Freitag, 27. November 2020

KW 48, 2020: Die luserlounge selektiert!

(sb/ms) Mal wieder eine Geschichte aus dem Alltag: Um kurz vor sieben komme ich morgens am Ort an, wo ich arbeite, schwinge mich auf's Rad und düse zum Ziel. Auf dem Weg passiere ich geschlossene Geschäfte, müde Menschen, dunkle Straßen und angehende Lichter in Wohnungen. Unter anderem führt mein Weg an der örtlichen Sparkasse vorbei. Hinter der Filiale ist ein angemessen großer Parkplatz, damit genügend Menschen Geld abheben, einen Kredit beantragen oder ein Konto eröffnen können. Ungern fahre ich in den letzten Tagen genau dort vorbei, da ich die absolute Ruhe, die morgens herrscht, sehr genieße. Dieses sehr lange, intensive Durchatmen, bevor es los geht. Doch der Hausmeister (o.ä.) der Sparkassenfiliale hat etwas gegen diesen meinen entspannten Gemütszustand. Früh, sehr früh scheint er in den Raum zu gehen, wo er die Gerätschaften für die äußeren Grünanlagen aufbewahrt, holt das Höllengerät da heraus und stapft in die frühe Dunkelheit. Mit Elan (so stelle ich es mir zumindest vor) drückt er den Knopf der Büchse der Pandora und dann ist es nur noch laut. Elendig laut. Nervig laut. Dann schwingt er mit geübten Bewegungen einen einhändig zu bedienenden Laubbläser von rechts nach links, damit sich bloß niemand auf dem Geldparkplatz den Knöchel bricht. Eltern haften für ihre Kinder. Argh! Gruselig. Dieses markerschütternde Dröhnen dieses unendlich doofen Geräts am frühen Morgen. Lieber Mitmensch: Lass das sein. Blase doch, wenn alle anderen Menschen wach sind. Bitte. Bitte. Bitte.

Doch hier geht es um Musik. Die dröhnt auch nicht. Außer man möchte es. Luserlounge. Freitag. Selektion.

Nils Frahm
(ms) Wenn bestimmte Namen Neues ankündigen, macht das einfach neugierig. Nils Frahm gehört definitiv dazu. Ein harmonischer Klangtüftler sondergleichen. Mit scheinbar einfachsten Mitteln lässt er nach und nach Soundbilder entstehen, die wundervoll die Seele beruhigen. Nun wird er endlich wieder ein Album veröffentlichen, das auf den Namen Tipping With Nils Frahm heißt und am 3. Dezember erscheinen wird, also kommende Woche bereits! Die physische Version folgt dann im Januar. Ganz ehrlich gesagt, habe ich diese Versetzung von unterschiedlichen Veröffentlichungswegen nicht so richtig verstanden. Soll es wirklich schon vor Weihnachten hörbar sein? Nun gut...
Das wirklich Tolle ist, dass passend zum Album auch ein Konzertfilm erscheinen wird, den man sich dann selbstredend online anschauen kann. In den letzten zwei Jahren, direkt nach Erscheinen von All Melody, seinem letzten bemerkenswerten Album, tourte er eine Menge durch die angesehenen Hallen weltweit und löste tosende Begegnungen aus. Ja, ihm dabei zuzusehen, wie er seine Lieder aufbaut, an allerhand Knöpfen dreht und Tasten drückt, das wird nicht langweilig. Einen wirklich lohnenswerten Eindruck aus diesem Film und dem dazugehörigen Klang bietet Fudamental Values, satte 14 Minuten kann man Frahm bei der Arbeit zusehen. Und was sind die entscheidenden Werte? Klar: Ruhe, Kreativität, Genuss, Spiritualität, Musik. Ab dafür!

 

A Burial At Sea
(ms) Das Wichtige im Musikgeschäft ist ja, durchaus einer gewissen Spielweise, einem Wiedererkennungseffekt treu zu bleiben und sich gleichzeitig von anderen Akteuren seines Genres abzugrenzen. Oft eine ganz schöne Herausforderung. So stelle ich mir das zumindest vor. Nicht beliebig sein und dennoch nicht vollkommen abzudrehen. Das haben A Burial At Sea ziemlich gut gemeistert. Vergangenen Freitag erschien das neue Album der Briten, das sie der Einfachheit halber nach sich selbst benannt haben. EF oder neànder machen auch wuchtigen instrumentalen (Post)Rock, sind aber deutlich vom Klang zu trennen. Was A Burial At Sea auszeichnet: Zum Einen verwenden sie extrem klug den Einsatz von Trompetenklängen. Oft wechselt sie sich mit den häufig dominierenden Gitarren ab. Dann wechseln sie oft die Elemente innerhalb eines einzigen Liedes. Es entstehen unvorhergesehene, kurze Pausen. Dann ziehen sie erneut das Tempo an, ehe sie wieder die Richtung des Liedes ändern. Eine klare Richtschnur ist nicht immer zu erkennen, macht aber nix. So bleibt es spannend genau an den Stellen, wenn man denkt, hier könnte ein wenig Abwechslung gut tun. Ob das genauso intendiert ist oder ein Effekt des Zufalls ist... ich weiß es nicht. Die neun Tracks der Platte sind Beweis genug, dass ihre Idee sehr stimmig aufgeht!
Zudem haben sie zu D'Accord ein irres Knet-Video anfertigen lassen. Sehenswert, weil vollkommen schräg und irre.

TV Smith
(sb) Er ist eine Legende, keine Frage. TV Smith zählt mittlerweile 64 Lenze, aber müde ist er noch lange nicht. Dass die Auswirkungen den Corona-Pandemie dem Briten zu schaffen gemacht haben, ist jedoch nicht von der Hand zu weisen und spiegeln sich auf auf seinem neuen Album Lockdown Holiday (VÖ: heute!) wider. Nachdenklich, bitterböse und pendelnd zwischen Niedergeschlagenheit und Kampfgeist - als Stimme der Gesellschaft funktioniert TV Smith bestens und klingt dabei mitunter sehr ähnlich wie der Kollege Billy Bragg, was ja alles andere als negativ zu bewerten ist. Aber wer seit den 70er Jahren auf der Bühne steht und als Mitbegründer des Punk gilt, der hat schon ganz andere Situationen gemeistert und Kraft und Inspiration daraus geschöpft.


Minimal Schlager feat Eddie Argos & Laura Lee 
(ms) Eigentlich ist das, worum es hier geht, ja das absolute Grauen: Moderne Weihnachtslieder. Mir persönlich reichen die guten alten Klassiker, auch gerne WHAM!, das gebe ich unumwunden zu. Doch es gibt so gute, schräge Kombinationen an KünstlerInnen, dass es nicht nur überzeugt, sondern auch tanzbar ist. Zum Glück machen Minimal Schlager andere Musik als ihre Name nahe legt. Vielmehr tüftelt das Duo an zurück gelehnten Disco-Beats der 80er, um sie ins Heute zu transferieren. Wenn dann noch Laura Lee von Gurr und der von uns verehrte Eddie Argos (Art Brut!) mit im Boot sitzen, um ein Weihnachtslied zu singen, muss man berichten. Ein satter, aber nicht überstrapazierter Bass dominiert Fireworks, den gemeinsamen Track. Hier beweist sich Argos mal wieder als besserer Sprecher als Sänger. Laura Lee befördert durch ihren Gesangspart das Lied auf eine angenehm poppige Art. Da das gemeinsame Abfeiern in einem Club momentan ja nicht drin ist, folgender, einfacher Tipp: Das Lied zu Hause laut drehen, den Glühwein aufsetzen und auf Socken tanzen! Ab geht's! 

Marcel Gein
(sb) Puh, schwierig. Wie soll ich das neue Album von Marcel Gein denn nun bewerten? Für mich ist das gaaaaaaaaaaanz nah dran an PeterLicht und mir fehlt die erhoffte Tiefe oder vielmehr: der Zugang zu seiner Welt. Klar, Good Morning Erlenbach (VÖ: 04.12.) geht gut ins Ohr, läuft wunderbar nebenher, aber ich kann mir nur schwer vorstellen, in welcher Stimmung ich sein müsste, um mir das öfter und bewusster anzuhören. Es ist durchaus bewundernswert, wie der Dauer-Tourer seine Geschichten in Worte und Melodien verpackt, es gelingt mir jedoch nicht, den Einstieg zu finden, an die Stories anzuknüpfen und Teil des Ganzen zu werden. Bitte nicht falsch verstehen: Ich werfe das dem Sänger keineswegs vor, es führt jedoch dazu, dass ich im Endeffekt wenig Begeisterung aufbringen kann. Leider.


