Freitag, 13. November 2020

KW 46, 2020: Die luserlounge selektiert

Quelle: facebook.com/46parallel
 (sb/ms) Der Zug ist das perfekte Verkehrsmittel. Das ist Fakt. Hartnäckig weigere ich mich seit vielen Jahren, mir ein Auto anzuschaffen: Wozu auch?! Die Stadt, in der ich wohne ist klein und groß genug, um alles mit dem Rad zu erreichen. Die Arbeitsstelle ist super via Schiene erreichbar. Die Zugpendler sind eine eingeschworene Gemeinschaft. Insbesondere, wenn es morgens recht früh los geht. Denn es gibt mindestens eine ganz wichtige Regel am frühen Morgen: Bloß nicht reden! Es herrscht absolute Stille im Abteil. Einige verlängern den abrupt beendeten Schlaf, andere sind in Musik vertieft, ich lese morgens.
Diesen Codex kennen zum Glück auch die Menschen, die tendenziell die Fahrgäste nerven könnten: Menschen, die im Auftrag des Vekehrsbetriebs eine Umfrage durchführen: Welches Ticket nutzen Sie? Wo sind Sie eingestiegen? Wie sind Sie zum Bahnhof gekommen? Wie werden Sie ihn verlassen? Was ist der Grund Ihrer Reise? Das sind die fünf magischen Fragen. So auch heute morgen. Und der Typ, der dies durchführte, war voller Empathie. Frage freundlich, ob er kurz stören könnte - logisch. Fragte seine Fragen zügig hintereinander. Und anstatt sie nach Antwort in sein Telefon einzugeben, merke er sich das Gesagte und erledigte dies danach in aller Ruhe. Sehr verständnisvoll. Sehr gut.

Hier ist jetzt auch Abfahrt. Klanglich. Manchmal auch visuell. Luserlounge. Freitag. Selektion!

Audio88 & Yassin
(ms) Im März ging es los. Die große Absagewelle von Konzerten. Am 27.3. sollten Audio88 & Yassin im Lüneburger Salon Hansen aufspielen. Ich hatte so unendlich viel Bock auf diesen Gig! Direkt danach sollte der Urlaub beginnen. Doch dann kam alles anders - Frust übersäte die Stimmung. Weitere Absagen folgen. Und jetzt kommen die Ansagen! Unglaublich gut und sehr, sehr stark. Denn dieses verrückte Duo haut eine neue Platte raus. Friedvoll und gesittet wie man sie kennt, wird Todesliste am 12. Februar erscheinen. Auf dem dazugehörigen Vorboten Schlechtes Gewissen hallt es nur so von astreinem Battlerap! In Zeiten großer Ungewissheiten ist es ja auch wichtig zu wissen, gegen wen man sich musikalisch stellt. Und wenn es da eine Kombo gibt, die gerne und zurecht ordentlich auf die Kacke haut, dann Audio und Yassin. Spannend dabei zu beobachten ist, dass die wuchtigeren Beats und auch die Nutzung von Autotune aus Yassins Solo-Album mit in die gemeinsame Arbeit geflossen sind: Passt! Quintessenz - Vorfreude: Sehr groß!

 

System Of A Down
(ms) Die interessanteste Frage zu dem neuen Material von System Of A Down habe ich irgendwo bei Facebook aufgeschnappt: Brauchen wir diese neuen Songs? Zwei Mal gehört und zwei Mal den dazugehörigen, sehr wichtigen Text durchgelesen. Dann gibt es nur eine Antwort: Auf jeden Fall! Einigen wir uns so: Musikalisch sind die beiden neuen Tracks der Armenier keine große Überraschung. Protect The Land ist sogar eher ein wenig langweilig. Genocidal Humanoidz ist wesentlich spannender und geht viel mehr in diese ungehaltene, temporeiche, leicht verrückte Richtung, für die man das Quintett seit Langem verehrt. Natürlich ist es auch einfach sehr schön, dass sie nach 15 Jahren (!!!) wieder gemeinsam musiziert haben; wie oft war von einer Auflösung die Rede?! Viel wurde spekuliert. Ihre Motivation für diese beiden Tracks liegt auf der Hand. Bergkarabach (Arzach) wird durch einen grausamen Angriffskrieg der Türkei und Aserbaidschan zunichte gemacht, die Bevölkerung ausradiert. Und niemand hier regt sich auf. Bis auf einen, von dem man es nicht zwingend erwartet hat: Martin Sonneborn. Der hat hier einen sehr, sehr sehenswerten Film über den Konflikt und die irre Dramatik dessen veröffentlicht. Auch Serj Tankian und Co. setzen sich für Bergkarabach ein und sammeln Geld. Das ist gut. Ihre laute, wütende, mahnende Stimme ist wichtig für einen Konflikt, der leider auf weltpolitischer Ebene vollkommen unter dem Radar läuft und wo täglich Menschen getötet werden. Damit sollte die Frage ob der Notwendigkeit der beiden Lieder geklärt sein.


