(ms) "Ich will nach einer Geschichte wissen, wem man ins Gesicht spucken soll." Das hat einst Henri Nannen gesagt. Als Printübervater meinte er natürlich alle gedruckten Medien und somit auch einen gewissen Eigenanspruch. Ein Leitartikel soll aufrütteln, eine Reportage die Augen öffnen und zum unbedingten Handeln aufrufen.
Also folgende Frage: Bewegt Musik noch? Schlägt sie einem noch in die Fresse? Verfolgt sie Dich?
Spontan fällt einem Feine Sahne Fischfilet ein, die ohne Wenn und Aber in jedes abgelegene Dorf fahren und dort in Jugendzentren spielen, um den braunen Parolen Widerstand entgegenzusetzen. In den Charts läuft sowieso nur noch komplett belanglose Musik. Die tingelt ins eine Ohr rein und sofort wieder aus dem anderen raus.
SWISS hat etwas dagegen.
In seinen Rap-Geschichten hat er sich jahrelang mit extremen Begebenheiten auseinandergesetzt: Misshandlungen, Vergewaltigung, Mord, Totschlag. Und das alles mit einem beängstigten Perspektivwechsel, beispielsweise ein Amoklauf aus Sicht des Täters. Hip Hop war für SWISS einmal. Nun, seit über einem Jahr ist es knallharter Punk. Letztes Jahr erschien das Album "Große Freiheit" mit seiner Band Die Andern. Der in der Schweiz geborene hat sich nach Hamburg abgesetzt. Songs wie "Schwarz, Rot, Braun" machen sofort klar, wofür er steht. Das Punkdebut war eher ein persönliches Album. Am 1. April kommt der Nachfolger.
Missglückte Welt.
Titel der neuen Langspielplatte, die am 1. April erscheint. Kein Scherz. Beim Hören wird klar: Hier soll wieder jemandem ins Gesicht gespuckt werden.
Dabei kann man sich zunächst auch selbst glorifizieren. Der Opener "Einz, Einz, Zwei" warnt, denn SWISS ist zurück, lieber den Notruf wählen. Und wie!
Der Sound ist so brachial hart, dass es wieder Spaß macht. Ob das zum Großteil noch Punk ist, darf bezweifelt werden. Eher eine härtere Gangart, die herrlich gut ins Ohr geht. Genauso stark ist "Das schwarze Schaf". SWISS stilisiert sich selbst als Außenseiter, ein bisschen Show, ein bisschen Inszenierung. Klappt hervorragend. Dann wird es politisch: "Insel im Paradies" ist ein feines Raggae-Stück, das sich intensiv mit der Flüchtlingsbewegung und uns selbst auseinandersetzt. Kloß im Hals. "Der falsche Song" rechnet knallhart mit den Radioplaylisten ab. Da darf ein Cover von Ton Steine Scherben nicht fehlen: "Rauchhaussong". Es gibt feine Originalaufnahmen mit Klavier. Davon ist bei SIWSS nix mehr zu hören. Man könnte mal wieder zur Roten Flora fahren...
Zum Ende des Albums wird es immer stärker. "Gangster vom Asylheim" ist einfach saustark und sollte lautstark jeden Montag in Dresden erschallen.
Und dann der geheime Höhepunkt: "Der Kopf der Gertraut Bräuer". Zusammen mit Shocky und der Hofkomponistin (eine Hamburger Schauspielerin) wird eine düstere Welt gezeichnet. Doch leider war sie wahr. Es geht um Fritz Honka, der in den übelsten Hamburger Kneipen sein Unwesen trieb und später wegen Mord und Totschlag verurteilt wurde. Meistens waren es ältere Damen, die wie er nichts mehr zu verlieren hatten, weil sie schon ganz unten angekommen waren. Übrigens: Den Track hat die Hofkomponistin schon vor eineinhalb Jahren geschrieben.
SWISS selbst wusste nach Anfrage nicht, dass Heinz Strunk vor kurzem auch ein Buch über Honka verfasst hat. Außerdem spielt für ihn die furchtbare Einsamkeit von Honka und Bräuer eine wesentliche Rolle und wie traurig es ist, dass niemand Bräuer vermisst hat. Beide seien Figuren der missglückten Welt.
"Missglückte Welt" ist ein beinhartes Album mit starken Riffs, Sprechgesang, der klug ist und haften bleibt. Die Missglückte Welt ist zudem eine Art Netzwerk von SWISS' Anhängern. Das sollte man sich unbedingt live ansehen:
Juni - Hurricane Festival
August - Open Flair
07.10. - Frankfurt - Nachtleben
08.10. - München - Backstage Club
14.10. - Essen - Weststadthalle
15.10. - Köln - Underground
20.10. - Winterthur - Salzhaus
21.10. - Lindau - Club Vaudeville
22.10. - Stuttgart - Keller Klub
28.10. - Berlin - Musik und Frieden
29.10. - Leipzig - Moritzbastei
03.12. - Hamburg - Kaiserkeller