FEE.
(sb) Ich kann Wir Sind Helden nicht mehr hören und Judith Holofernes pack ich seit jeher nicht. Muss ich aber auch nicht, denn mit FEE. tritt nun eine junge Künstlerin in ihre Fußstapfen, die mit ihrem Ungestüm, Anflügen von Naivität, aber auch Selbstironie und unerwarteter Abgeklärtheit eine Attitüde transportiert, die die deutsche Poplandschaft bestens vertragen kann. Ich bin ehrlich: Ich wollte mir Nachtluft (VÖ: 04.12.) eigentlich gar nicht hören, die ersten Snippets sprachen mich nicht an. Nun bin ich aber sehr froh, dass ich dem Album trotzdem eine Chance gab, denn die variantenreiche Musik der Künstlerin offenbart ein enormes Potenzial, das noch lange nicht ausgeschöpft ist. Eine Stimme, die von rotzig bis zutiefst sensibel alles kann, ein abwechslungsreiches Songwriting - wir werden noch viel von FEE. hören, da leg ich mich fest.

 
Val Sinestra 
(ms) Ja, wir neigen zunehmend zu den ruhigen, klavierbasierten Tönen. Doch man kann nicht immer nur inne halten. Man muss ja auch mal ausbrechen. So, so liebend gern völlige Verausgabung vor einer Bühne in einem kleinen Club, in dem der Schweiß von der Decke und durch das T-Shirt tropft, die Boxen ballern, das Bier erfrischt und direkt wieder ausgeschwitzt wird, die Dynamik im Pulk einen auf eine andere Ebene katapultiert und nach dem Gig fühlt man sich wie nach einem Triathlon, den man untrainiert begangen hat. Dazu passt Val Sinestra so richtig, richtig gut. Hört man ihre neue Platte, die selbstverständlich auch Zerlegung heißt und heute (A) erscheint, möchte man am liebsten jemanden umpogen. Doch die Wohnzimmerwand gibt nur ungern nach. Das ist harter Punkrock mit Tempo, Druck und Bock! Klare politische Kante, schönes Abfertigen von Modeerscheinungen, schepperndes Schlagzeug, rotzige Gitarre und tanzender Bass. So soll es sein. Amen.


tunng
(ms) Vor ein paar Jahren besuchte ich das Bestattungsmuseum auf dem Wiener Zentralfriedhof. Ein bizarrer, wundervoller, sehr sehenswerter Ort. Die Geschichte der Bestattung, unterschiedliche Särge. Viel gab es zu sehen. Und das natürlich komplett im Dunklen, so, dass man gerade den Weg finden und sich alles durchlesen konnte. Ja, die Österreicher haben eine besondere Verbindung zum Tod. Viele literarische Zeugen gibt es dafür, von Thomas Bernhard bis Josef Winkler. Eine Band aus UK hat nun den Österreichern ihre morbide Passion gestohlen: tunng. Anfang des Monats veröffentlichte das Sextett ein bemerkenswertes Album, das sie Dead Club nannten: Ein Konzeptalbum über den Tod. Und die Themen der Lieder sind nicht mal eben so bei den Haaren herbei philosophiert in innig-kreativen Momenten mit der Muse. Sondern sie haben recherchiert, mit Experten gesprochen, Todesrituale studiert und sogar eine Reihe an Podcasts veröffentlicht. Man könnte nun annehmen, dass es wirklich dunkel, höchst melancholisch und depressiv zugeht. Weit gefehlt! In der Mitte des Sounds stehen unterschiedliche Synthesizer, ein bisschen Rhythmus, ein bisschen Gitarre und ganz viel, sehr harmonische Tüftelei, die ein tolles, Gesamtklangergebnis erzeugt! Hier ist mal wieder so eine richtig ungewöhnliche Perle des Art-Rock selektiert, die auch in diesem Text viel zu kurz kommt. Also: Hingehört!

Mittwoch, 25. November 2020

Martin Kohlstedt - FLUR

 

Foto: Konrad Schmidt
(ms) Das wirklich Beeindruckende an Chamäleons ist natürlich diese Farbwechselei. Das ist so irre und faszinierend. Da könnte man Essays drüber schreiben und wäre noch nicht bei den verrückten Augen oder dieser verrückten Zunge angekommen. Einerseits passiert dieser Farbwechsel ganz automatisch. Für uns sieht es dennoch so aus, als ob das Tier es genauso wollte. Zudem wirkt es auch unvorhersehbar. Da sind so viele verschiedene Funktionsweisen, Momente des Staunens und der puren Magie, dass man es ohne baff zurück zu bleiben kaum aushalten kann.
Was wie ein etwas holpriger Vergleich klingen mag. Denn so ähnlich verhält es sich auch bei dem gesamten musikalischen Werk von Martin Kohlstedt: Natürlich, erstaunlich, beeindruckend und unvorhersehbar. Da ist auf der einen Seite diese beeindruckende Ruhe und Gelassenheit seiner ersten beiden Alben Tag und Nacht. Beide Platten sind sehr reduziert auf den reinen Klavierklang, schaffen immer wieder Phasen des meditativen Genusses, des Innehaltens. Dann kam Strom und alles bewegte sich mehr. Nun war auf einem Album nachzuhören, was er sonst schon live darbot. Seine Kunst besteht nicht nur im sehr sanften, klaren Klavierspiel, sondern darüber hinaus im Spiel mit elektronischen Klängen, Verzerrungen, Dynamiken der Lautstärke und durchaus Parts und ganze Lieder, zu denen man gerne tanzen möchte. Beide Seiten fanden schlussendlich auf Ströme ihren Meister. Was für ein dichtes, energetisches, rundes, nahe gehendes Werk. Die Zusammenarbeit mit dem Gewandthauschor Leipzig ist ein tolles Klangzeugnis. Das ist nicht New Age, keine Neo Klassik, das ist etwas ganz eigenes. Und das wiederum ist Kunst. Diese bewussten Wechsel der Farbe, des Sounds, der Atmosphäre, die entsteht. Das ist der Chamäleon-Charakter in Martin Kohlstedts musikalischem Schaffen.
Cover der Platte

Nun erscheint am Freitag (27. November) sein nächstes Album. Natürlich könnte man im Vorhinein ein wildes Rätselraten anstellen. Wie wird er dieses Mal klingen? In welche Richtung entwickelt er sich? Welche Nuancen baut er mit ein? Wie ergänzt er sich selbst?
Natürlich. Man könnte die Erwartungen ganz schnell sehr hoch setzen. Immerhin konnte Kohlstedt bislang auf jedem seiner Alben vollends überzeugen. Doch der Wahl-Weimarer geht den besten, aufrechtesten Weg. FLUR, so der Name der Platte, lehnt sich wieder stark an Tag und Nacht an. Pure Klaviertöne. Reine Musik. Wobei das nicht ganz stimmt. Die Reinheit dieses Albums ist nicht nur dadurch gekennzeichnet, dass es mit einem einzigen Instrument aufgenommen wurde. Das, was darüber hinaus zu hören ist, macht es zusätzlich enorm spannend. Denn man hört im Stillen die Mechanik des beeindruckenden Saiteninstruments. Die kleinen Hämmer, die anschlagen. Die Töne, die noch im Raum wabern. Das ist leicht, mutig und auch einfallsreich. Dieser pure Sound dominiert dieses Album auf zauberhafte Art und Weise.
Dabei ist der Weg, wie man dieses tolle Album hört, durchaus entscheidend. Zum Einen spielt der mechanisch-technische Aspekt eine Rolle: Über welche Boxen sollte man Kohlstedt genießen? Im Auto halte ich es für Perlen vor die Säue. Da geht viel zu viel flöten, das man genießen muss, kann, darf, soll. Die heimische Anlage ist für uns Audiophile natürlich die erste Wahl. Da sollte man laut drehen, aber nicht überstrapazieren, um die Ruhe nicht zu übertönen. Am besten funktioniert es - meines Erachtens - über gute Kopfhörer, die die Außenwelt abschirmen. Denn genau das tut auch FLUR sehr gut: Die Außenwelt abschirmen. Wenn wirklich gar nichts mehr stören kann, dann erlebt dieses Album seine Sternstunden.