Psychedelic Porn Crumpets
(ms) Musik ist eben nicht nur Klang. Es geht weit darüber hinaus. Schließlich sprechen wir hier von Kunst. Es ist auch Performance, Lyrik, Selbstverwirklichung, Leben, Traum. Aber halt auch oft Visuelles. Es ist sehr schön und seltsam zugleich, dass viele Bands noch große Mühe und Liebe zum Detail in ein Musikvideo stecken, wo das Musikhören wahnsinnig individualisiert ist und es keinen wirklichen Kanalisierungspunkt wie einst das Musikfernsehen gibt. Ein irres, tolles, ja völlig verrücktes Musikvideo haben die völlig verrückten Jungs von Psychedelic Porn Crumpets anfertigen lassen. Ja, es wurde nicht nur gedreht. Sondern in allerbester Wallace & Gromit-Manier geknetet. Was muss das für ein irrer Aufwand gewesen sein? Nicht nur das schiere Tempo und die knalligen Farben passen zu der ohnehin pausenlosen Musik der Australier. Auch die Kreativität hinter der Geschichte, die hier erzählt wird: Irgendein herrlich-kruder Mix aus Star Wars und MacGyver. Ollie Jones steckt hinter der sehr sehenswerten Umsetzung zu Tally-Ho dieses ohnehin knalligen Songs. Tempo, Tempo, Tempo, schieres Tempo. Knallknallknall. Stark!
Die Platte SHYGA! The Sunlight Mound erscheint im Februar!


Ólafur Arnalds
(sb) Normalerweise saugen wir zwei luserlounger die Musik von Ólafur Arnalds auf wie ein Schwamm jedes Tröpfchen Wasser und es entsteht ein regelrechter Battle darum, wer das Album bespricht und - im Idealfall - auch ein physisches Bemusterungsexemplar erhält. Vermutlich wäre es auch bei some kind of peace (VÖ: 06.11.) ähnlich gelaufen, wenn wir nicht beide arbeitsmäßig so dermaßen landunter wären, dass es nicht mehr schön ist. So aber lief die Kommunikation hinsichtlich des Albums folgendermaßen:
(ms, 03.11.): Arnalds als Download.
(sb, 04.11.): Perfekte Begleitmusik für die Arbeit.
(sb, 06.11.): Ich befürchte ja, dass es zu einem ausführlichen Bericht über Arnalds bei mir nicht reichen wird.
(ms, 06.11.): Bei mir auch nicht. Knallt nicht so.
Und so sitze ich nun am 12.11. an dieser Rezension und habe das Album noch keine fünf Mal gehört... Der erste Eindruck ist zwar durchaus positiv, denn mit Ólafur Arnalds kann man einfach nichts falsch machen, aber das Niveau des überragenden Vorgängers re:member kann das neue Werk des Isländers trotz namhafter Gastmusiker wie Josin leider nicht ganz halten. Insofern bleibe ich bei meiner Einschätzung vom 04.11. und lege die Scheibe direkt nochmal auf. Denn es gibt noch immer viel zu tun und die Klänge des Komponisten fordern die Zuhörer auf, sich dem Leben mit aller Offenheit zu stellen und vor allem eigenständig zu handeln und nachzudenken, um den eigenen inneren Frieden zu finden. Man begegnet dort einem bekennenden Perfektionisten in seiner Auseinandersetzung mit der chaotischen Realität des Alltags: mit den Möglichkeiten der Liebe, dem Sesshaft-Werden und wie man das Ganze während einer globalen Pandemie handhabt.
 

