Samstag, 19. Dezember 2020

Leselounge: Rüdiger Esch - Electri_City

Quelle: jpc.de
(ms) Über Musik zu schreiben ist der Grundpfeiler, warum es diese Seite hier gibt. Zum Einen, weil wir unbändige Fans vom aufmerksamen Lauschen sind, zum Anderen, weil das Schreiben so große Freude bereitet. Aber auch immer Anlass für Herausforderungen ist. Klang, Atmosphäre und Dynamiken zu verschriftlichen ist oft eine heikle Aufgabe. Wie soll man das beschreiben, was einem gefällt, um es so auszudrücken, dass Andere daran auch Gefallen finden können?! Diese Frage stellt man sich jedes Mal neu. Die Lösung des Ganzen ist eine schöne, knifflige Hirnarbeit.

Über Musik wird viel geschrieben. Das ist klar. Biographien ohne Ende, viel populär- aber auch wirklich wissenschaftliche Literatur. Da wird dann über andere gesprochen und die Protagonisten kommen selbst nur aus Zitaten der Vergangenheit vor.
Ob das Gegenteil davon die Motivation von Rüdiger Esch gewesen ist, kann ich nicht sagen. Von Haus aus ist Esch kein Autor und auch nicht Journalist, sondern Musiker. Er spielt seit unzähligen Jahren bei Die Krupps und Male. Hat also seit Jahrzehnten einen phantastischen Einblick in die Entwicklung der Branche, des Klangs, der Menschen. 
Das ist der erste einer Vielzahl an Gründen, warum man als Interessierter, Nerd, Neugieriger Electri_City - Elektronische Musik Aus Düsseldorf lesen sollte: Der Autor kennt sich aus. Wobei Autor im klassischen Sinne hier nicht das richtige Wort ist. Denn Esch schreibt keine Geschichte, keine Chronik der Geschehnisse vom Rhein aus den 70/80er Jahren, er beurteilt nichts, gibt keine Interpretation vor, lässt die Lesenden im besten Sinne allein, ungefiltert. Das lesenswerte Buch besteht nämlich ausschließlich aus Zitaten der Personen, die zur großen elektronischen Zeit mitgewirkt haben oder unmittelbar damit verbunden sind. Unter anderem: Eberhard Kranemann (Fritz Müller Rock und Künstler), Jäki Eldorado (Manager und erster Punk Deutschlands), Kurt Dahlke (DAF, Der Plan), Robert Görl (Deutsch-Amerikanische Freundschaft) oder Tina Schenkenburger (Die Krupps).

All diese Beteiligten, MusikerInnen, Zeitzeugen berichten über die große Zeit der elektronischen Musik aus Düsseldorf. Und da kommen wir zu einem kleinen - wahrscheinlich dem einzigen - Problem dieses Buches. So oft wird wiederholt, dass Kraftwerk zwar stets das große Aushängeschild waren, Hütter und Co. aber auch wirklich verschrobene Leute waren und sehr viel außerhalb des KlingKlangStudios passiert ist. Dass Kraftwerk selbst immer wieder erwähnt werden ist daher logischer, dennoch wird sich aber genauso oft davon abgegrenzt. Innerhalb der 'Szene' (ein Begriff um den oft gestritten wird, ob es wirklich eine gab) waren bald nicht mehr so wichtig; ab Ende der 70er Jahre in etwa. Außerdem spricht nur Wolfgang Flür als ehemaliges Mitglied des Ensembles im Buch. Und dennoch ziert das Autobahn-Logo das Cover des Buches. Das bräuchte es gar nicht. Klar, es ist der absolute Hingucker und ein auffälliger ikonischer Repräsentant der Zeit. Doch der Schriftzug von NEU! oder der Deutsch-Amerikanischen Freundschaft wären im Verhältnis zum Buch ebenso würdig gewesen.

Als ich das Buch aufschlug, war ich verwundert ob der ganzen Zitate. Es sind auch keine zusammenhängenden Interviews. Die Leitlinie ist nur: Chronologie. Ist das lesbar, habe ich mich gefragt? Kann ich das genießen? Bekomme ich so als jemand, der ein großes Interesse an Musik hat aber viel (!) später geboren wurde, einen adäquaten Eindruck von dieser Zeit? Und wie! Auf jeden Fall! Das liegt vor allem daran, dass Rüdiger Esch die Zitate so gut aneinander geheftet hat, dass es wie eine irgendwie gemeinsame Erzählung ausschaut. Außerdem kennt er natürlich haargenau die Personen, die man fragen muss, um eine gute Auskunft zu erhalten. Eberhard Kranemann strotzt vor Wissen und extrem guten Antworten, die oft herrlich verrückt sind. Genauso wie Werner Lambertz, vielleicht einer der schrägsten Akteure, die im Buch auftauchen. Da will ich gar nichts vorweg nehmen: Aber was der wohl so getrieben und getüftelt haben soll, ist allerhand! Oft kommt man aus dem Staunen gar nicht raus.
Ja, Eletri_City gewährt einen wunderbaren Einblick in die Zeit der großen Bewegungen in und um Düsseldorf. Insbesondere die tollen Würdigungen zu Conny Planks Werk sind dort genau an der richtigen Stelle. Denn man lernt eine Menge Leute kennen, die im Hintergrund agierten und dennoch unverzichtbar für den Klang, die Experimente, die Umsetzung gewesen sind.
Große Empfehlung! Man sollte nebenbei auch immer wieder nachhören, worum es momentan geht, dann ist das Buch umso runder! Wie schön, dass es mittlerweile gleich zwei Sampler passend dazu gibt!

Gerne wollte ich auch noch die Band erwähnen, die mich auf die Lektüre aufmerksam gemacht haben. Leider komme ich nicht mehr auf den Namen. Irgendwann im Frühsommer haben sie teilgenommen beim morgendlichen Newsletter vom ZEITmagazin. Ich glaube es war eine Jazz-Kombo aus dem Rheinland... Daher: Ein großes, unbekanntes Dankeschön für diesen herrlichen Lesetipp!

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