Wie so häufig ist es bei moderner Klaviermusik schwierig, einzelne Lieder raus zu picken, die besonders hörenswert sind. Vielmehr entwickeln diese Alben ihren Zauber über die gesamte Spieldauer. Das Fortschreiten im Hörprozess ermöglicht den höheren Genuss! LUN eröffnet das Werk mit gewohnter Ruhe und schon bei ZIN lohnt das sehr aufmerksame Hinhören. Denn es ist nicht nur ein Lied, was in seiner Eleganz leicht verspielt daher kommt. Sondern im Hintergrund, und insbesondere zum Ende hin, ist wunderschöner Regentropfenklang zu vernehmen. QUO ist vielleicht das klassischste Stück auf FLUR in seiner Schlichtheit und Anmut, wo die linke Hand den Boden ebnet und die rechte ein wenig darauf herumtänzelt. Von Melancholie oder Schwermut, gar opulenter Dramatik, ist diese Platte weit entfernt. Doch wenn es ein Stück gibt, das einen etwas andächtigen Charakter aufweist, dann ist es PAN. Von leichter Dissonanz und zugleich aufrechter Vehemenz ist hingegen NOX geprägt. Aus dem aristokratischen Schwung zu Beginn von XEO entwickelt sich ein Lied zwischen leiser Zartheit und dezentem Temperament. Auch auf RUL denkt man, dass die linke treibende Hand von der rechten in ihren größeren Tönen agiert.
Abwechslungsreich im Farbenwechsel. Zart in seinen Nuancen. Pur im Klag. So ist FLUR.

Genauso leise und eindrücklich sind die Videos, die Kohlstedt zu einigen der Lieder hat drehen lassen. Es zog ihn an stille, wunderschöne Orte, um zu spielen und dabei die Kamera drauf zu halten. An die dänische Nordsee, auf seinen Balkon, in eine Gartensiedlung, wo QUO samt gänsehautauslösendem Bläsereinsatz (leider nicht auf der Platte) dargeboten wird.

Morgen, am 26. November präsentiert Martin Kohlstedt sein sehr, sehr hörenswertes neues Album FLUR live auf YouTube um 20 Uhr. Digitale Releaseparty. Was es nicht alles gibt...

Freitag, 20. November 2020

KW 47, 2020: Die luserlounge selektiert

Bild: 47brand.com.au
(ms/sb) Da wir unser liebes Geld ja momentan für Konzertkarten nicht verschleudern können und dem einen noch größeren Konsumhedonismus drauf setzen können, indem wir noch ein paar Scheine an der Theke des Clubs lassen, bleibt uns nicht mehr soo viel übrig. Klar, Platten kaufen! Am besten im lieb gewonnenen Laden des Vertrauens oder direkt beim Anbieter im Netz (d.h. nienienie bei Amazon!).
Oder halt für Merchandise vergeuden. Wobei die reine Verschwendung da nicht immer der korrekte Begriff ist. Einige Accessoires braucht man einfach. Und eine Band schafft es, diesem Irrsinn eine so extrem feine, gute, pfiffige, ausgeklügelte, ehrliche und beeindruckende Note zu verleihen, dass man nur noch zugreifen muss. Klar. Wir sprechen hier von unserem liebsten Kölner Trio Fortuna Ehrenfeld. Reinegruppe Seltsam. Auf dem Weg ins Shoppingparadies. Was hat Martin Bechler nicht schon alles anfertigen lassen?! Eine wunderschöne Puppe, faire Shirts (logo), Kaffee und einen eigenen Wein. Wer kann, der kann. Jetzt wird so derart einer drauf gesetzt, dass es kracht. Bechler ist dafür bekannt, dass er ausschließlich im Schlafanzug auftritt. Es ist das ungebrochene Markenzeichen. Und so ein geiles noch dazu. Was läge dem näher, als diesen Schlafanzug anfertigen zu lassen und ihn zum Verkauf anzubieten? Genau. Bald ist es soweit und der Fortuna-Schlafi ist shoppbar. Hier hergestellt, superfair, superbio, keine dubiosen Zwischenhändler, alles aus vertrauensvollen Quellen. Und das ist halt keine Attitüde bei den Dreien. Es ist aufrecht, ehrlich und genauso gemeint. Das ist phantastisch. Und man nimmt es ihnen ab. Man kauft es ihnen ab. Alter! Ein Schlafanzug von einer Band! Wie geil kann es noch kommen?!

Da kann unsere liebgewonnene Selektion kaum mithalten! Oder? Überzeugt euch selbst. Abfahrt!

Lina Maly x Dead Rabbit
(sb) Ganz perfide hat sich Lina Maly in mein Bewusstsein geschlichen - über einzelne Tracks, TV Noir und diverse Samplerbeiträge. Und jetzt ist sie da und geht nicht mehr weg. Gott sei Dank! Erst kürzlich habe ich mir zwei Alben aus der Bücherei ausgeliehen und ihre letzte EP in der Selektion besprochen und nun legt die 23-Jährige bereits nach: Am 22.01.2021 wird ihre Winter EP erscheinen und bereits jetzt gibt es den ersten Vorboten Alles Schläft (siehe Video) daraus zu hören. Zusammen mit HipHop Produzent Dead Rabbit aus dem Green Berlin-Umfeld (u.a. Marsimoto, Marteria, Samy Deluxe) entstanden insgesamt 4 Songs (und zusätzlich zwei Instrumentals), die die musikalischen Dimensionen der beiden Musiker/-innen vereinen und eine mitunter schwermütige, aber trotzdem hoffnungsvolle Klangwelt schaffen.


David Ost
(sb) Ja, Fire In Alaska klingt nach großer, weiter Welt, nach dem nächsten Hit eines etablierten Singer/Songwriters aus Nordamerika, nach großem Selbstverständnis und Vertrauen darauf, dass sich der Erfolg einstellen wird. Und doch stammt der Track von einem Künstler, der noch auf den ganz großen Durchbruch wartet und diesen (hoffentlich bald) auch erleben wird. David Ost heißt der junge Mann aus Norddeutschland, der in seiner Vita bereits einen Auftritt in der Hamburger Elbphilharmonie aufweisen kann und im kommenden Jahr auch sein Debütalbum veröffentlichen wird. Da haben sich der Schlagzeug- und Klavierunterricht in der Kindheit und Jugend des Künstlers aber mal so richtig rentiert. Wir bleiben dran und freuen uns auf weiteren Folk-Output!


Meanwhile Project Ltd.
(ms) Selbstverständlich sind wir große Freunde von solider Gitarrenmusik. Wenn man eine irgendwie geartete Basis dieses Blogs finden möchte, den Geschmäckern der beiden Autoren und dem schriftlichen Output dessen, dann sind da oft irgendwie Gitarren. Oft, bei weitem nicht immer. Doch einfach nur Rock oder Gitarrenpop langt uns nicht. Sie braucht schon ein Alleinstellungsmerkmal. Etwas, das packt, begeistert, neugierig macht, hinhören lässt. Diesen Mechanismus haben die beiden Jungs von Meanwhile Project Ltd. ziemlich gut verinnerlicht. Sie haben verstanden, was einem Song, der von der Gitarre dominiert ist, den nötigen Anstich verleiht, um ihn besonders zu machen. Irgendwo zwischen dem guten, alten Indierock aus UK, der Leichtfüßigkeit aus Skandinavien und dem Tüftlergeist von The Notwist bewegen sich Marcus Adam und Marcell Birreck. Im April erschien ihre gemeinsame Platte Namens Marseille. Sehr, sehr, sehr gut hörbar. Viele, tolle verstecke Sounds und Dynamiken. In der Zwischenzeit haben sie es sich natürlich nicht nehmen lassen ihre Lieder remixen zu lassen. Aus dem sehr indierockigen Selina wurde durch MɅIM ein elektronisch überarbeiteter Track, der zwischen Melancholie und verträumtem Tanz oszilliert. Also: Original und Überarbeitung sind sehr, sehr gelungen!