Josias Ender
(sb) Ich bin verzaubert und dankbar. Dankbar dafür, dass ich in den letzten paar Tagen die Musik von Josias Ender kennenlernen durfte. Dankbar, dass er auf seinem Album Schlafanzug im Wind (VÖ: 20.11.) fernab von jeglichem Kitsch oder eventueller Peinlichkeiten seelisch blank zieht. Dankbar dafür, dass Leben und Tod, Abschied und Aufbruch, Straucheln und Aufstehen thematisiert werden und man sich in den Worten und Stimmungen des Künstlers wiederfinden kann. Mitlachen, mitleiden, mitweinen, miteinander. Je leiser die Songs sind, desto besser. Immer wieder hinfallen, immer wieder aufstehen, nie aufgeben. Bereits beim ersten Durchhören des Albums habe ich direkt an den österreichischen Künstler Jo Stöckholzer gedacht, den wir in der luserlounge ja auch schon des Öfteren gewürdigt haben, und dann beim Durchlesen des PR-Textes erfahren, dass dieser tatsächlich an der Entstehung der Werkes beteiligt war. Das Ergebnis ist wunderbares Storytelling, perfekte Arrangements und träumerische Zauberklänge - hört Euch das an!

 
Patrick Richardt
(ms) Gute neue deutschsprachige Indie-Musik ist eine Rarität geworden. Ist so. Entweder dudelt irgendein Mark oder Johannes durchs Radio mit ihren immer gleichen, befindlichkeitsfixierten Schwiegermutterliedern. Oder es ist pseudointellektueller Superschrott der Kategorie Turboscheißdreck3000 - so der bloginterne Fachbegriff dafür (Tipp: Viele dieser Bands beginnen mit Der/Die/Das).
Zum Glück gibt es Patrick Richardt, der - man muss es so schlicht und wahr sagen - einfach gute Musik macht. Herrliche Texte, in denen man sich ohne sentimentale Schwülstigkeit fallen lassen kann oder auch wieder findet. Und an diesem, heutigen Glückstag (13. November, Freitag...) erscheint sein neues Album Pangaea Pangaea. Lieder wie Nur Ein Tag (Totale Stille) sind ja beinahe eine Seltenheit geworden. Ein scheinbar einfacher Indie-Track mit pausenlosem Gitarrenspiel, einem treibenden Schlagzeug samt Bass. Der Text zwischen leichtem Weltschmerz ohne komplett zu verzweifeln und einer klaren Forderung: Einfach mal ruhig sein, still sein. Das Tempo, dem man sich selbst ausliefert, drosseln und mal wirklich nachdenken, auch gerne sich selbst hinterfragen. Schön, wie der Track in den Strophen das vorhandene Tempo wiederspiegelt und es im Refrain leicht raus nimmt. Mehr Kleinode auf dem heute erschienen Album! Empfehlung des Hauses!


I Want Poetry
(sb) Manchmal muss man einfach a bisserl zu seinem Glück gezwungen werden. Aktuelles Beispiel: I Want Poetry! Die PR-Mail zum neuen Album Human Touch (VÖ: 20.11.) habe ich komplett ignoriert und war umso erstaunter, als dann plötzlich die CD im Briefkasten lag. Zeit zum Anhören hatte ich zunächst keine, doch auch diese Chance bot sich bald, als ich mit meinem Sohn zum Kinerarzt musste und dieser zwanzig Minuten vom Wohnort entfernt liegt. Also CD rein, Lauscher auf und ... genießen! Ich hatte ja nicht die geringste Ahnung, was mich erwartet, aber die zumeist ruhigen Töne wirkten auch auf den Kleinen besänftigend und so ließen wir gemeinsam melancholisches Klavierspiel und kühle elektronische Elemente auf uns wirken. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich das Duo in skandinavischen Gefilden verorten, tatsächlich stammt die Band jedoch aus Sachsen. Absoluter Lieblingstrack auf dem Album: Chandler! Wenn Synth-Pop immer so klänge, könnte ich mich auf meine alten Tage (ähm, naja...) durchaus noch damit anfreunden.


