auf! Es geht ab:
 
Lina Maly x Dead Rabbit
(sb) Letzte Nacht hat es hier am Bodensee wieder geschneit. Viel zu wenig Schlaf. Ich bin müde und friere. Musik an. Wohltuend. Nicht nur namentlich ist die Winter EP (VÖ: 22.01.) von Lina Maly und Dead Rabbit, das Beste, was passieren konnte. Die beiden nehmen mich in den Arm, wärmen mich, bringen mir Verständnis entgegen. Dieser Schwermut, diese Hoffnung - ja, das kann ich gerade bestens nachvollziehen. So, jetzt erstmal nen Kaffee, dann schaut die Welt wieder anders aus. Was bleibt: Diese vier Songs sind ganz große Klasse. Seelenheil.
 

Monta
(ms) Die beiden Schreiber der luserlounge sind sich nicht immer einig in dem, was man so gut findet. Klar, normal. Geschmack. Insbesondere bei Musik. Es gibt auch nicht allzu viele gemeinsame KünstlerInnen, bei denen wir beide direkt Schnappatmung bekommen, wenn es etwas Neues gibt. Doch ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass uns beiden bei Monta der ein oder andere Herzschlag abhanden kommt. Tobias Kuhn ist einfach eine unscheinbare lebende Legende. Was waren Miles ihrer Zeit voraus, was hat er in seinen Solo-Veröffentlichungen für Lieder geschrieben, die mit einer wunderschönen, zeitlosen Melancholie gesegnet sind. Zwischen Traurigkeit und Liebeslied - Tobi Kuhn gelingt das alles. Er produzierte Uhlmann und Die Toten Hosen und ist aktuell mit The Kooks im Studio. Würzburg weltweit. Say Goodbye ist anscheinend ein etwas älterer Track, der aber jetzt erst ans Tageslicht kam. Dem Lied liegt die gute, alte Monta-Atmosphäre inne. Wunderbare Schwere, leichter Schwermut, tiefe Gefühle und jede Menge Aufrichtigkeit ohne Kitsch. Also bitte: Heavy Rotation! Danke!

PS: Da kommt natürlich der alte Hoffnung auf eine neue Platte auf. Die Wahrscheinlichkeit ist gering, doch das freudige, leise Warten hält an.



Mine
(ms) Wo fängt man an, wenn man über Mine berichten möchte? Gute Frage, schwere Antwort. Seit Jahren schärft sie mit ihrem Output ihr eigenes Bild einer kompletten Künstlerin. Zudem war sie für mich persönlich die absolute Heldin der Lockdown-Kunst. Ihre Quarantöne-Songs sind perfekt eingespielt, haben teilweise noch mehr Dichte bekommen, großartig und berührend! Mine ist halt jemand, der ungern Dinge alleine macht. Anstatt ihre neue Single Unfall mir-nichts-dir-nichts in den digitalen Raum zu hauen, veröffentlichte sie bereits im Dezember Text, Arrangement und Noten und war gespannt, was andere daraus machen. Ich mein: Wie cool ist das denn?! Dadurch kitzelt sie natürlich auch das künstlerische Potential Anderer heraus - es ist aufgegangen.
Seit gestern ist nun ihre eigene Version zu sehen und hören. Sie lässt einen baff zurück. Verzweifelt, dystopisch, hoffnungslos. Natürlich gibt es viele tolle Dinge, die auf der Erde gut laufen, keine Frage. Doch Mine sagt eben auch wie es ist: Viel zu viel läuft schief, die Welt brennt. In drei Minuten und vierzehn Sekunden stellt sie die großen Fragen: Freiheit, Hunger, Elend, Geborgenheit. Das Spannende hierbei sind die Gegensätzlichkeiten des Videos, dessen Optik mir nicht zusagt, doch die Botschaften sind knallhart. Es ist kritisch, selbstkritisch. Bei all den Fragen, die sie aufwirft, kann man behaupten, dass Mine sich auf der Seite der Privilegierten sieht. Hand auf's Herz: Ich bin es auch. Die nächste große Frage: Was stelle ich damit an? Nicht nur der Text haut direkt in die Magengrube - das ist ihre eine große Stärke: Mine ist eine phantastische, feinfühlige und knallharte Texterin. Und - ich lehne mich etwas aus dem Fenster - eine noch bessere Musikerin: Die Instrumentierung, die Dynamik dies Liedes sind bestechend. Fängt es verhältnismäßig dezent an, so steigert es sich immer weiter. Die Hoffnungslosigkeit des Textes wird durch die Dramatik der Musik ergänzt - das hier ist wahre Kunst. Ganz groß. Punkt.

Die Platte Hinüber erscheint am 30. April. Jetzt schon ein heißer Anwärter für Album des Jahres. Keine Übertreibung! 
 
 

Typhoon
(sb) Völlig unangekündigt veröffentlichten Typhoon am 22.01. ihr neues Album Sympathetic Magic. Keine Promo, keine mysteriösen Social Media-Posts, die dann trotz aller Geheimhaltung eh schon immer verraten, dass was kommen wird. Nichts. Umso größer war die Überraschung und Freude, als die zwölf Tracks eintrudelten und sich mit ihrer Folk-/Americana-Melange ihren Weg in den Gehörgang bahnten. So harmlos das beim oberflächlichen Hinhören auch daherkommt: Textlich birgt Sympathetic Magic einigen Zündstoff, hat etliche politische Referenzen und setzt sich nicht zuletzt mit der Zerrissenheit der amerikanischen Heimat der Band auseinander. Musikalisch dürften sich Freunde von Kristoffer Aström, Monta, William Fitzsimmons und The Decemberists hier wohlfühlen. Ich tus auch. 


Milliarden
(sb) Geduld ist das Vertrauen, dass alles kommt, wenn die Zeit reif ist. Zum Beispiel die Erkenntnis, dass Schuldig (VÖ: 05.02.) ein richtig gutes Album ist. Warum Geduld? Weil ich total heiß darauf war, die Scheibe endlich zu hören, nachdem ich den Vorgänger Berlin (2018) so großartig fand. Und dann trudelte das neue Werk ein, ich war überhaupt nicht in der Stimmung dafür, hörte mir die elf Tracks an und dachte nur so: "Hm."
Und so fristete das Album ein paar Tage ein graues Dasein auf der Festplatte und wurde nicht angerührt - bis die Zeit reif war. Anschalten, aufdrehen, zuhören. Klingt erstmal ziemlich rotzig, Berlin halt. Und es knallt, gerade weil es ziemlich abwechslungsreich ist und nicht nur auf die Zwölf gibt. Es gibts ja Bands und Alben, bei denen man festhalten kann, dass sie am Besten sind, wenn sie leise Töne anschlagen oder die Rockband raushängen lassen. Bei Milliarden funktioniert das nicht und man würde es sich auch deutlich zu einfach machen. Dafür ist Schuldig einfach zu vielschichtig und zu emotional beheftet - völlig unabhängig von der Art und Weise der Präsentation.
 

Mono
(ms) Wann, wenn nicht jetzt sich einmal völlig von der Realität entsagen?! Genau! Zeit ist ja hoffentlich da. Ablenkung ist notwendig und halt nur rar zu finden. Ein Glück, dass es Bands wie Mono gibt. Seit zwanzig Jahren prägen sie ihren eigenen Stil. Klingt komisch, ist aber so. Man könnte sagen, dass Mono eine härtere Entwicklung von Post-Rock erfunden haben und ihre eigenen Meister sind. Groß, cineastisch, fulminant, bildgewaltig. Und das alles weitestgehend ohne Gesang, sondern auch mit viel Krach, der sich perfekt mit Harmonie verschmolzen hat. Am 19. März veröffentlicht die Band eine absolute Rarität für jedermann: Ein Livekonzert mit Orchester! Das haben sie selbst nur wenige Male auf die Bühne gebracht, nun teilen sie es mit allen, die wollen. Und das Wollen wird belohnt. Der Trailer von Beyond The Past ist schon vielversprechend, Kenner der Band wissen, dass es breit und groß und phasenweise erdrückend sein wird. Wir dürfen schon die ganze Platte hören und können behaupten: Legt euch diese Platte zu, kapselt euch für zwei Stunden (!) ab und genießt dieses Klagereignis. Zur Veröffentlichung kommt dann eine ausführlicher Hörempfehlung!


Sedlmeir
(ms) Was klingt wie eine etwas langsamere Vereinigung von Die Liga Der Gewöhnlichen Gentlemen und Bernd Begemann mit mehr elektronischer Gitarre und Drive ist niemand geringeres als Henning Seldmeir. Und der singt mitten aus seinem Leben. Die Neuen Alten ist eine Hymne auf die eigene Generation. Da hat er wohl gemerkt, zu welcher Gruppe er gehört mit 54. Ein paar Jahre älter und er hätte FFP2-Masken geschenkt bekommen qua Alter. So ist es. Er singt einfach darüber, wie es ist. Ist das nicht phantastisch? Hier werden keine Hirnwindungen künstlich verschraubt und neu zusammen gelötet bis man gar nichts mehr versteht. Ein Indierock-Song, wie er im Buche steht. Irgendwo zwischen harter Realität und "fick dich ins Knie". So einfach - so genial.

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