Kraus
(ms) Was uns schnell begeistert und wo wir im wöchentlichen Selektieren schnell sagen: Ja, das gefällt gut, hebt sich irgendwie ab und kann durchaus auch in einigen Wochen und Monaten noch richtig Bock machen: Gute, pfiffige Videos, einprägsame Texte und irgendwie Wumms. All das bringt die Hamburger Band Kraus in jedem Fall mit. Insbesondere der erste Teil des sehenswerten Videos zu Mein Licht ist wirklich schön gemacht. Ob Glitzer in 2020 noch so hip ist, sei mal dahin gestellt. Aber egal. Doch nicht nur die Visualisierung ist anziehend, die Texte hängen dem nicht hinterher. Klar, ein wenig Anlehnung an Die Sterne ist völlig legitim ("Ich würd' so gern mein Leben mit die ruinier'n"). Doch noch besser ist es, wenn der zart beginnende Track ausbricht und nie schmalzig oder gefühlsduselig wird. Man nimmt die Haltung und die Zeilen den Musikern sehr, sehr gut ab. Das macht Spaß. Und der wird noch größer, wenn im April (das hier ist also ein sehr, sehr früher Vorbote) das Album Deine Angstzustände Lügen erscheint. Zurück gelehnt und laut gedreht: 


AnnenMayKantereit
(sb) Hach, was waren AnnenMayKantereit mal vielversprechend und interessant und was haben auch wir die in der luserlounge gehyped, doch bereits das Debüt-Album Alles Nix Konkretes (2016) offenbarte Schwächen in der Konstanz und der Nachfolger Schlagschatten (2018) war streckenweise nah dran an einer akustischen Frechheit. Am vergangenen Dienstag nun veröffentlichte das Trio völlig unangekündigt sein neuestes Werk mit dem schlichten Titel 12. Obwohl durchaus ein paar Titel enthalten sind, die positiv überraschen (v.a. Die letzte Ballade) kann man nur hoffen, dass der Release an möglichst vielen Leuten vorbeigeht, denn im Großen und Ganzen reihen sich hier Pseudo-Betroffenheit, Pseudo-Intellekt und Pseudo-Gefühlsduseligkeit aneinander und da hilft auch die nachwievor grandiose Stimme von Henning May nicht mehr, um den doch sehr durchwachsenen Gesamteindruck zu schönen. Diese Zeiten sind keine schönen und das Album der Kölner passt sich nahtlos an.


Nick Cave
(sb) Bezüglich Nick Cave leide ich zugegebenermaßen unter musikalischer Extrem-Prokrastination. Ich kenne den Australier bestimmt schon an die 30 Jahre, habe aber immer nur einzelne Tracks gehört, die mir zwar samt und sonders gefallen haben, konnte mich aber nie nachhaltig dazu durchringen, mich ausführlich mit dem Werk des mittlerweile 63-Jährigen (!) auseinanderzusetzen. Warum eigentlich? In den vergangenen Tagen trudelte nun sein neues Album Idiot Prayer (Nick Cave Alone At Alexandra Palace) (VÖ: heute!) im luserlounge-Postfach ein und endlichendlichendlich nahm ich mir mal die Zeit, mich der Musik zu widmen und mich ihr hinzugeben - Home Office sei Dank! Aufgenommen hat Cave das Doppel-Album live und alleine im Alexandra Palace - ein wahrhaftig einmaliges Ereignis und das Ergebnis ist fantastisch. Ursprünglich war das Konzert als Exklusivveranstaltung für zahlende Internet-Zuschauer während der Lockdown-Phase geplant, die jetzige Veröffentlichung beinhaltet vier weitere Songs, die damals nicht ausgestrahlt worden waren. Es ist ungemein beeindruckend, welche Tiefe der Künstler seinen Songs alleine mit Stimme und Piano verleiht; da ist Gänsehaut garantiert! Ganz, ganz großartig! Favorit: (Are You) The One That I've Been Waiting For?
 

Lo'Jo
(ms) Vor vielen Jahren haben sich die beiden Autoren dieses Blogs in einer nicht mehr auszudenkenden Welt des Internets kennengelernt: Dem Forum der Sportfreunde Stiller. Ja, kuriose Zeiten. Es war ein tolles, lebhaftes, sehr lesenswertes Forum! Es wurde viel diskutiert, Schwachsinn geschrieben, Befindlichkeiten ausgetauscht. Jung war ich. Sodass mir irgendwann geschrieben wurde: Manche Musik versteht man erst, wenn man älter ist. Wie wahr das ist. Das gilt nicht nur für Diskurs-Pop, Punk und dergleichen. Sondern auch für so etwas, das recht häufig mit Weltmusik beschrieben wird, weil es so international, einmalig, ungewohnt klingt, dass es in keine Schublade passt. Dazu gehören auch Lo'Jo. Zu hören sind teils orientalische oder vorderasiatische Klänge in Kombination mit französischem Gesang. Denis Péan und Richard Bourreau stecken dahinter und laden sich für ihre Album immer wieder Gäste und Freunde ein. Auch bei ihrem kommenden, 18. (!!!) Album Transe De Papier sind unter anderem Robert Wyatt und Tony Allen zu hören. Hier kann man sich schnell verzaubern lassen. Vom ummantelnden Klang und vom tollen Video!


Juse Ju
(ms) Fassungslosigkeit. Das ist der Zustand, der mich in den letzten Tagen und Wochen zunehmend heimsucht. Der ganze Megabullshit in den Vereinigten Staaten, der orangene Mann, der jegliche demokratischen Grundregeln einfach untergräbt. Die mutigen Proteste in Polen gegen die Reform der Abtreibungsgesetze, die leider erstmal nichts bringen. Die nicht endenden, sehr wichtigen Demonstrationen in Belarus, die knallhart niedergekloppt werden. Ein deutscher Innenminister, der bei rechten Preppern (das muss man sich einfach mal reinziehen) eine Waffe (wozu eigentlich) kauft. Ein gräulicher Krieg in Bergkarabach. Idioten in Leipzig. Idioten in Berlin. Nazis, die noch mehr störende Nazis in unser Parlament einschleusen, um zu pöbeln... Fassungslosigkeit. Ein Glück, dass es Juse Ju gibt. Ein Glück, dass er nach seinem unglaublich starken Album noch so einen Song raushaut. Hut ab.
 

 
Bertram
(sb) Herzlich willkommen zu einer 191-sekündigen Offenbarung! Erstmalig angehört, sofort für geil befunden und dann immer wieder laufen lassen... Deutschsprachiger Indie-Rock sollte genau so klingen! Mit Jakuzzi Jerusalem haut Bertram die zweite Single seines Albums Chamäleon (VÖ: 06.11.) raus und trifft damit (zumindest bei mir) voll ins Schwarze. Oida, geht des gut! Schon wieder ein österreichischer Act, den man unbedingt auf dem Zettel haben sollte...


Bayuk & Andreas Vey
(ms) Und ganz zum Schluss ertönen noch ganz leise, wunderbar eindringliche Klänge voller Melancholie und Hoffnung. Ein sorgenvoller Song, der doch so ein herrliches Klangkorsett aufweist. Er ist warm, groß und sehr überzeugend. Der tolle Bayuk hat sich Andreas Vey geschnappt und einen bemerkenswerten Track geschrieben. Ihre beiden Stimmen ergänzen sich prächtig und im Songwriting ist eine Menge Leidenschaft, Finesse und Können zu hören. Hach, ist das jetzt der Herbstsoundtrack? Ja, kann schon gut sein. Hoffentlich kommt nach diesem sehr guten Arms Of Who noch mehr!