The Baboon Show
(ms) Pop- und Rockmusik aus Schweden ist ja ein wenig vorbelastet: Süße, Gitarre spielende Jungs, die auf der Bühne gerne auch mal ein wenig frech sind und die Sau rauslassen. Klar, wir finden auch viele von denen ganz gut. Doch es ist halt auch ganz wichtig, dass es The Baboon Show gibt. Die Stockholmer Band ist nämlich wesentlich rotziger und politischer als ihre bekannteren männlichen Kollegen. Und so veröffentlicht das Quartett im Dezember eine neue 12". I Never Say Goodbye ist nicht nur der Name der im Sommer erschienenen Single, sondern auch der Platte. Auf den vier Liedern haben sie ihr eher ungestümes Tempo ein wenig gedrosselt und trotz Veröffentlichung in der Adventszeit und trotz dezentem Schellenkranzeinsatz hat das hier nichts mit dem Weihnachtsgeschäft zu tun. Der Band Cecilia Boström wird die verordnete Livezwangspause (wobei ich über die Handhabung in Schweden nichts weiß) sicher sehr schmerzen. Hört man ihre Lieder im Studiokorsett, kann man nur erahnen, mit welcher Wucht und Energie sie auf der Bühne stehen werden. Trotz aller Wehmut: 4. Dezember - neues Material aus Skandinavien! 



Conny Frischauf
(ms) Wöchentlich selektieren wir hier. Das geht im Grunde genommen ganz einfach und ist doch so ungeheuer schwer. Wir bekommen einiges an Mails, wo uns Bands, Musikerinnen, Interessantes angeworben wird. Musik-PR ist ja die etwas sympathischere Werbung. Da wühlen wir uns dann so durch. Alles durchzulesen oder -hören ist schier unmöglich. Immerhin gibt es ja auch noch einen Job, der sehr viel Energie frisst. Doch bei einigen Absendern ist man stets neugierig. Zum Beispiel: Bureau B. Das Hamburger Label ist an Tapete Records angegliedert und vertreibt elektronische (Nischen-)Musik mit Pfiff. Im Januar erscheint dort die erste Platte von Conny Frischauf. Die Wienerin produzierte bereits zwei EPs, jetzt kommt die erste Langspielplatte und ist super spannend. Das Grundgerüst hat durchaus einen krautigen Touch, geht doch weit darüber hinaus. Es geht auf Die Drift auch programmatisch, poppig und herrlich verspielt zu. Der verspielte Charakter ist so fein austariert, dass er nie überbordet, sondern sich fein ausbreitet. So nimmt man viele Geräusche und Instrumente wahr, doch es wird nie breiig, sonders es bleibt immer klar. Ein bisschen tanzbar, ein bisschen nachdenklich und ganz viel schön!


Sigur Rós
(ms) Lehnen wir uns mal weit aus dem Fenster und behaupten: Zeitreisen sind möglich. Nicht: Zurück in die Zukunft. Sondern: Voran in traumwandlerische Sphären! Dafür kann nur eine einzige Band verantwortlich sein. Ja, darauf lege ich mich fest. Ja, ich wiederhole mich hier zum x-ten Mal: Über Sigur Rós geht (für mich persönlich) nichts. Auch wenn ihre Veröffentlichtungspolitik ein wenig seltsam anmutet - viele Kleinigkeiten, Reissues ohne Ende, verschütt Gegangenes... 
Doch es gibt ein Klangdokument, das so formvollendet ist. Es ist so wunderschön, dass es auch 18 Jahre nach seinem ersten Erklingen vor Zauber glänzt. Odin's Raven Magic heißt das Projekt, das 2002 ein paar Mal in Island aufgeführt wurde, danach auch noch in anderen Ländern. Dann war Ende. Mit vielen helfenden, singenden, spielenden Händen, Stimmen und Fingern wurde dieser isländische, mittelalterliche Gedichtsmysthos aufgeführt. Und zum Glück auch audiovisuell festgehalten. Nicht nur Dvergmál, auch Stendur æva strotzt nur so vor klanglichem Zauber. Am 4. Dezember wird diese Platte nun zum allerersten Mal erscheinen. Haltet euch also fest. Das wird irre!

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