Freitag, 13. November 2020

KW 46, 2020: Die luserlounge selektiert

Quelle: facebook.com/46parallel
 (sb/ms) Der Zug ist das perfekte Verkehrsmittel. Das ist Fakt. Hartnäckig weigere ich mich seit vielen Jahren, mir ein Auto anzuschaffen: Wozu auch?! Die Stadt, in der ich wohne ist klein und groß genug, um alles mit dem Rad zu erreichen. Die Arbeitsstelle ist super via Schiene erreichbar. Die Zugpendler sind eine eingeschworene Gemeinschaft. Insbesondere, wenn es morgens recht früh los geht. Denn es gibt mindestens eine ganz wichtige Regel am frühen Morgen: Bloß nicht reden! Es herrscht absolute Stille im Abteil. Einige verlängern den abrupt beendeten Schlaf, andere sind in Musik vertieft, ich lese morgens.
Diesen Codex kennen zum Glück auch die Menschen, die tendenziell die Fahrgäste nerven könnten: Menschen, die im Auftrag des Vekehrsbetriebs eine Umfrage durchführen: Welches Ticket nutzen Sie? Wo sind Sie eingestiegen? Wie sind Sie zum Bahnhof gekommen? Wie werden Sie ihn verlassen? Was ist der Grund Ihrer Reise? Das sind die fünf magischen Fragen. So auch heute morgen. Und der Typ, der dies durchführte, war voller Empathie. Frage freundlich, ob er kurz stören könnte - logisch. Fragte seine Fragen zügig hintereinander. Und anstatt sie nach Antwort in sein Telefon einzugeben, merke er sich das Gesagte und erledigte dies danach in aller Ruhe. Sehr verständnisvoll. Sehr gut.

Hier ist jetzt auch Abfahrt. Klanglich. Manchmal auch visuell. Luserlounge. Freitag. Selektion!

Audio88 & Yassin
(ms) Im März ging es los. Die große Absagewelle von Konzerten. Am 27.3. sollten Audio88 & Yassin im Lüneburger Salon Hansen aufspielen. Ich hatte so unendlich viel Bock auf diesen Gig! Direkt danach sollte der Urlaub beginnen. Doch dann kam alles anders - Frust übersäte die Stimmung. Weitere Absagen folgen. Und jetzt kommen die Ansagen! Unglaublich gut und sehr, sehr stark. Denn dieses verrückte Duo haut eine neue Platte raus. Friedvoll und gesittet wie man sie kennt, wird Todesliste am 12. Februar erscheinen. Auf dem dazugehörigen Vorboten Schlechtes Gewissen hallt es nur so von astreinem Battlerap! In Zeiten großer Ungewissheiten ist es ja auch wichtig zu wissen, gegen wen man sich musikalisch stellt. Und wenn es da eine Kombo gibt, die gerne und zurecht ordentlich auf die Kacke haut, dann Audio und Yassin. Spannend dabei zu beobachten ist, dass die wuchtigeren Beats und auch die Nutzung von Autotune aus Yassins Solo-Album mit in die gemeinsame Arbeit geflossen sind: Passt! Quintessenz - Vorfreude: Sehr groß!

 

System Of A Down
(ms) Die interessanteste Frage zu dem neuen Material von System Of A Down habe ich irgendwo bei Facebook aufgeschnappt: Brauchen wir diese neuen Songs? Zwei Mal gehört und zwei Mal den dazugehörigen, sehr wichtigen Text durchgelesen. Dann gibt es nur eine Antwort: Auf jeden Fall! Einigen wir uns so: Musikalisch sind die beiden neuen Tracks der Armenier keine große Überraschung. Protect The Land ist sogar eher ein wenig langweilig. Genocidal Humanoidz ist wesentlich spannender und geht viel mehr in diese ungehaltene, temporeiche, leicht verrückte Richtung, für die man das Quintett seit Langem verehrt. Natürlich ist es auch einfach sehr schön, dass sie nach 15 Jahren (!!!) wieder gemeinsam musiziert haben; wie oft war von einer Auflösung die Rede?! Viel wurde spekuliert. Ihre Motivation für diese beiden Tracks liegt auf der Hand. Bergkarabach (Arzach) wird durch einen grausamen Angriffskrieg der Türkei und Aserbaidschan zunichte gemacht, die Bevölkerung ausradiert. Und niemand hier regt sich auf. Bis auf einen, von dem man es nicht zwingend erwartet hat: Martin Sonneborn. Der hat hier einen sehr, sehr sehenswerten Film über den Konflikt und die irre Dramatik dessen veröffentlicht. Auch Serj Tankian und Co. setzen sich für Bergkarabach ein und sammeln Geld. Das ist gut. Ihre laute, wütende, mahnende Stimme ist wichtig für einen Konflikt, der leider auf weltpolitischer Ebene vollkommen unter dem Radar läuft und wo täglich Menschen getötet werden. Damit sollte die Frage ob der Notwendigkeit der beiden Lieder geklärt sein.


Psychedelic Porn Crumpets
(ms) Musik ist eben nicht nur Klang. Es geht weit darüber hinaus. Schließlich sprechen wir hier von Kunst. Es ist auch Performance, Lyrik, Selbstverwirklichung, Leben, Traum. Aber halt auch oft Visuelles. Es ist sehr schön und seltsam zugleich, dass viele Bands noch große Mühe und Liebe zum Detail in ein Musikvideo stecken, wo das Musikhören wahnsinnig individualisiert ist und es keinen wirklichen Kanalisierungspunkt wie einst das Musikfernsehen gibt. Ein irres, tolles, ja völlig verrücktes Musikvideo haben die völlig verrückten Jungs von Psychedelic Porn Crumpets anfertigen lassen. Ja, es wurde nicht nur gedreht. Sondern in allerbester Wallace & Gromit-Manier geknetet. Was muss das für ein irrer Aufwand gewesen sein? Nicht nur das schiere Tempo und die knalligen Farben passen zu der ohnehin pausenlosen Musik der Australier. Auch die Kreativität hinter der Geschichte, die hier erzählt wird: Irgendein herrlich-kruder Mix aus Star Wars und MacGyver. Ollie Jones steckt hinter der sehr sehenswerten Umsetzung zu Tally-Ho dieses ohnehin knalligen Songs. Tempo, Tempo, Tempo, schieres Tempo. Knallknallknall. Stark!
Die Platte SHYGA! The Sunlight Mound erscheint im Februar!


Ólafur Arnalds
(sb) Normalerweise saugen wir zwei luserlounger die Musik von Ólafur Arnalds auf wie ein Schwamm jedes Tröpfchen Wasser und es entsteht ein regelrechter Battle darum, wer das Album bespricht und - im Idealfall - auch ein physisches Bemusterungsexemplar erhält. Vermutlich wäre es auch bei some kind of peace (VÖ: 06.11.) ähnlich gelaufen, wenn wir nicht beide arbeitsmäßig so dermaßen landunter wären, dass es nicht mehr schön ist. So aber lief die Kommunikation hinsichtlich des Albums folgendermaßen:
(ms, 03.11.): Arnalds als Download.
(sb, 04.11.): Perfekte Begleitmusik für die Arbeit.
(sb, 06.11.): Ich befürchte ja, dass es zu einem ausführlichen Bericht über Arnalds bei mir nicht reichen wird.
(ms, 06.11.): Bei mir auch nicht. Knallt nicht so.
Und so sitze ich nun am 12.11. an dieser Rezension und habe das Album noch keine fünf Mal gehört... Der erste Eindruck ist zwar durchaus positiv, denn mit Ólafur Arnalds kann man einfach nichts falsch machen, aber das Niveau des überragenden Vorgängers re:member kann das neue Werk des Isländers trotz namhafter Gastmusiker wie Josin leider nicht ganz halten. Insofern bleibe ich bei meiner Einschätzung vom 04.11. und lege die Scheibe direkt nochmal auf. Denn es gibt noch immer viel zu tun und die Klänge des Komponisten fordern die Zuhörer auf, sich dem Leben mit aller Offenheit zu stellen und vor allem eigenständig zu handeln und nachzudenken, um den eigenen inneren Frieden zu finden. Man begegnet dort einem bekennenden Perfektionisten in seiner Auseinandersetzung mit der chaotischen Realität des Alltags: mit den Möglichkeiten der Liebe, dem Sesshaft-Werden und wie man das Ganze während einer globalen Pandemie handhabt.
 

Josias Ender
(sb) Ich bin verzaubert und dankbar. Dankbar dafür, dass ich in den letzten paar Tagen die Musik von Josias Ender kennenlernen durfte. Dankbar, dass er auf seinem Album Schlafanzug im Wind (VÖ: 20.11.) fernab von jeglichem Kitsch oder eventueller Peinlichkeiten seelisch blank zieht. Dankbar dafür, dass Leben und Tod, Abschied und Aufbruch, Straucheln und Aufstehen thematisiert werden und man sich in den Worten und Stimmungen des Künstlers wiederfinden kann. Mitlachen, mitleiden, mitweinen, miteinander. Je leiser die Songs sind, desto besser. Immer wieder hinfallen, immer wieder aufstehen, nie aufgeben. Bereits beim ersten Durchhören des Albums habe ich direkt an den österreichischen Künstler Jo Stöckholzer gedacht, den wir in der luserlounge ja auch schon des Öfteren gewürdigt haben, und dann beim Durchlesen des PR-Textes erfahren, dass dieser tatsächlich an der Entstehung der Werkes beteiligt war. Das Ergebnis ist wunderbares Storytelling, perfekte Arrangements und träumerische Zauberklänge - hört Euch das an!

 
Patrick Richardt
(ms) Gute neue deutschsprachige Indie-Musik ist eine Rarität geworden. Ist so. Entweder dudelt irgendein Mark oder Johannes durchs Radio mit ihren immer gleichen, befindlichkeitsfixierten Schwiegermutterliedern. Oder es ist pseudointellektueller Superschrott der Kategorie Turboscheißdreck3000 - so der bloginterne Fachbegriff dafür (Tipp: Viele dieser Bands beginnen mit Der/Die/Das).
Zum Glück gibt es Patrick Richardt, der - man muss es so schlicht und wahr sagen - einfach gute Musik macht. Herrliche Texte, in denen man sich ohne sentimentale Schwülstigkeit fallen lassen kann oder auch wieder findet. Und an diesem, heutigen Glückstag (13. November, Freitag...) erscheint sein neues Album Pangaea Pangaea. Lieder wie Nur Ein Tag (Totale Stille) sind ja beinahe eine Seltenheit geworden. Ein scheinbar einfacher Indie-Track mit pausenlosem Gitarrenspiel, einem treibenden Schlagzeug samt Bass. Der Text zwischen leichtem Weltschmerz ohne komplett zu verzweifeln und einer klaren Forderung: Einfach mal ruhig sein, still sein. Das Tempo, dem man sich selbst ausliefert, drosseln und mal wirklich nachdenken, auch gerne sich selbst hinterfragen. Schön, wie der Track in den Strophen das vorhandene Tempo wiederspiegelt und es im Refrain leicht raus nimmt. Mehr Kleinode auf dem heute erschienen Album! Empfehlung des Hauses!


I Want Poetry
(sb) Manchmal muss man einfach a bisserl zu seinem Glück gezwungen werden. Aktuelles Beispiel: I Want Poetry! Die PR-Mail zum neuen Album Human Touch (VÖ: 20.11.) habe ich komplett ignoriert und war umso erstaunter, als dann plötzlich die CD im Briefkasten lag. Zeit zum Anhören hatte ich zunächst keine, doch auch diese Chance bot sich bald, als ich mit meinem Sohn zum Kinerarzt musste und dieser zwanzig Minuten vom Wohnort entfernt liegt. Also CD rein, Lauscher auf und ... genießen! Ich hatte ja nicht die geringste Ahnung, was mich erwartet, aber die zumeist ruhigen Töne wirkten auch auf den Kleinen besänftigend und so ließen wir gemeinsam melancholisches Klavierspiel und kühle elektronische Elemente auf uns wirken. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich das Duo in skandinavischen Gefilden verorten, tatsächlich stammt die Band jedoch aus Sachsen. Absoluter Lieblingstrack auf dem Album: Chandler! Wenn Synth-Pop immer so klänge, könnte ich mich auf meine alten Tage (ähm, naja...) durchaus noch damit anfreunden.


The Baboon Show
(ms) Pop- und Rockmusik aus Schweden ist ja ein wenig vorbelastet: Süße, Gitarre spielende Jungs, die auf der Bühne gerne auch mal ein wenig frech sind und die Sau rauslassen. Klar, wir finden auch viele von denen ganz gut. Doch es ist halt auch ganz wichtig, dass es The Baboon Show gibt. Die Stockholmer Band ist nämlich wesentlich rotziger und politischer als ihre bekannteren männlichen Kollegen. Und so veröffentlicht das Quartett im Dezember eine neue 12". I Never Say Goodbye ist nicht nur der Name der im Sommer erschienenen Single, sondern auch der Platte. Auf den vier Liedern haben sie ihr eher ungestümes Tempo ein wenig gedrosselt und trotz Veröffentlichung in der Adventszeit und trotz dezentem Schellenkranzeinsatz hat das hier nichts mit dem Weihnachtsgeschäft zu tun. Der Band Cecilia Boström wird die verordnete Livezwangspause (wobei ich über die Handhabung in Schweden nichts weiß) sicher sehr schmerzen. Hört man ihre Lieder im Studiokorsett, kann man nur erahnen, mit welcher Wucht und Energie sie auf der Bühne stehen werden. Trotz aller Wehmut: 4. Dezember - neues Material aus Skandinavien! 



Conny Frischauf
(ms) Wöchentlich selektieren wir hier. Das geht im Grunde genommen ganz einfach und ist doch so ungeheuer schwer. Wir bekommen einiges an Mails, wo uns Bands, Musikerinnen, Interessantes angeworben wird. Musik-PR ist ja die etwas sympathischere Werbung. Da wühlen wir uns dann so durch. Alles durchzulesen oder -hören ist schier unmöglich. Immerhin gibt es ja auch noch einen Job, der sehr viel Energie frisst. Doch bei einigen Absendern ist man stets neugierig. Zum Beispiel: Bureau B. Das Hamburger Label ist an Tapete Records angegliedert und vertreibt elektronische (Nischen-)Musik mit Pfiff. Im Januar erscheint dort die erste Platte von Conny Frischauf. Die Wienerin produzierte bereits zwei EPs, jetzt kommt die erste Langspielplatte und ist super spannend. Das Grundgerüst hat durchaus einen krautigen Touch, geht doch weit darüber hinaus. Es geht auf Die Drift auch programmatisch, poppig und herrlich verspielt zu. Der verspielte Charakter ist so fein austariert, dass er nie überbordet, sondern sich fein ausbreitet. So nimmt man viele Geräusche und Instrumente wahr, doch es wird nie breiig, sonders es bleibt immer klar. Ein bisschen tanzbar, ein bisschen nachdenklich und ganz viel schön!


Sigur Rós
(ms) Lehnen wir uns mal weit aus dem Fenster und behaupten: Zeitreisen sind möglich. Nicht: Zurück in die Zukunft. Sondern: Voran in traumwandlerische Sphären! Dafür kann nur eine einzige Band verantwortlich sein. Ja, darauf lege ich mich fest. Ja, ich wiederhole mich hier zum x-ten Mal: Über Sigur Rós geht (für mich persönlich) nichts. Auch wenn ihre Veröffentlichtungspolitik ein wenig seltsam anmutet - viele Kleinigkeiten, Reissues ohne Ende, verschütt Gegangenes... 
Doch es gibt ein Klangdokument, das so formvollendet ist. Es ist so wunderschön, dass es auch 18 Jahre nach seinem ersten Erklingen vor Zauber glänzt. Odin's Raven Magic heißt das Projekt, das 2002 ein paar Mal in Island aufgeführt wurde, danach auch noch in anderen Ländern. Dann war Ende. Mit vielen helfenden, singenden, spielenden Händen, Stimmen und Fingern wurde dieser isländische, mittelalterliche Gedichtsmysthos aufgeführt. Und zum Glück auch audiovisuell festgehalten. Nicht nur Dvergmál, auch Stendur æva strotzt nur so vor klanglichem Zauber. Am 4. Dezember wird diese Platte nun zum allerersten Mal erscheinen. Haltet euch also fest. Das wird irre!

Dienstag, 10. November 2020

Urlaub in Polen - All

Foto: Frederike Wetzels

(ms) Krautrock war lange Zeit ein eher diffuser Begriff für mich. Dachte eher, dass es eine Epoche als ein Genre bezeichnen würde. Doch weit gefehlt. Ein paar Bücher und aufmerksame Hinhörer später, war ich um einiges klüger. Es ist doch mehr als bemerkenswert, wie innovativ und zukunftsträchtig die 70er Jahre waren und wie wenig sie zu jener Zeit beachtet worden sind. Zeitlos - nichts weniger als das. Absolut genial und neu. Neu! Das ist genau das richtige Stichwort, wenn man sich das kürzlich erschienene (6. November), sehr gute Album von Urlaub In Polen anhört.
Es ist unverkennbar, wie Sounds aus den 70er Jahren darin wieder auftauchen. Aber auch der Geist dieser Musik. Ich bin wahrlich kein Experte dieser Zeit und auch viel zu jung dafür, doch Hallogallo von NEU! war ein Hit, der heute seine Effekte nach sich zieht! Diese stoische Dynamik, die hinter dem Lied steckt, ist faszinierend. Zehn Minuten treibt das Lied vor sich hin ohne auch nur in einem Takt Langeweile aufkommen zu lassen. Man muss es sich immer wieder bewusst machen: Das Stück stammt aus dem Jahre 1972.
Klaus Dinger und Michael Rother haben danach nicht mehr zueinander gefunden. Beide waren Genies, die sich dann auf ihren Wegen verwirklicht haben. 
Dass Jan Philipp Janzen und Georg Brenner nochmal zusammen finden würden, war so auch nicht abzusehen. Das sind die Typen, die hinter dem sehr guten Bandnamen Urlaub In Polen stecken. Vor neun Jahren veröffentlichten sie ihr letztes Album und lösten dann die Band auf. Nun ist All zu hören. Und was haben sie sich für eine schöne Doppeldeutigkeit dabei ausgedacht: Zum einen die englische Bedeutung und die deutschsprachige Unendlichkeit, wenn man gen Himmel guckt. Auf wunderbare Weise passen beide Begriffe zu dieser Platte. 

Doch für eine reine Aufwärmung altbekannter Töne, Melodien und Musikgeister à la Conny Plank sind Janzen und Brenner viel zu kreativ. All ist kein reines Krautrockalbum, das sehr gut diesen Stil ins Heute bringt. Es geht weit darüber hinaus. Wobei es mit Impulse Response recht krautig startet. Wie gut dieser Track arrangiert ist, ist kaum auszuhalten. Denn die wahre Kunst ist ja, bei den wenigen Änderungen in der Musik den Hörer bei der Stange und die Dynamik aufrecht zu halten. Dazu nutzen sie auch verzerrten Gesang und Gitarrenakkorde, die immer wieder das Grundgerüst aufhellen; wobei genau dieses konstante Rhythmusgerüst nie an Spannung verliert.
Das recht kurze (eineinhalb Minuten) 2 Sec. Delay ist ein weiteres, sehr kurzweiliges Beispiel dafür, wie weit sie sich über die 'Tradition' hinaus bewegen. Und das sehr sicher und eigenständig mit ihren irgendwie weltallklingenden Synthie-Tönen. Und auch T.H.D.T. überzeugt direkt ab dem ersten Takt. Vielleicht sollte ich mich nochmal kneifen, aber Brenners Stimme ähnelt darauf stark der von Damon Albarn - super gut! Ja, ein gewisser futuristischer Unterton ist der Platte nicht abzusprechen, der sich auch in der anderen Interlude, Rodeo, herausperlt.
Ja, einige Töne und Effekte knarzen, wie immer wieder in The Witcher zu hören ist. Doch stören tun sie nie. Viel mehr machen sie das Hörerlebnis spannend ohne gewollt zu klingen. Es ist ein weiteres Stück, das immer wieder recht krautig-monotone Parts aufweist, aber genauso oft durch innovative Parts überzeugt. Etwa, wenn es ausbricht oder im Hintergrund ein Saxophon singt, mäandert und sich mit Brenners Stimme abwechselt.
Krautrock wohnt ein sehr hypnotischer Charakter inne, der sich stark von dem der psychedelischen Musik unterscheidet. Letztere reißt den Hörer mit Wucht in den Bann. Krautrock ist da sanfter, feiner, unbewusster, unterschwelliger. Und das macht den Reiz aus, dass man nur so indirekt eingelullt wird und es gar nicht richtig merkt. Bestes Beispiel dafür: Overall.
Ob das Schlusslied Proxy Music eine Anspielung auf die Band von Brian Ferry ist, bleibt nur Spekulation. Klanglich würde ich sagen: Nein. Aber wer weiß, was sich die beiden Soundtüftler dabei gedacht haben.

Ja, Urlaub in Polen haben eine sehr gute Platte veröffentlicht. Ja, sie wird der breiten Öffentlichkeit eher verborgen bleiben, weil der Markt zu/so groß ist. Doch egal. Für den kommerziellen Erfolg oder Fame machen Janzen und Brenner sicher keine Musik. Sondern um der Atmosphäre, der Emotionen, dem Drive wegen. Und das ist ihnen auf All außerordentlich gut gelungen!

Freitag, 6. November 2020

KW 45, 2020: Die luserlounge selektiert

Quelle: counsel45.com
(ms) Es gibt, insbesondere in dieser Woche, genügend Stoff, der einen schier in die Verzweiflung drängt. Weltschmerz ist da das passende Wort. 
Doch lenken wir uns ein bisschen ab.
Unter der Woche gab es ein Zeitfenster, wo ich Dinge erledigen konnte, die ich gerne vor mir her schiebe. Von meiner Bank habe ich so ein kleines TAN-Gerät. Da war die Batterie schwach und es benötigte einen extrem kleinen Schraubenzieher, um sie auszutauschen. So etwas besitze ich nicht. Doch in der Nähe gibt es den weltbesten Elektronikladen überhaupt. Von außen sieht er recht diffus aus. Überall steht Zeugs im Fenster herum und nur einen Bruchteil davon könnte ich überhaupt benennen. Drinnen geht es ähnlich zu. Man findet alles zum Schrauben, Leuchten, Drehen, Löten, ... Und alles in einer peniblen Ordnung. Massenweise kleinste Schubladen, die akkurat beschriftet sind und dem geneigten Heimwerker weiterhelfen zu können. Und auch der Service war top. Der freundliche Inhaber half mir sofort weiter, wusste mit seinem Spezialistenauge, welche Batterien ich benötigte und hatte selbstredend auch so einen winzigen Schraubenzieher. Hach, ich war ganz angetan. Was für ein tolles Universum, was für eine herrliche Ablenkung!

Und hier gibt es noch mehr davon! Luserlounge am Freitag. Wir haben den Musikkosmos selektiert!

Gorillaz
(ms) Es gibt ein neues Album von den Gorillaz! Wow! Naja, so halb. Denn was vor vielen Jahren nach einer wahrhaften Sensation klang, ist bei mir komplett unterm Radar gelaufen. Bis 2017 waren Veröffentlichungen der Comicband eine wundervolle und rare Seltenheit und jede einzelne war eine Wucht. Doch dann gab der Reiz des Nichtgreifbaren ein wenig nach und vor zwei Jahren gab es auch eine neue Platte. Nun ist Song Machine: Season One - Strange Timez erschienen und so richtig kickt es nicht mehr. Klar, das ist Meckern auf ganz, ganz hohem Niveau. Persönlich halte ich Damon Albarn für einen der kreativsten und genialsten Köpfe im Musikgeschäft. Die neuen Tracks sind natürlich auch astreine Arbeit, doch diese ungeheure Wucht fehlt halt, das leicht Futuristische, die Neuerfindung von Pop - klar, große Worte. Doch das darf man jemandem wie Albarn durchaus zutrauen, denn oft genug hat er es bereits gezeigt. Wie dem auch sei... Hey, es gibt Neues von den Gorillaz! 


Grandbrothers
(ms) Pro und Contra Neo-Klassik (Fortsetzung, siehe unten). Contra - fangen wir aus pädagogischen Gründen mit den eher negativen Seiten an. Die sind nur sehr dezent, aber vorhanden. Und bestehen vornehmlich in einer gewissen Austauschbarkeit. Hört man nun diesen wirklich schönen, dynamischen und etwas wuchtigen Song All The Unknown von Grandbrothers, dann könnte er - wenn man ehrlich ist - auch von Martin Kohlstedt oder einem Ólafur Arnalds kommen, der etwas mehr Bass benutzt. Ja, einige Künstler sind manchmal schwer voneinander zu unterscheiden.
Pro: Diese Musik ist, egal von wem dargeboten, mit großer Sicherheit stets sehr, sehr schön. Meditativ. Aber auch aufbrausend. Oft sehr fein, fast zerbrechlich. Gewissermaßen klug und anmutig. Und durch den oft fehlenden Text kann das Hirn wesentlich besser arbeiten und dazu eine eigene Geschichte, eigene Bilder kreieren! Das Duo der Grandbrothers veröffentlicht am 15. Januar das zur Single gleichnamige Album über das sehr gute Label City Slang! Live durfte ich sie mal bestaunen und war von ihrer Vereinnahmung schnell überzeugt!


Andrew Collberg
(sb) Stell Dir vor, es ist Kino und keiner geht hin. In Zeiten von Corona ein leider sehr realistisches Szenario, das wir uns alle gerne ersparen würden. Andrew Collberg hat das Ganze etwas anders inszeniert und verfährt getreu nach dem Motto: Stell Dir vor, es ist Soundtrack und es gibt gar keinen Film. Ziemlich abgefahrener Ansatz, der aber bestens funktioniert, da der Künstler auf 1986 (VÖ: heute!) die französische Melancholie eines unmittelbar bevorstehenden Moments, tragisch, aber unausweichlich, mit der Unbarmherzigkeit der menschlichen Existenz kombiniert und so einen Sound schafft, der die Phantasie ungemein anregt und einen unterhaltsamen Film auf die Innenseite der Lider projeziert. 

 
Wolf & Moon
(sb) Folk-Pop mit träumerischer Note - darauf hat sich das niederländisch-deutsche Duo Wolf & Moon spezialisiert und beweist auf Follow The Signs (VÖ: 20.11.) einmal mehr, dass es sein Handwerk bestens versteht. Von sphärischen Klängen über Cure-eske Anwandlungen (der Anfang von A Tape Called Life klingt halt original wie der Klassiker A Forest!) bis hin zu radiotauglichem Pop - Stefany und Dennis beherrschen die komplette Klaviatur und lassen auch die Melancholie in ihren Melodien und Texten nicht zu kurz kommen. Ein Album, das wie geschaffen dafür ist, es sich abends bei gedimmtem Licht und einem Absacker zu Gemüte zu führen und dabei runterzukommen.

 
Les Maries
(ms) Kann Musik elegant sein? Schick? Mit einer sympathischen, kleinen Hochnäsigkeit versehen? Das lässt sich relativ leicht beantworten: Na klar! Dazu gibt es ab heute auch ein tolles, sehr hörenswertes Beispiel: Les Maries! Wie der Name schon verrät, geht es hier frankophil zur Sache - das meine ich mit kleiner Hochnäsigkeit (nicht böse intendiert). Der Chanson war lange Zeit eine anmutige, elegante, edle und stilprägende Art zu singen. Ein kleiner Club, viel Rot, wallende Frisuren, gut gekleidete Menschen, feine Anzüge und Kleider, leicht penetranter aber akzeptierter Zigarrenduft in der Luft und dazu ein schweres Getränk. So stelle ich es mir vor.
Mit einer leichteren, aber auch sehr eleganten Spielweise kommt das Duo Les Maries nun um die Ecke. Klaus Sieg und Marie Laure Timmich stecken hinter diesem wundervollen Projekt, deren Klang am ehesten mit Prag zu vergleichen ist. Sehr fein austarierte Instrumentierung, unterschwellige Melancholie und doch ganz viel Leben und ein unverkennbarer, unkitschiger Hauch Romantik! Das können wir alle gut gebrauchen. Dazu passt auch der Titel ihres Albums, das heute (!) erschienen ist: Wir Brauchen Heute Nicht Mehr Rauszugehen. Eben. Zeit, um Musik zu hören! 


Merchcowboy Mixtape Vol. 1
(ms) Das ist eine gute Sache und eher erstaunlich, dass sie verhältnismäßig lange auf sich warten ließ: Ein Soli-Sampler für die Kulturschaffenden dieses Landes. Merchcowboy Mixtape Vol. 1 erscheint auch erst am 13. Dezember. Aber er erscheint. Und das ist wichtig daran! Bereits seit dieser Woche kann man die CD, die 12,99€ kosten wird, vorbestellen. In den Shops der Bands, die darauf vertreten sein werden. Die Scheibe ist auf 1000 Stück limitiert - eine wirklich schöne Aktion für einen Überlebenszweig, dem gerade die Blätter gerupft werden! Dabei sind unter anderem: Madsen, Donots, Montreal, KMPFSTRT oder Großstadtgeflüster. Alles herzensgute Menschen, denen man glaubt, dass sie es wirklich ernst meinen. Da schlagen viele, sehr solidarische, gute, warme Herzen, die dieses Projekt voranbringen. Unterstützen wir sie! Damit wir auch kommendes Jahr wieder dem schönsten Hobby nachgehen können: Staunend, beseelt vor einer Bühne stehen/tanzen/ausflippen/lauschen. 

 
David Krakauer & Kathleen Tagg
(sb) Einen Grammy-Gewinner haben wir auch nicht alle Tage in unserem Kuschelblog zu Gast, aber heute ist es mal wieder so weit: David Krakauer veröffentlicht am 04.12. sein neues Album Breath & Hammer - und das hat es in sich! Der Klarinetten-Virtuose und seine kongeniale Partnerin, die Pianistin Kathleen Tagg, wagen den Spagat zwischen Klezmer und Jazz, zwischen Ambient und Klassik und schaffen auf diese Weise eine völlig neue Spielart der Neo-Klassik, die durchaus zukunftsträchtig ist, dem Hörer aber auch traditionelle Musik näherbringt und zum Entdecken fremder Klangwelten einlädt.
Der Künstler liebt es, seine kreativen Grenzen auszuweiten, z.B. in Form eines Klarinettenkonzertes für die Santa Rosa Symphonie mit dem Dirigenten Francesco Lecce-Chong, das 2021 uraufgeführt wird. Die Partitur für "Minyan" des Filmemachers Eric Steel (die Krakauer und Tagg nicht nur mitschrieben, sondern auch aufführten und produzierten) ist ihr erstes gemeinsames Spielfilmprojekt, das bei den Berliner Filmfestspielen 2020 uraufgeführt wurde.


Titus Probst
(sb) Was gäbe es in diesen Tagen nicht alles über Wien zu schreiben (#schleichdiduoarschloch), wir beschränken uns jedoch auf die Musik und da speziell auf den selbsternannten "letzten Playboy Wiens". Titus Probst heißt der gute Mann und mit Only One veröffentlicht er heute einen Track und vor allem ein Video, das man sich nicht entgehen lassen sollte. Es hat ein bisschen was von einem Autounfall - man will es eigentlich nicht sehen, kann aber auch nicht wegschauen... Immerhin wird es von einem smoothen Rythmus begleitet, der geschmeidig ins Ohr geht und sich dort erstmal einnistet. In Österreich klappt die Masche übrigens ganz hervorragend: dort wird Titus Probst bereits ordentlich abgefeiert und erreichte Platz 2 der FM4 Charts.


Beatsteaks
(ms) Sie sind eine Bank der hiesigen Unterhaltungsbranche. Sympathisch bis in die allerletzte Haarspitze und die einzige Band, bei der ich Crowdsurfen gehe. Und zwar immer zum selben Song, der da heißt I Don't Care As Long As You Sing. Was für ein übertriebener Hit. Logo, es geht um die Beatsteaks. Vermeintlich ruhig ist es um die fünf Berliner geworden, weil sie tätig wurden. Und es gibt Neues auf die Ohren - wie super ist das denn bitte? Doch für ein neues Album ist es wohl noch nicht die richtige Zeit. Für eigene Songs auch nicht. Also bedient man sich bei Altbewährtem und münzt es auf den eigenen Sound um. Lässig gelingt es ihnen mit Monotonie, einem Hit von Ideal aus den 80er Jahren, beste NDW-Manier! Am 11. Dezember (Hallo Weihnachtsgeschäft, der einzige fiese Nachgeschmack dieser guten Nachricht) erscheint eine EP mit Coversongs - In The Presence Of! Welches die anderen Lieder sind und wie viele es gibt... die Beatbuletten halten dicht! Die Spannung steigt. Und jetzt erstmal Sommergefühle aufkommen lassen bei einer irren Tanzperformance von Thorsten Scholz: