Freitag, 30. Oktober 2020

KW 44, 2020: Die luserlounge selektiert

Quelle: soundcloud.com/club-44
(sb/ms) Ja, es ist die emotionale Seite, die sich gerade ein wenig gefunden hat, um wieder Energie zu spenden. Und nun fehlt sie wieder. Viele Entscheidungen, die nun getroffen wurden, sind bestimmt richtig. Als Musiknarr sitzt man jedoch auf heißen Kohlen. Bislang gab es schöne Zwischenlösungen, um Konzerte stattfinden zu lassen. Klar, nicht mit dem gleichen Zauber wie einst, aber es wurde gespielt, gesungen, ein ganz wenig getanzt. Und eben ganz viel genossen. Das ist auch mein großer Antrieb, so gerne und so oft vor irgendeiner Bühne zu stehen und zu lauschen: Genuss. Das füllt die Energiespeicher auf, die unter der Woche dann wieder leiden. Es ist die wundervolle Kunst, die ich bestaunen möchte. Es ist die mystische Energie zwischen Musikerinnen und Publikum, die sich während eines Konzerts aufbaut und zuschlägt. Vor eineinhalb Wochen wollte ich zu Staring Girl nach Hamburg fahren, das Konzert fand auch statt. Doch die steigenden Zahlen erzeugten ein mulmiges Gefühl, da auch noch ein Familienbesuch anstand und der Beruf mit vielen Menschen verbunden ist. Gestern sollte dann Götz Widmann vor Ort spielen. Mensch, was habe ich mich gefreut und dachte morgens noch, dass das ja theoretisch noch ginge, Einschränkungen ja erst ab Montag. Doch auch dort wurde abgesagt.
Durchatmen, verstehen. Und Solidarität mit den Künstlern und Menschen im kulturellen Betrieb zeigen.

Jetzt erstmal Freitag. Jetzt Luserlounge. Jetzt das Ergebnis der Selektion bestaunen, belesen, hören.
 
Steiner & Madlaina
(ms) Ein wirklich gutes Liebeslied. Das ist die wahre Kunst. Und zur Liebe gehört auch immer das Ende einer Beziehung dazu. Der wirklich harte Part, der so schleichend kommt. Und dann doch krachend Einzug erhält. Wenn man weiß: Das hier lebt gerade noch, aber definitiv nicht mehr lange und aus einem Wir werden wieder zwei Ichs. Diese Zeit, diese Momente und Erkenntnisse musikalisch wirklich gut umzumünzen... das schaffen nur wenige. Spontan fallen mir Enno Bunger und Alin Coen ein. Mit Steiner & Madlaina reiht sich nun das Schweizer Duo in diese Riege ein. Ihr neues Lied Prost Mein Schatz befasst sich genau mit diesen Trennungserkenntnissen. Und das Alkohol auch ein absolut probates Mittel ist, um mit diesem ganzen Chaos irgendwie zurecht zu kommen. Es ist wundervoll, solch große Kunst zu hören, die nah geht und so harmonisch arrangiert ist: bedrückend und doch melodisch. Am 29. Januar erscheint ihre neue Platte Wünsch Mir Glück! Das tun wir selbstredend und freuen uns sehr auf das neue Album!


Decaying Days
(ms) Viel zu lange geht es hier im Blog schon zu kuschelig zu. Zu harmonisch. Zu fein, zu leise. Oder? Finden wir auch und haben endlich erneut taugliches Material gefunden, das einem wieder die Schuhe ausziehen kann. Was auch immer Melodic Death Doom Metal sei... Decaying Days aus Münster machen sehr gute Musik. Und das wirklich Bemerkenswerte dabei ist: Klar, es ist sehr gitarrenlastig und tief und wuchtig. Aber halt auch enorm melodisch. Es ist genau die Art von Metalmusik, bei der ich mich (völlig ohne Ironie) sehr gut konzentrieren kann, was ich gerne anhöre und sich dabei alles bei mir gewissermaßen entspannt. Das mag irrwitzig klingen, aber vielleicht versteht mich ja wer da draußen? Das Gute ist: Nach ihrem starken Debut The Fire Of A Thousand Suns legt das Quintett nun nach. Am 20. November erscheint der Nachfolger Namens The Unknown Beyond
Die Auskopplung Reflections zeigt dabei die Qualität ihrer Musik aufs Beste: Sie gestalten siebeneinhalb (!) Minuten auf spannende Art und Weise. Die unterschiedlichen Parts gehen nahtlos ineinander über, der growlige und normale Gesang bilden eine stabile Einheit. Wünschen wir den Jungs von Herzen, dass sie bald wieder live spielen können und ihre Zuhörer mit ihrer Kraft wegblasen werden. 


Myd
(sb) Gute Videos haben ja nicht nur die Aufgabe, den Zuseher zu unterhalten, sondern manchmal auch den überaus positiven Nebeneffekt, dass sie von der unterlegten Musik ablenken. Aktuelles Beispiel: Moving Men von Myd (feat. Mac De Marco). Ohne Bewegtbild für mich eher ein Skip-Track, dank Video aber äußerst amüsant und plötzlich doch recht interessant. Das Album folgt 2021, davor soll es aber noch den ein oder anderen Single-Release geben. Mal schauen, ob die ähnliche gechilled daherkommen...

 
Calexico
(ms) Wir befinden uns in einer heiklen jahrenzeitlichen Phase. Klar, es ist Herbst. Klar, der Sommer ist rum. Klar, Erntedank haben wir auch dieses Jahr nicht gefeiert. Und auch klar: Hallooween am Samstag nervt komplett ab. Und dennoch: In den Konsumläden ploppen die Regale über mit Weihnachtssschoko, Adventskalendern, winterlichen Karten und allerhand Gedöns. Gruselig. Klar auch: Spekulatius ist super, doch gerne erst ab Dezember. Was dann im Musikgeschäft ebenso furchtbar wird: Weihnachts-Alben. Argh, Instant Gänsehaut, aber die von der unschönen Seite.
Doch es gibt ein Trostpflaster. Und das gibt es ja bekanntermaßen immer nur von Bands, denen man solche Sachen verzeiht, weil man sie seit Jahren gut findet und sie auch objektiv sehr stabil abliefern. Heißt: Calexico in diesem Fall. Seit Jahren bin ich ihren sanften Klängen aus Americana, mexikanischen Trompeten und sehr geschmackvollen Harmonien erlegen. Am 4. Dezember veröffentlichen sie nun also mit Seasonal Shift ein Weihnachts-/Neujahrs-/Silvesteralbum. Logischerweise heißt die erste Auskopplung auch Hear The Bells. Und auch hier zeigt sich wieder, dass Joey Burns und Co. ein wirklich herausragendes Gespür für Text, Harmonie und den richtigen Einsatz von Bläsern haben! Ich hole dann doch mal die Spekulatius raus...
 

Lachinos
(ms) Erstaunliches passiert, wenn man Lieder hört, deren Texte man nicht versteht: Man kann sich nur noch vom Klang berauschen lassen. Das kann nun mit dem französischen Sextett Lachinos passieren. Sie leben in Paris, singen aber nicht auf Französisch. Sowieso: Es ist kaum Frankophiles in dem Wesen ihrer Musik zu erhaschen. Vielmehr bewegen wir uns hier vom Geist eher in Süd- und Mittelamerika. Diese Woche erschien ihre erste EP Namens America Lachina. Es sind nur vier Lieder, doch alle schäumen nur so vor zarter Energie. Es sind nicht die Songs, die mit der Tanzbrechstange durch die Boxen knallen, sondern auf beinahe mysteriöse Weise und mit unheimlich viel Hüftcharme überzeugen. Ob es mal eine Flöte ist, die verspielt zum Bewegen einlädt oder die zurückgelehnten Percussion... Hier hat wirklich jedes einzelne Stück einen ganz einen Charakter, der schnell vor Feuer übersprüht! 



Chris Mayer and the Rockets
(sb)  Es gibt sie noch, die richtig schönen Popsongs, die zur Jahreszeit passen und die man immer wieder hören möchte. Autumn Riot ist so einer und ich hoffe wirklich sehr, dass der Track die Aufmerksamkeit bekommt, die er verdient. Schon vor Jahren lief die Demoversion des Songs auf Heavy Rotation auf Bayern 3, jetzt erscheint er endlich als Single und markiert gleichzeitig das Debüt von Chris Mayer and the Rockets, einer Band aus dem Raum Starnberg (Oberbayern). Feelgood-Folk-Rock mit ganz viel Herz und Verstand, der für das im kommenden Jahr folgende Album einiges verspricht.

 
Ghøstkid
(sb) Letzte Woche Woodkid, diese Woche Ghøstkid - eine gewisse Konstanz braucht der Mensch. Dass es diesmal jedoch deutlich brachialer zu Werke geht, liegt auf der Hand, wenn man bedenkt, dass hinter dem Projekt kein Geringerer steckt als Sushi, Ex-Sänger von Eskimo Callboy (ja, das sind die, deren Drummer mal bei der Bachelorette gewonnen hat!), der sich zudem noch Verstärkung in Form von Mille Petrozza, Marcus Bischoff (Heaven Shall Burn), Timi Hendrix (Trailerpark) und Johnny 3 Tears (Hollywood Undead) ins Boot geholt hat. Das Debütalbum Ghøstkid (VÖ: 13.11.) ist also eher nix für romantische Abende zu zweit, wenn man sich aber gelegentlich gerne mal anschreien lässt, ist man hier genau richtig. Und wie mein Vater zu schön auf Bairisch zu sagen pflegt: "Wems gfoid, fia den is riesig!"
 

Common
(ms) Was sind die entscheidenden Elemente, die einen aufmerksam zuhören lassen? Ich glaube, dass es stets andere ausschlaggebende Punkte sind: mal die Melodie, dann wieder der Rhythmus, oft der Text. Das Unterschwellige, was dann begeistert und das man nicht so richtig in Worte fassen kann, würde ich mit Groove, Drive oder als catchy beschreiben; wenn es einen packt. Beim neusten Song von Common ist es definitiv der unglaublich bestechende Bassbeat, der über vier Minuten das Lied Say Peace dominiert. Es ist frisch und dennoch oldschool: Wooooha! Um diesen heißen Bass bauen sich mit allerhand kleinen Elementen, dem stabilen Rap und ein paar Snippets ein wirklich beachtlicher Song. Laut funktioniert er am besten! Wer (wie ich) vorher noch nie von Common gehört hat, dem sei dies gesagt: Oscar für den besten Filmsong 2015, zwei gewonnene Grammys, Autor zweier Kinderbücher und Schreiber für die New York Times. Zusammengefasst haben wir es hier mit einem klassischen Tausendsassa zu tun! Heute (!) erscheint neue Musik von ihm unter dem Namen A Beautiful Revolution Pt 1! Ja, genau. Genau das brauchen wir gerade. Ab dafür:

Donnerstag, 29. Oktober 2020

Jon Flemming Olsen - Mann auf dem Seil

Foto: Anne de Wolff

 (ms) Leicht sein. Was ist das nur für eine wundervoll-romantische Vorstellung? Sorgenlos! Der Hans-Guck-In-Die-Luft. Der Taugenichts. Müßiggang ohne Ende, keinen Gedanken an ein Morgen verschwenden, einfach mal schauen, was kommt und sich drauf einlassen. Kein Krampf, kein Stress, kein Schmerz. Ja, das zu versuchen ist schon schwer, eine komplette Umsetzung im Alltag... nein, sie ist nicht unmöglich, es ist nur eine Frage der Zeit. Wie lange hält die Leichtigkeit, wie lange kann ich sie genießen, ehe das Eis bricht und man sich zwischen Rechnungen, Anrufen von der Versicherung, Ärger mit den Vermietern, verlorenen Nerven auf der Arbeit und all dem anderen Schrott hingeben muss. Das tut dann immer weh, wenn man aus einer Phase der Leichtigkeit kommt. Doch ein Weg an der Realität führt halt nicht vorbei. Das muss man ausbalancieren. Und genau darum geht es in dem neuen Album von Jon Flemming Olsen. Es heißt passenderweise Mann Auf Dem Seil.
Varieté finde ich wirklich spannend, eindrucksvoll, faszinierend. Wenn diese Artisten Unmögliches verbringen und es so unbeschwert ausschaut. Im Kleinen machen wir das auch tagtäglich, nur schaut uns dabei keiner zu - hoffentlich.

13 Lieder präsentiert uns der Wahl-Hamburger, der seit jeher ein musikalischer Narr im besten Sinne ist. Spielt und spielt und spielt Gitarre. Voller Leidenschaft, ja, Bestimmung. Wenn man ihn mal live gesehen hat, weiß man auch, dass er ein absoluter Nerd ist. Auf Tour schleppt er zig verschiedene, teils seltene Modelle mit sich herum, kann zu jedem einzelnen Saiteninstrument mindestens einen Roman erzählen und sie halt auch noch sehr gut bedienen. Mann Auf Dem Seil ist sein drittes Solo-Album. Obwohl das nicht ganz stimmt. Klar, es steht sein Name drauf, die Texte und Arrangements sind auch von ihm, doch es gibt einen hörbaren Unterschied. Der hat sich über viele Gigs aufgebaut. Denn Olsen ist den anderen Weg gegangen. Nicht vom Studio auf die Bühne, sondern von der Bühne ins Studio und zurück. Ein Jahr lang hat er live diese neuen Leider ausprobiert, umgespielt, auseinandergebastelt und wieder zusammengesetzt. Dann hat er sich das Ensemble Konsonanz aus Bremen geschnappt und die Platte live im Schmidt Theater, Hamburg, eingespielt.

Das Ergebnis ist eine äußerst vielschichtige Platte, dessen Genre ich gar nicht so recht zuzuordnen weiß. Es ist Gitarrenpop, Folk, Country. Aber auch so etwas wie Volksmusik - und das bitte hier nicht falsch verstehen, denn den Begriff Schlager wollen wir tunlichst vermeiden. Was ich sagen will: Jon Flemming Olsens Musik läuft nicht zwingend bei ByteFM oder fm4. Vielleicht eher auf NDR1. Und das ist keine Wertung, sondern eine Einordnung. Denn die Platte ist sehr rund, bringt den Hörer an einigen Stellen zum vergnügten Schmunzeln, kann sowohl freudig als auch melancholisch stimmen.

Traurig beginnt diese Platte. Wenn Du Wiederkommst bleibt ein Konjunktiv. Jemand, der nicht mehr da ist, aber sehr vermisst wird, zieht den Alltag ins Graue. Alles ohne Belang, solange das Gegenüber fehlt. Wer dies genau ist, lässt Olsen uns offen. Und das ist schön. So kann man sich seine eigene Geschichte spinnen. Doch dieser trübe, aber sehr schöne Starter wird sofort vom leichtfüßigen Es Wird Etwas Geschehen abgelöst, und die häufig recht heitere Stimmung des Albums erhält Einzug. Mit einem sehr großen, schön-saloppen Augenzwinkern ertönt In Zwanzig Jahren. Ich habe keine Kinder, kann es nur aus der Ferne beurteilen. Aber dass es mitunter zwanzig Jahre dauert, bis man auch wieder Ruhe vom geliebten Nachwuchs hat, kann gut sein. Nicht alles so ernst nehmen, das ist hier der Rat. Und er ist gut, humorvoll. Ob auf diesem oder auf einem der anderen Stücke: Das Engagement der Streicher hat sich äußerst gelohnt. Sie geben den unterschiedlichen Atmosphären noch mehr Intensität als wenn die Lieder nur mit Gitarre dargeboten wären. Wie Macht Sie Das ist ein kurzweiliger Wohlfühl- aber auch Liebessong. Ja, Jon Flemming Olsen ist ein hoffnungsloser Romantiker, das kann man wohl behaupten. Und mit dem gleichen Herz erklingt Unerreichlich Schön. Definitiv stimmungsvoll, musikalisch und textlich das absolute Herzstück der Platte. Zum Einen ist es pure Ästhetik, die einen staunen, verlieben lässt. Aber es muss nicht nur das Äußere sein, auch die innere Schönheit kann so fulminant sein, dass man dazu ein tolles neues Wort erfindet.

Mann Auf Dem Seil ist ein schönes, kurzweiliges Album, das auch kritische Textstellen aufweist, im Großen und Ganzen aber zwischen Melancholie und Romantik pendelt. Herrlich. Klein und Groß in Einem! Wie macht er das?!

Ob sein Konzert morgen in Bremen stattfindet, ist mehr als ungewiss (Stand Donnerstagabend ist es nicht abgesagt). Kommendes Jahr gibt es in Hamburg Nachschlag. Empfehlung des Hauses!

30.10.20 Bremen, Bürgerhaus Weserterrassen (19.30 Uhr + 21.15 Uhr)
09.04.21 Hamburg, Lola Kulturzentrum


Freitag, 23. Oktober 2020

KW 43, 2020: Die luserlounge selektiert

Quelle: 43einhalb.com
(sb/ms) Das Problem, wenn man dieses kleine, schöne, aber auch zeitaufwendige Hobby betreibt, ist manchmal folgendes: Man wird nach der eigenen Meinung zu unterschiedlichen Künstlern und Musikerinnen gefragt. Das kann ich nachvollziehen, denn viele Leute laber ich gerne mit meinem Pseudomusikwissen voll. Dann tritt aber auch zutage, dass man halt sehr, sehr ausgewählt hört. Viele Bands sagen mir natürlich was, aber ich kann damit nichts verbinden. "Wie findest du eigentlich The National?" - "Keine Ahnung, habe ich nie gehört."
"Was sagst du zum neuen Lied von Die Ärzte?" - "Hör mir auf. Eine Band, mit der ich mich noch nie beschäftigt habe. Ab und an hört man ja einen Track, und da merke ich, dass die Texte der Ärzte mir vollkommen egal sind. Dieser Humor zündet bei mir überhaupt nicht. Was soll das eigentlich?" - "Jaja, du Besserwisserboy."
So kann das dann gehen. Das Problem von Die Ärzte ist ja auch, dass sie ein hohes Ansehen genießen, aber ich weiß nicht so wirklich, warum. Wegen des Unterhaltungscharakters? Weil sie irgendwie Kult sind? Weil sie ein paar händevoll Hits hatten? Weil sie sich so rar machen? Weil sie es geschafft haben, so lange zu halten? Puh, alles irgendwie fadenscheinig. Weiß ich nicht. Und ganz ehrlich: Ist mir auch egal. Man muss auch mal gegen etwas sein.

Und man muss für etwas sein. Hier ist eine Auswahl von beiden. Also: Hingelesen, hingehört!
 
Woodkid
(sb) Sieben Jahre ließ Woodkid die Musikwelt auf den Nachfolger seines erfolgreichen Debütalbums The Golden Age warten. Eigentlich ja marketingtechnischer Selbstmord, die Erfolgswelle nicht auszureiten, aber halt auch extrem konsequent - und das passt zum Franzosen, der auch schon Regie bei aufwändigen Musikvideos von beispielsweise Taylor Swift und Rihanna geführt hat.
Jetzt meldet sich Yoann Lemoine (so sein bürgerlicher Name) also zurück, von der zwischenzeitlichen Ankündigung, das neue Album solle etwas positiver und fröhlicher klingen, ist jedoch nichts übrig. Wehmut, Sehnsucht und Pathos dominieren S16 (VÖ: 16.10.), der kalte, industrielle Sound und die gleichzeitig meist warm anmutende Stimme gehen eine fruchtbare Symbiose ein, die bestens funktioniert. Irgendwie wird man das Gefühl nicht los, man lausche einem Soundtrack. Inhaltlich dreht sich das Album in erster Linie um Zweifel und die Möglichkeit, sich Hilfe zu erbeten, wenn man alleine nicht mehr zurecht kommt. "It’s a celebration of fragility and the power in admitting that there is fragility behind the processes of love and creation.” Da hat er wohl recht und projiziert seine Gefühlswelt sehr gekonnt und wirksam in eine bombastische musikalische Inszenierung, die dennoch den Spagat zur Intimität schafft.


beabadoobee
(sb) Es ist ja immer so eine Sache mit den Hypes und wenn diese vom britischen NME kommen nochmal mehr. Aktuelles Beispiel: beabadoobee! Anfang des Jahres wurde der philippinisch-englischen Künstlerin der Radar-Award verliehen und sie wurde als Support von The 1975 gebucht, ehe Covid-19 sie abrupt ausbremste. Am vergangenen Freitag erschien nun endlich ihr langersehntes Debütalbum Fake It Flowers und nach mehrmaligem Anhören kann ich nicht mal ansatzweise nachvollziehen, warum um die 20-Jährige derlei Rummel gemacht wird. Mich erinnert dieses ganze Gehabe fatal an die junge Avril Lavigne, falls die noch jemand kennt. Da wird marketingtechnisch schon sehr geschickt dieses "junge Frau mit rockigen Gitarren"-Spiel ausgereizt, aber bei mir ziehts einfach nicht. Textlich nicht, musikalisch nicht und auch dieses zwischenzeitliche Pseudo-Emo-Gehabe kann ich einfach nicht ernst nehmen. Ich wünsche der Zielgruppe viel Spaß damit, bei mir wird das Album im Festplatten-Nirvana verstauben. Wenn ich Grunge hören will, greife ich zum Original (am liebsten Pearl Jam, Alice in Chains oder die Screaming Trees) und wenn ich Alanis Morissette hören möchte, dann halt zu der - aber das kommt eher nicht vor...


Psychedelic Porn Crumpets
(ms
) Dass Musik direkte körperliche Symptome auslösen kann, sollte uns allen bekannt sein. Von großer, weltschmerzlicher Melancholie, übers genüssliche Heulen bis zu schier unendlicher Euphorie. Auch rauschähnliche Zustände können durch Klang geschaffen werden. Das geht durch hypnotische Töne, Mantras oder sehr flächigem, sphärischem Sound.
Die Psychedelic Porn Crumpets haben nicht nur einen genialen Namen sondern auch das Talent mit ihrer sehr wilden, ungebremsten, fast verrückten Musik den Körper zu stimulieren. In kleinen Dosen verabreicht sind ihre Sounds wirklich krasse Aufputschmittel! Der Puls geht ab dem ersten Tön in die Höhe, die Beine können nicht still halten und man weiß nicht so genau, wie man sich bewegen soll, wenn ein Track wie Tally-Ho erklingt. Da gibt's keine Eingewöhnungszeit, keinen einzigen Moment, dem die Band dem geneigten Hörer gibt, um sich darauf vorzubereiten. Es dreht sich sofort wirbelwindartig, völlig wild, laut, mit einer irren Schlagzahl. Das Schlagzeug kloppt ohne Ende, die Gitarren lagern sich nur so übereinander, ein Bass gibt keine Pause und der verzerrte Gesang gibt einem den Rest. Geil ist das. Kann man nicht anders sagen. Gut, dass es kommendes Jahr Nachschub in Albumlänge gibt, worauf dieses Lied enthalten ist. SHYGA! The Sunlight Mound heißt das Werk. Einfach zu merken und genauso wundervoll bekloppt wie der Sound der Band!


Schatzi
(sb) Deutsche Bilderbuch, Oida! Die Frage ist: Brauchts des? Wenn der PR-Text die Musik von Schatzi als "ganz und gar einzigartig und hochmysteriös" bezeichnet, kann man da in Österreich vermutlich nur drüber schmunzeln und voller Stolz auf seine vier Top 20-Alben in deutschen Gefilden blicken. Animalia Parc (VÖ: heute!) ist dabei sicher keine schlechte Debüt-EP, hält aber nicht mal ansatzweise, was das Drumherum verspricht und verlässt sich zu sehr auf die PR-Maschinerie und die in den Videos transportierte Ästhetik. Die lenkt gekonnt von der Musik ab, die über weite Strecken alles andere als unique ist. Die erste Singleauskopplung Glock wusste noch zu überzeugen und weckte Erwartungen, die nachfolgenden Tracks sind dann aber halt doch nur ein Bilderbuch-Abklatsch. Da muss mehr kommen, wenn man ein eigenes Profil schärfen und seinen Ansprüchen gerecht werden möchte.


Herman Dune
(ms) Es ist ja nun mal genau so: Man kann sich nicht alles merken. Und wenn ich mir eine dieser Rubriken aus dem letzten Jahr durchlese, erinnere ich mich nicht an viele Bands. Vielleicht an einige gute Songs, aber das Hirn ist ein Sieb. So auch mit Namen, die man vor Jahren mal gehört hat. Dazu gehört Herman Dune. Der veröffentlicht am 13. November sein neues Album Notes From Vinegar Hill. Vor zwölf Jahren erschien sein Lied Try To Think About Me, das einzige, was ich bislang mit diesem Namen verbinden konnte - ein Song, der eine wundervoll leichtfüßige Melancholie ausstrahlt, sowohl traurig als auch fröhlich ist. Kunst ist das.
Klar, in zwölf Jahren ist viel passiert. Doch das Grundgerüst seines Klangs ist nicht sooo anders geworden. Es pendelt vielleicht eher ein Stückchen mehr zum Fröhlichkeitspol als zur eingekehrten Andacht. Den Klang von Herman Dunes Musik könnte man als country'esken, folkigen Singer/Songwriter bezeichnen, der nicht nervt, sondern auch ganz sanfte, feine, kluge Weise unterhält. Es ist leicht, sich in seine Geschichten fallen zu lassen, als auch die Musik ein wenig nebenbei zu hören. Auch das ist Kunst. Wir empfehlen: Vorfreude auf das neue Herman Dune-Album!


Matthew Caws
(ms) Nada Surf ist wirklich eine der größten Bands für mich. Sie berühren mich auf wundervolle Art und Weise. Mit ihren Liedern. Mit ihren Texten. Mit ihren Aussagen. Aber vor allem mit ihrer ungeheuer großen Menschlichkeit. Mit ihrem wahnsinnig freundlichen, liebenswürdigen, humanistischen Lächeln und dieser nie enden wollenden positiven Energie. Das ist wirklich toll. Ein großer Anker im Alltag, wenn man denkt, alles geht mal wieder den Bach runter. Ihr aktuelles Album Never Not Together läuft regelmäßig und haut mich in seiner schönen, leisen Eleganz um. Sänger, Texter und Gitarrist Matthew Caws streut immer wieder politische, gesellschaftliche Themen in ihre Lieder ein, äußert sich in den sozialen Netzwerken sehr, sehr klar. Und dies nun auch unter seinem eigenen Namen. Es ist ein Protestsong zur Wahl den den USA. Die Band kommt aus New York, lebt dort. Und selbst in diesem Protestsong, When History Comes, glänzt der Text von kaum zu glaubender Menschlichkeit. Es gibt unzählige Gründe, gegen Trump zu sein. Caws wird die Demokraten wählen, das erzählt er im Text. Doch nicht ein böses Wort gegen den Präsidenten. Er wollte sogar das beste für ihn, es trat halt nur nicht ein. So viel Größe muss man erstmal haben.
Dennoch ist When History Comes ein wütendes Lied, auch wenn das Soundgewand nicht so erscheint. Und es ist ein realistischer Song, wenn er Zweifel äußert, ob das Lied wirkt, einen Republikaner umstimmt oder so. Dennoch ist es wichtig. Dennoch muss es geäußert werden. Dennoch muss gesungen werden. Mattew Caws - ein ganz Großer!


Coin
(sb) Kennt Ihr Miles noch? Drei der vier Songs der EP Indigo Violet (VÖ: heute!) von Coin haben mich beim ersten Durchhören an diese wunderbare Band des großartigen Tobias Kuhn, der uns später auch mit Monta so bezauberte, erinnert. Entsprechend positiv fällt natürlich auch das Fazit aus, denn mit zauberhaften Alt-Pop-Melodien kann man uns halt durchaus in den Bann ziehen. Bei der EP handelt es sich um Teil 1 eines dreiteiligen Projekts mit dem Titel Rainbow Mix-Tape. Jedes der Extended Plays wurde nach Farben benannt und die Stimmung der Tracks entspricht den jeweiligen Farben ihres Titels. Wir sind gespannt auf die Fortsetzungen.


Wanda
(sb) Auf den letzten Drücker haben wir eben noch die neue Single von Wanda reinbekommen. Die Wiener bleiben ihrem Motto "never change a winnig team" treu und so gibts wenig Überraschendes auf die Ohren. Was haltet Ihr von Jurassic Park?

 
The Weather Station
(ms) Wenn es eine Band beim ersten Hören schafft, schiere Begeisterung auszulösen, dann muss viel passiert sein. Ja, ich gebe zu: Ich bin ein anspruchsvoller Hörer. Das kommt hier nicht immer so wirklich durch, aber ich behaupte es einfach mal von mir. Vieles wird für kurze Zeit als gut empfohlen, doch nur wenig hat eine wirklich lange Halbwertszeit. Ehrlich gemeinte, leicht verzauberte und hohe Wahrscheinlichkeit genau dazu hat nun The Weather Station. Dahinter steckt Tamara Lindeman. Es ist ein Solo-Projekt, doch hört es sich so raumeinnehmender, vielschichtiger, feiner an. Heißt auch: Lindeman ist eine herausragende Künstlerin. Vor Kurzem ist ihr neuer Track Robber erschienen (digital und als 7"!) Dieser leicht versetzte Beat. Die klug platzierten Bläser. Die Klaviertöne am richtigen Ort. Streicher, die den Song nicht zu sehr aufladen, sondern ihm zusätzliche Spannung verleihen. Der Gesang, dem leichter Zweifel und genau die richtige Mimik des Videos einher geht. Das Video sowieso: Alles an einem Ort, alles etwas unwirklich. Man könnte auch sagen: Es sind fünfeinhalb perfekte Minuten. Die richtige Dramatik. Der richtige Grad an cineastischer Gewalt. Das richtige Maß an extrem hoher Kunst im Songwriting und im Arrangement. Hui! 

Freitag, 16. Oktober 2020

KW 42, 2020: Die luserlounge selektiert

Bild: quarantadue.it
(ms/sb) Schauen wir der unabwendbaren Tatsache ins Gesicht: Auch die Festivalsaison 2021 wird flach fallen. Davon bin ich mittlerweile relativ stark überzeugt. Nein, ich habe da keine Beweise oder Quellen für. Das sagt mir einzig und allein mein Bauchgefühl, auch wenn ich es mir eigentlich gar nicht eingestehen mag. Denn die drei, vier Tage voller Anarchie und Eskapismus sind seit jeher ein Highlight des Sommers. Wenn Künstler jeder Größenordnung bereits verschobene Tournees nochmals verschieben müssen (zum Teil aus diesem Frühling eineinhalb Jahre direkt in den Herbst des kommenden Jahres), dann gibt es einfach kein Szenario, wo sich 5000 oder 40.000 Leute kommenden Sommer bierseelig und dichtgedrängt im Schlamm in den Armen liegen. Das ist schlimm und traurig. Aber sicherlich wird es auch aus gesundheitlichen Gründen die richtige Entscheidung sein. Keine Sorge, Alternativen können weit im Voraus geplant und umgesetzt werden; vieles lief da diesen Sommer ja schon ganz phantastisch. Doch Sorge ist geboten bei den kleinen, geschmackvollen Festivals (Traumzeit, Poolbar, Immergut, Haldern Pop, Appletree Garden, etcetcpp) werden es noch schwerer haben oder es halt nicht schaffen. Daher: Subventionen, zinslose Darlehen, Spenden, Unterstützung an die Kunst. Jetzt!

Jetzt ist auch der Zeitpunkt, um sich auf die Töne zu konzentrieren. Luserlounge hier. Selektiert.

Compilation - Wir Müssen Hier Raus (Ton Steine Scherben)
(sb) Kaum eine deutschsprachige Band hat so sehr ihre Fußstapfen hinterlassen wie Rio Reiser und seine Ton Steine Scherben. Auch jetzt, 24 Jahre nach dem Tod des charismatischen Sängers, ist der Einfluss der Scherben ungebrochen und zahlreiche junge Bands geben sie als Referenz an. Bereits 1997 erschien eine Cover-Compilation namens Viva L'Anarchia, auf der sich in erster Linie Punkbands wie Dritte Wahl, Knochenfabrik, Fluchtweg oder die Terrorgruppe den Klassikern annahmen und ihnen einen neuen Anstrich verliehen. Habe ich damals echt gerne angehört, mittlerweile verstaubt die CD aber irgendwo im Regal.
Es wird also Zeit für eine neue Zusammenstellung und diesmal ist das Sammelsurium der teilnehmenden Bands auf Wir Müssen Hier Raus (VÖ: 20.11.2020) deutlich abwechslungsreicher. Neben altbekannten Neuinterpretationen á la Ich Will Nicht werden (Slime; geil, da hab ich das Album aus dem Jahr 1983 daheim, wo das drauf ist!), Für Immer Und Dich (Jan Delay), Halt Dich An Deiner Liebe Fest (live und unsäglich von Wir Sind Helden, sehr toll hingegen von Neufundland) oder Ich Bin Müde (Fettes Brot) enthält der Sampler auch bisher unveröffentlichte Versionen, wobei insbesondere Straße in der Fassung von Gisbert zu Knyphausen herausragt. Auch Alles Lüge von Östro430 überrascht überaus positiv, Testsieger ist jedoch (zumindest für mich) die Neufassung von Wir Müssen Hier Raus von Ken. Das steckt das Original aber mal ganz easy in die Tasche...
Weitere vertretene Künstler u.a.: Beatsteaks (auf Deutsch!), Bosse, Schrottgrenze, Die Sterne, Die Höchste Eisenbahn, Lina Maly und Rocko Schamoni
Alles in allem eine sehr vielschichtige Zusammenstellung, die Ton Steine Scherben zwar nicht durchgehend gerecht wird und bei der man sich stellenweise auch andere Cover-Interpreten gewünscht hätte, aber das wird durch einige Perlen definitiv ausgeglichen, sodass man die Compilation durchaus empfehlen kann, um sich den Originalen langsam anzunähern, wenn man sie bislang noch nicht kennt.


Portugal. The Man
(ms) C und ich schwärmten am Wochenende mal wieder über die großen Tracks und Alben von Portugal. The Man. Das tun wir immer, wenn wir uns sehen. Zurecht. Erachte ich Evil Friends als starkes Gesamtwerk, ist C ein riesiger Anhänger der alten Platten wie Church Mouth. Da sind Tracks dabei, die sich auf geniale Weise wandeln, unendlich viele Parts enthalten und immer noch als Ganzes funktionieren, sprich: Große Kunst. Selbstverständlich gönnen wir den Jungs auch ihren Erfolg mit Feel It Still, doch es knallt halt nicht mehr so. Und dann sagte C: "Ich glaube nicht, dass Portugal. The Man nochmal eine Platte herausbringen, die mich derart umhaut." Das glaube ich auch. Auch auf dem neuen Lied Who's Gonna Stop Me schaffen sie das nicht. Es ist schön poppig und geizt auch nicht an Groove, zweifelsohne ein guter Song. Und ihm liegt sogar eine wichtige politische Botschaft inne: Er will auf die indigenen Minderheiten Amerikas (und schlussendlich überall) aufmerksam machen. Dazu haben sie sich 'Weird Al' Yankovic ins Boot geholt und allerhand Freunde, Künstler, Tänzer, die in dem Video zu sehen sind. Viele indigene Gruppen haben eine wundervolle Beziehung zur Natur. Und wenn sie sagen, dass sie sich irgendwann für die Verfehlungen des Menschen rächt, kann man dem wenig entgegen setzen. Ob Pandemie oder Naturkatastrophen. Ja, wir sollten Mutter Erde besser behandeln. Wesentlich besser. Und dazu darf dann gerne dieser Track laufen!


Good Cop
(ms) Musikhören hat sich auf extreme Weise individualisiert. Die Möglichkeit, dass es nochmal wirklich große Stars gibt, die viele Leute vereinen, halte ich für gering. Man trauert vielem hinterher. Auch dem 00er-Jahre-Sound aus rotzigen Gitarren und schnodderigem, leicht aggressivem Gesang. Musik, die nie besonders hart war, eher tanzbar und nicht zwingend gefallen muss oder wollte. Keine Sorge! Sie ist wieder da! Und kommt aus Österreich! Also doppelt unerwartet. Das Trio nennt sich Good Cop und dreht die Regler hoch. Im September ist ihre Platte World Piss erschienen. Halten wir fest: Auf satte Art sind sie frech, haben überhaupt keine Scheu vor derbem Sprachgebrauch. Der spannende Effekt dabei: Das fällt gar nicht so sehr auf, dass es auch mal sehr eindeutig zugeht, denn die Musik der Drei ist derart temporeich, frisch und catchy, dass man denkt, sie kommt locker fünfzehn Jahre zu spät. Gut, dass sie jetzt da ist und durchaus für Aufsehen sorgt. Auch gut, dass aus Wien nicht nur Gitarrenpop oder Schmäh kommt! Das hier dröhnt gut rein und macht wahnsinnig viel Bock die Anlage daheim mutig aufzudrehen! 


Mischkonsum
(ms) Man macht oft den Fehler und stellt eine Band in Zusammenhang mit ihrer Herkunft. Der Fehler wäre bei Mischkonsum ganz gruselig. Denn sie kommen aus Paderborn. Eine Stadt, die für ausgeprägten Katholizismus, etwas, das man Hasenfenster nennt, furchtbares Bier und traurigen Fußball bekannt ist. Daher lassen wir das lieber. Denn mit all dem - außer vielleicht dem Bierkonsum, was ja auch nicht frevelhaft ist - haben sie gänzlich nichts zu tun. Die Band vereint klar definierte Gitarrensounds, Rap und abgeklärten Flow miteinander! Das knallt gut rein. Ihre aktuelle Single kp fasst die irgendwie schöne Zielsuche und Orientierungslosigkeit, die man mit Anfang 20 so hat, gut zusammen: Irgendwas studieren, ausschlafen, abhängen, gute Geschichten erleben und guten Menschen erzählen. Sie klingen wie Trouble Orchestra, die es leider nicht mehr gibt. Crossover war immer ein wenig heikel, doch die Jungs schaffen das hier auf wirklich sehr, sehr gelungene Weise! 


Convertible
(sb) Irgendwo zwischen Alice In Chains und Teenage Fanclub, zwischen den Black Crowes und der Sgt. Pepper-Phase der Beatles hat sich Hans Platzgumer mit seiner Band Convertible eingenistet und mit Holst Gate II (VÖ: 12.11.) ein Album aufgenommen, das trotz seiner Aktualität bereits zeitlos klingt und an die gute alte Zeit erinnert, in der man sich noch bewusst eine Stunde (oder in diesem Fall: 45 Minuten) genommen hat, um sich konzentriert und voller emotionaler Hingabe einem Album zu widmen. Die Fortsetzung des 2018er-Werks der Österreicher pendelt zwischen Komplexität und Vogelfreiheit und will sich auch nicht zwischen bedingungsloser Hingabe und Leichtigkeit entscheiden. Das alles tut dem Album ungemein gut, hält es stets spannend, birgt so manche Überraschung und sorgt dafür, dass man das Album immer wieder auflegt, auch wenn der potentielle Single-Hit fehlt. Wobei: Ein Album wie dieses hat sowas gar nicht nötig!


Lucien Kimono & Ian Isiah
(ms) Überraschungen und Unerwartetes sind der Kick im Musikgeschäft. Sie sind ein probates, einfaches und auch effektives Mittel, um die Blicke und Ohren auf sich zu ziehen. Das gelingt Lucien Kimono zusammen mit Ian Isiah recht gut dieser Tage. Denn Lucien hatte ich vorher als Pianisten auf dem Schirm, der dieses Jahr mit Piano Martinée eine leichtfüßige Platte veröffentlicht hat, auf dem nur das Tasteninstrument zu hören ist. Zusammen mit dem R'n'B-Künstler Ian Isiah hat er nun den Track Lonely Planet veröffentlicht, der weit weg von der andächtigen Klaviermusik ist. Lucien hat sich dabei eher in die Rolle des Produzenten begeben. Ein elektronisch-cooles Synthiegewand besticht durch Coolness im Hintergrund, worüber sich Isiahs Stimme legt. Es wäre kaum vermessen, wenn man dieses Lied mit den neueren Veröffentlichungen von Portugal. The Man (s.o.) vergleicht: Poppiger Groove, geschickte Beats mit gekonntem Griff zum Ohrwurmcharakter. Wobei Lonely Planet dafür vielleicht ein bisschen zu zurückgelehnt ist. Dennoch: Ein feiner, entspannter, unerwarteter Track! 


Revolt
(sb) Die fünf Teenager von Revolt haben Norwegen mit ihrem Talent, ihrer Einstellung und ihren Leistungen überrollt. Auf ihrem neuen Track Running From Demons (VÖ: 23.10.) konzentrieren sie sich auf psychische Gesundheit und Angst. Das Lied handelt von der Flucht vor den inneren Dämonen durch Alkohol, Schlaftabletten und Lügen. Harter Tobak also, den uns die jungen Leute aus Molde da servieren, aber halt auch unverschämt melodisch und vereinnehmend. Der Hype im Heimatland nimmt seinen Lauf, denn zu den bereits über 100 gespielten Konzerten (zur Erinnerung: das sind Teenager!), wurden für den kommenden Sommer schon über 20 weitere Shows gebucht. Eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis die Welle auch das UK und Deutschland erreicht...
Leider, leider gibts hierzu noch kein Video, wir liefern das aber gerne nach, sobald es verfügbar ist!

Revolt (Bild: HQindie)

Seatemples
(ms) "Nenne mir eine Band aus Chile!" Ich würde nicht nur verdutzt gucken, sondern auch absolut keine Antwort parat haben. Das ist doch recht weit entfernt vom eigenen Hörradius, doch über den Tellerrand muss man zwingend lauschen. Sonst gibt es Blasenprobleme!
Also auf nach Chile, auf zu Seatemples! Patricio, Priscila und Harold veröffentlichen heute ihr Album Trópicos auf dem sehr geschmackvollen Label Blackjack Illuminist Records. Für die zehn Tracks haben die drei das allerbeste aus Darkwave mit Postrock kombiniert. Heißt: Das wunderbar elektronische Schlagzeug gibt den Takt vor, der Gesang weist allerhand Hall auf, die Gitarren und Synthies erzeugen zusammen große, breite, irre Flächen. Zum Gesamtwerk ist es leicht, sich fallen zu lassen, in eine andere Welt einzutauchen oder auch zu tanzen. Je nach Anlass. Es ist doch oft verrückt, wie unglaublich gut es Bands gelingt, den Geist eines Sounds einzufangen und ihn auf eigene Weise zu interpretieren. Die Lieder von Seatemples könnten genauso gut vor 25 Jahren aus UK stammen. Umso faszinierender, wie rund und eigenständig es klingt ohne jeden Anflug von Hinterherrennen. Also kann man ab jetzt wenigstens einen sehr guten Namen nennen auf die oben gestellte Frage! 


Neànder
(ms) Eine zweiminütige Prelude, ein insgesamt 6 Lieder umfassendes Album, das dann 40 Minuten Spielzeit aufweist?! Das ist allein von den Zahlen her eine gewaltige Ansage. Noch gewaltiger ist jedoch der Sound von Neànder! Das Berliner Quartett erzeugt eine irre Wand an Gitarrensound, Tempo, Finsternis und Dramatik! Es hat durchgehend den Eindruck, dass sie ihre Saiteninstrumente um mehrere Stufen nach unten gedreht haben. Kaum auszuhalten, welch dichten, feinen und eindringlichen Sound sie kreieren. Der wilde, beinahe bedrückende Charakter ist hier das absolute Aushängeschild. Doch es driftet nie ab, zerfällt nie in unpassende Einzelstrukturen, sondern bleibt als ganzer Klang absolut bestehen. Und das bei Längen von 8 oder fast 12 Minuten. Das muss man sich erstmal ausdenken, den Mut haben, das auf Platte zu bringen und so gekonnt einspielen. Heidewitzka, hätte ich Bock, das ganz dringend mal live zu sehen. Aberaber... Das Album heißt Eremit, das sollte man sich merken. Super Nerdinfo: Alle Lieder der Platte sind nach Käferarten benannt. Wer kann, der kann...
Um es nochmals zu betonen: Was haben die vier hier nur für einen unglaublich satten, runden und wuchtigen Klang auf ein Album gebracht. Dieser kleine Text wird dem gar nicht gerecht. Daher die noch größere Aufforderung, das dringend laut zu stellen! 


Jegong
(ms) Hast du etwas Zeit für mich, dann... nimm dir 76 Minuten, um das erste Album von Jegong zu hören. Es führt den einfachen Namen I und erklingt in allerbester Krautrock-Manier! Die Band besteht aus Dalim Cipolla (Mono) und Reto Mäder (Sum Of R), zwei, die sich also mit instrumentaler Musik gut auskennen. Nicht nur der Klang des Albums ist eine gewisse Ehrerbietung an den 70er-Jahre Krautrock-Sound à la NEU! oder Cluster. Bei letzteren war Dieter Moebius Mitglied und er komponierte später ein Stück, dass eben Jegong hieß. Wie Kreise sich schließen...
Das gesamte Album zeugt von einem ungeheuer cineastischem Klang, ein Soundtrack für ein dunkles, düsteres Drama. Dracula-ähnliche Synthie-Orgel-Flächen wechseln sich mit ab und an dominantem Klavier ab. Ein Klang, der wunderbar hypnotisch ist. Denn eigentlich passiert auf den einzelnen Stücken oft gar nicht so viel, außer, dass sich Stimmungen aufbauen. Doch genau das ist die große Kunst dieser Platte. Man braucht wirklich ein wenig Geduld (denn ab und an könnte es auch mal langweilig werden) und die Lust, diese feinen Nuancen herauszuspüren. Dann entpuppen sich Tracks wie Sir Bell, Frames Of Referenze (mit einer Spielzeit von 9 Minuten!) oder Hollow White Star mit dem bestechenden Vibraphonspiel als wahre Perlen! Insbesondere bei instrumentaler Musik gelingt es vielen Gruppen gut, Namen der Lieder und ihren Klang in Verbindung zu bringen. Bestes Beispiel hier: Ghost City! Schließt man beim Hören die Augen, entstehen genau solche Landschaften, Straßenzüge und verlassene Häuser, denen Hauschka auf Abandoned Cities schon ein ganzes Album gewidmet hat. 
Eine sehr düstere, aber halt auch sehr gelungene Platte! 


Gregor McEwan
(ms) Ach, Herbst! Nicht ohne Grund bist du meine Lieblingsjahreszeit! Ich mag es, daheim im Pulli zu sitzen, draußen mal die Mütze auf. Mit gutem Grund mehr Kuchen und süße Heißgetränke als sonst und einfach mal guten Gewissens einen Abend in einer Decke eingewickelt auf dem Sofa verbringen. Großartig. Und jetzt folgt das allerbeste: Es gibt einen ungeheuer guten Soundtrack dazu! Er stammt von Gregor McEwan, umfasst vier Songs und heißt passenderweise Autumn Falls EP! Die erscheint heute (!) und weiß auf jedem der vier Lieder vollkommen zu überzeugen. Sowohl das musikalisch sehr vielschichtige, gewagte und aufgegangene Halloween Costume als auch das herrlich folkige Autumn Falls, das mit großen Melodien nicht geizt und voller Harmonie zeugt! Der Track zeigt Herz und genau das richtige Gesicht dieser Wochen und Monate: Ja, es darf ein wenig melancholisch zugehen; das ist vollkommen okay und klingt halt so wundervoll! Bislang wurden tatsächlich alle Stücke samt Video ausgekoppelt, heute folgt als letztes Ode To Oh, auch ein herbstlicher Track, bei dem die Trompete im Hintergrund brilliert. Der Trumpf der EP ist, dass die Leidenschaft des Sängers zu spüren ist im Gegensatz zum grauenerregenden Kitsch à la Mumford & Sons (Blog-intern: Manfred und Hans). Auch Forever Ago geizt nicht mit einem Hauch von Schwermut, doch das tut gut. Da kann man sich den gedankenschweren Tagen hingeben und beim Hören dieser Musik glänzt stets ein deutlicher Schimmer der Hoffnung auf. Das ist wirklich gut gemacht! Große Empfehlung des Hauses! 

Dienstag, 13. Oktober 2020

Jónsi - Shiver

Foto: Barnaby Roper
(ms) Es ist die Sache mit den Erwartungen und Hoffnungen an eine Neuerscheinung. Da muss man nicht lange schwafeln: Von Jónsi erwarte ich nichts Geringeres als ein Meisterwerk. Opulent muss es sein. Feine, aber auch große Melodien. Lieder, die sowohl ins Herz als auch in die Beine gehen. Rhythmen, die verzaubern. Songs, die wirklich groß sind: originell, neu, im wahrsten Sinne genial. Außergewöhnlich, unvergleichlich.
Und so sind im ersten Absatz schon wesentliche Adjektive verbraucht, um eigenständige, einzigartige Musik zu beschreiben. Wenn Sigur Rós zwar auf den Social Media-Kanälen recht aktiv sind, oft überarbeitete Platten wieder veröffentlichen, liegt das Projekt doch auf Eis. Sie sind nur noch zu zweit (Jónsi und Goggi) und dem ehemaligen Manager weht immer noch der Verdacht auf Steuerhinterziehung her.
Ein Glück, dass das Jónsis Kreativität nie geschadet hat. Er initiierte Kunstausstellungen, es gab ein paar Ambient-Experimente unter der Bezeichnung Liminal, die jedoch unter Sigur Rós veröffentlicht wurden.

Doch nochmal zu den Erwartungen: Warum sind meine Ansprüche an Jónsi so wahnsinnig hoch? Das ist leicht erklärt! Seit Jahren sind Sigur Rós für mich musikalisch-emotional das absolute Non-Plus-Ultra. Es ist kaum auszudrücken, wie sie es auf ihren Liedern ohne verständlichen Gesang schaffen, mich so krass zu berühren. Nur durch Melodien, Harmonien und perfekte Arrangements. Ihre Musik läuft nicht so häufig bei mir daheim, aber wenn, dann entsprechend laut und mit der Hand an der richtigen Stelle in die Luft gereckt. Live ist ihre Kunst noch weniger zu beschreiben, es ist nur zu erleben, wie sie zwischen sanfter Stille und extremem Lärm changieren. Sigur Rós, die Band, die mich live heulen lässt. Voller Dankbarkeit und Ergriffenheit.

Jónsi hat vor zehn Jahren sein Solo-Debut Go veröffentlicht. Bis heute ist auch das eine phantastische Platte. Am 9. Oktober (Mea Culpa) erschien nun der Nachfolger Shiver (zum Großteil auch auf Englisch gesungen). Der Künstler selbst sagt, dass er direkt nach Go mit dieser Platte begonnen hätte. Das ist kaum zu glauben, wenn man die Stücke hört. So ist der Sound doch hörbar anders. Extrem elektronisch. Das hat sich bei seinen vorherigen Projekten nur minimal angekündigt - auch bei dem Projekt Dark Morph mit C. M. von Hausswolff, das spürbar düsterer war, nicht. Dafür verantwortlich ist die Kooperation mit dem Produzenten A. G. Cook.

 

Was Jónsi auch hier auf bemerkenswerte Weise schafft, ist, große Momente mit teils brachialen elektronischen Elementen zu schaffen.
Dabei startet das Album mit Exhale ganz ruhig, beinahe andächtig, meditativ. Ruhige Klaviertöne, die an Ólafur Arnalds erinnern, bis Jónsis verzerrte Stimme einsetzt: Breathe in, breathe out, let go. Ja, das fällt hier ganz leicht. Nach drei Minuten kommt Schwung in den Track, ja, man kann von Euphorie sprechen. Er wird groß und dabei ist kein Bruch zu spüren, wenn es poppiger wird (ein Adjektiv, das man sich für diese Platte merken sollte). Auf Shiver (dem Track) wird geloopt, allerhand Knöpfe werden gedrückt, verspielte erklingen neben futuristischen Sounds. Ja, es sind kaum klassische Instrumente zu hören - hier ist jemand in seiner Kreativität extrem mutig geworden. Dennoch erzeugt er einen märchenhaften Sound, auch wenn er eher poppig (ja!) als sphärisch ist.

Auf der Platte sind auch Gäste zu hören. Beispielsweise Elizabeth Fraser, mit der er den sehr ruhigen Track Cannibal eingespielt hat. Er ist lange ruhig... bis er nahtlos in Wildeye übergeht. Dieses Lied startet mit gewöhnungsbedürftigen Klängen für Jónsi-Verhältnisse. Ja, es ist wild, aber es wird nie störend. Keine Ahnung wie, aber es fügt sich nahtlos ein! Und auch hier wird es neben den bizarren Stellen hörbar poppig. Das hat kaum noch etwas mit dem Solo-Vorgänger oder dem Sigur Rós-Sound zu tun. Am Ende bricht dieses Stück sogar komplett aus. Hut ab!
Als wunderschöne Abwechslung kommen danach zwei Lieder auf Isländisch: Sumarið Sem Aldrei Kom und Kórall sind dabei auch mit je über sechs Minuten die längsten Stücke der Platte. Klar, es ist auch total unfair seine neuen Leider mit teils lang Vergangenem zu vergleichen, doch aus diesem Korsett kommt man als Schreiberling und Hörer nur schwer heraus. Hier wird er wieder ruhiger, andächtiger und spielt doch immer wieder DJ'eske Elemente und Sequenzen hinein.
Der Sound passt auch zu den stark animierten Videos, das geht ganz harmonisch Hand in Hand und beweis erneut, dass Jónsi ein kompletter Künstler ist. Er ist locker mit Damon Albarn oder Nick Cave zu vergleichen. Wie wunderschön, dass Jónsi sein Talent mit uns teilt!

Nach den ruhigen Parts erklingt Salt Licorice zusammen mit Robyn! Derart poppig (ja, erneut!) wie hier hat sich der Isländer meines Wissens nach noch nie gegeben. Das ist schon krass! Und Robyn klingt an einigen Stellen wie Yolandi Visser!

 

Zum Ende der Platte gibt es noch ein richtig starkes Highlight. Swill fasst das Gewand dieses Albums perfekt zusammen: die Synthie-Töne, die Größe, den sauberen (aber nie zu glatten) Pop. Dieser Track knallt auch laut besonders gut! Ruhig und leise endet Shiver. Mit Grenade und Beautiful Boy folgen am Ende noch zwei ruhige, beinahe mystische Lieder, die einen durchaus melancholischen Touch aufbringen.

Ja, dieses Album war (für mich) so nicht zu erwarten. Doch es ist sehr ausgewogen, was die Stimmungen und Dynamiken anbelangt. 
Also: Erwartungen an Alben. Ja, Shiver ist ein beeindruckendes Werk, weil mutig, kreativ, völlig unerwartet, neu, irgendwie frisch. Doch die ganz großen Momente bleiben aufgrund des recht poppigen (manchmal an der Grenze zur Beliebigkeit) Charakters aus. Es tut der Platte jedoch keinen Abbruch, wird aber voraussichtlich dafür sorgen, dass sie bei mir persönlich nicht auf Heavy Rotation laufen wird. Um es jedoch nochmals zu betonen: Das hier ist ein wirklich beeindruckendes Album von Jónsi!

Montag, 12. Oktober 2020

The Screenshots - 2 Millionen Umsatz Mit Einer Einfachen Idee

Foto: Frederike Wetzels

(ms) Welche war die letzte relevante deutschsprachige Band im Gitarrenrockbusiness? Und: Ist das wichtig? Oft sind es ja die Bands, die eh schon lange da sind, die dann die entsprechenden Reputationen bekommen. Ich frage mich: Wie wird man in fünf bis zehn Jahren über eine Band wie Provinz oder Giant Rooks berichten, die gerade ganz gut Oberwasser haben? Werden sie sich einen Rang erspielen können? Ein Blick in die Glaskugel ist dabei wenig hilfreich, es wird sich zeigen.
Nein, junge Bands, die auf Deutsch singen, wollen sich ja auch irgendwie einen Rang erspielen. Mit ihrer Geschichte, dem Sound, der Darstellung oder den Texten.
Damit sind wir bei The Screenshots, die sich ja eine etwas dämliche Bandgeschichte zusammengesucht haben: über Twitter kennengelernt unter den Namen Kurt Prödel, Dax Werner und Susi Bumms. Anonym bleiben ist ja okay, aber das ist doch etwas zu viel Blabla. Oder ist das cool und ich verstehe es nicht? Bin ich zu spießig, um es originell zu finden? Doch hier gilt ebenfalls: Auch egal!

Lange Zeit ist das Trio gar nicht in die Öffentlichkeit getreten. Und dann der erste richtige Auftritt direkt bei Böhmermann. Kann man machen! Doch auch da blieben sie gesichtslos.
Nun treten sie seit letztem Herbst vollständig ins Licht und am 16. Oktober erscheint bereits ihre zweite Platte Namens 2 Millionen Umsatz Mit Einer Einfachen Idee.

Letztes Jahr auf dem Reeperbahn Festival sah ich sie abends im Terrace Hill und die Drei haben eine schön energiegeladene Show abgeliefert. Knarzige Gitarre, Bass, wirbelndes Schlagzeug, kehliger Gesang. Mehr braucht es ja oft nicht. Genau diese Power bringen die Krefelder (wenn man ihrer Herkunft glauben kann) auf Platte!
Was The Screenshots auf diesem Album sehr gut machen, ist, dass sie nie versuchen, irgendeiner der großen Genre-Bands hörbar nachkommen zu wollen. Sie kommen anders daher als Kettcars Storytelling, Tocotronics beinahe nerviger Intellekt oder der Eigenwilligkeit von Die Sterne. Die Zeit nannte ihre Musik "Diskurs-Pop". So weit würde ich mich nicht aus dem Fenster lehnen. Ja, sie wollen Debatten aufnehmen und voran treiben, aber für meinen Geschmack fehlt diesem Anspruch der programmatische Charakter. Ich wiederhole mich: Auch egal!
Ihre Texte schwanken zwischen Alltagsbetrachtungen, Humor, Übertreibung, Konsumkritik, Reflektion und Lakonie. Und auch die gute, alte Liebe darf nicht fehlen. Wenn man es jetzt aber irgendwie zusammen bringen will, dann kann man das Trio als irgendwie gearteter Mix aus Fortuna Ehrenfeld, Selig und der Gruppe Sport betiteln. 

Große Unterstützung braucht die Band eigentlich nicht. Ihr Sound und ihre Texte funktionieren super. Doch für Träume holten sie sich LGoony dazu und spielen beste Indie-Manier im Zusammenspiel aus Gitarre, Gesang, Schlagzeug, Tempo und Groove. Bleiben dabei schön unaufdringlich. Bis auf den Refrain: Da wird herrlich gebrüllt. Sowieso: Das tun sie auf den elf Song sehr gern und sehr gut. Auf perfekten Gesang wird kein Wert gelegt. Auch bemerkenswert, dass sich LGoonys Autotune gut in den Klang der Band fügt!
Ging es eben noch um Konsumkritik, wird auf Walter White Ist Tot das nächste modern-zivilisatorische Thema aufgriffen: Binge Watching! Und der Track enthält schöne kreativ-musikalische Reflektion: Alles gesehen, alles geguckt, vollkommen abgestumpft, gähn! Irgendwann enden wir dann wohl die eine Figur aus David Foster Wallaces Unendlicher Spaß: Verhungern vor der Flimmerkiste, weil wir nicht aufhören können uns zu berieseln.
Dann folgt noch Wir Lieben Uns Und Bauen Uns Ein Haus: Das Thema von einem 'Uns' Anfang der 30er: Heiraten, zusammen ziehen, Kinder kriegen, Haus bauen, endlich ein bisschen spießig sein mit Auto unterm Carport. Die wilde Zeit ist dann ein Stück weit vorbei. Doch die mit dem Titel identische Zeile wird hier so herrlich rausgebrüllt... das tut ja beinahe gut!

 
 
Auf John Mayer darf Susi Bumms dann ans Mikrophon und seziert sexistische Popsongtexte: ein toller feministisch-reflektierter Track, der dem Business gut tut. Hier wird auch nicht lange um den heißen Brei herum geredet, sondern Scheiße als Scheiße deklariert.
Zum Ende hin wartet dann noch ein weiterer, super Brüll-Song: j@@@@@ heißt er. Nun gut, lassen wir dem Trio das. Und das Lied ist der ideale Beweis, dass die Drei auf Perfektion keinen großen Wert legen, sondern einfach machen: die Gitarren schrammeln und nach der Studioaufnahme hatten sicher alle drei eine Stimmbandentzündung, dabei ist der Song eine schöne Liebesbekundung!

Fassen wir zusammen: Auf die Geschichte, den (digitalen) Auftritt und die Pseudonyme müssen wir keinen Wert legen. Auf dieses sehr gut gewordene Album jedoch schon! Uh, was bin ich gespannt, ob sie sich einen Rang erspielen können. Ich gönne es ihnen wirklich. Sie haben es sich mit dieser Platte mehr als verdient!

Freitag, 9. Oktober 2020

KW 41, 2020: Die luserlounge selektiert

Bild: astronlogia.com
(ms/sb) Die Überraschungen und Kleinigkeiten des Alltags: Das klingt halt ganz furchtbar nach einer Kreuzung aus Kalenderspruch und Paolo Coelho. Wenn es nicht sogar das gleiche ist.
Doch die Geschichten und ganz kleinen Momente zwischendurch sind halt wirklich das, was einen mal ein wenig abschalten lässt.
Es ereignete sich am heutigen Morgen in der Bahn. Man ist da ja immer ein wenig degeneriert. Viele hören Musik, ich lese meist. Wenn sich da wer unterhält, drehe ich durch. Ich werde regelrecht aggressiv!
Doch was mich zum Schmunzeln bringt, sind originelle Ansagen des Personals. Und solch eine war heute morgen zu vernehmen: Da sagte der Schaffner (sagt man das noch?) auf platt (!) die Streckt mit Fahrtziel Bremen an. Wie toll ist das denn bitte? Dazu kam eine feine Stimmlage, sodass das auch gar nicht nervig klag. Dann folgt noch ein super schöner, wenn auch leicht trauriger Nachsatz: "Wenn wir in den Kalender schauen, stellen wir fest, dass John Lennon heute Geburtstag hätte. Doch der wurde ja vor vielen Jahren erschossen. Nun gut. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Fahrt." Der Bildungsauftrag im öffentlichen Nahverkehr! Ich bin Fan!

Wir verfolgen auch einen. Im Musikgeschäft. Es ist Freitag. Wir haben Selektiert und tischen auf!

Austin Lucas
(sb) Man hat es in Zeiten wie diesen nicht leicht und Austin Lucas schon gar nicht. Der Amerikaner sitzt aufgrund der Corona-Pandemie mehr oder weniger unfreiwillig in Europa fest, Freunde und Familie sind auf der anderen Seite des großen Teiches. Immerhin wurde die Zeit sinnvoll genutzt und mir Alive In The Hot Zone (VÖ: 30.10.) ein hochpolitisches Album aufgenommen, das sowohl amerikanische als auch globale Entwicklungen kritisch hinterfragt und mit großer Sorge betrachtet. Musikalisch gesehen ist die Scheibe erstaunlich heterogen aufgebaut: Nach drei Tracks in bester Manier á la Nathan Gray oder Chuck Ragan folgen drei Songs, die genau so (also stimmlich und auch vom Pathos her) von Morrissey stammen könnten. Insbesondere bei American Pyre musste ich mich mehrmals vergewissern, dass da wirklich nicht der Mozzer zu hören ist. Danach gehts wieder im punkig bzw. rockig angehauchten Songwriter-Stil weiter, was Austin Lucas alles in allem auch besser steht bzw. seine Intention auch glaubhafter transportiert. 


EF
(ms) Schweden, Sehnsuchtsland der Deutschen. Was hast du uns nicht alles für helle, wundervolle Momente gebracht mit Astrid Lindgren, Mando Diao oder ABBA? Wir sind dir kollektiv dankbar dafür! Doch ebenso dankbar sind wir für die lauten, wuchtigen, düsteren Töne, die du verlässlich von dir gibst. Ein wirklich beeindruckendes Stück Musik kam vor zehn Jahren aus dem Norden. Man könnte munkeln, dass dunkle Wälder die Heimstätte von EF sein könnten? Ja, könnte man. Oder halt nur ein enorm gutes Gespür, wie satte, mitreißende Melodien samt Erdbeben zu großem Genuss führen können! Das Quintett liefert seit 2003 extrem verlässlich ab und hat mit Mourning Golden Morning 2010 ein wirklich packendes, energiegeladenes Album veröffentlicht. Lange habe ich nicht verstanden, was Post-Rock überhaupt bedeuten soll. Mit so einer Platte ist dieses Genre perfekt beschrieben. Darunter machen wir es nicht. Ein Glück, dass das kleine, sehr geschmackssichere Label Kapitän Platte die Veröffentlichung dieses Albums übernommen hat. Und es jetzt zum Geburtstag nochmal ans Tageslicht bringt. Denn: Lange, lange vergriffen! Am 16. Oktober erscheint das Werk auf goldenem Vinyl mit noch nie gehörtem Bonus-Material! Also, ab! Die guten Läden und die besonderen Bands unterstützen!


Pascal Finkenauer
(ms) Die Fähigkeit, sich überraschen zu lassen, ist wichtig. Man muss staunen können. Wer abstumpft, verreckt irgendwann ganz klein und traurig. Es ist nicht schlecht, jedes Mal auf neue Allem eine Chance zu geben. Bei den guten Sachen, dem Schönen. Auch bei Musik. Wobei es hier nicht danach klingen soll, jemandem eine zweite Chance zu geben. Keineswegs. Sondern sich von Unerwartetem überraschen und überzeugen zu lassen. Und da ist Pascal Finkenauer genau der richtige Typ für. Nicht nur seine Solo-Platten sind große Klasse, auch die Kooperation mit Fettes Brot oder seine feinen Gedichte! Bevor kommendes Jahr (endlich!) ein neues Album von ihm erscheinen wird, überrascht uns der Hamburger mit einer Veröffentlichung! Wer sein leises Treiben bei Facebook verfolgt, merkt, dass er immer wieder Songideen, Schnipsel, Fertiges mit der Welt teilt. Vergangenen Montag hat er jedoch einfach ein Album veröffentlicht, das er Signals nennt. Das Englisch passt wenig zu ihm, der die deutsche Sprache in Lied- und Versform so gut beherrscht. Und das wiederum passt mit diesen Tönen. Denn es gibt darauf keinen Gesang, nur Instrumentales. Sehr andächtig ist Signals geworden. Es oszilliert zwischen Meditation, Melancholie und Düsterem. Welche Sorgen, Gedanken und Impressionen da wohl für verantwortlich sind? Man wird es nie erfahren. Man kann es nur erhöhren und sich seine eigenen Gedanken machen. Bei Bandcamp gibt es das Album zu kaufen. Haben wir selbstredend gemacht und empfehlen es eindringlich!


Matterhorn
(ms) Wie wählen wir die Musik aus, über die wir hier berichten? Das ist oft sehr schwer zusammen zu fassen. Manchmal sind es einzelne Promoter, denen man vertrauen kann, dass da immer was Gutes kommt. Alte Bekannte haben hier auch einen festen Platz. Und dann stöbert man so rum. Dann wird selektiert. Dann landet man bei einer Band aus Trondheim, über die hierzulande leider wahrscheinlich kaum berichtet wird. Sie nennen sich Matterhorn und machen Musik. Das ist klar. Aber es ist ganz schwer in Worte zu fassen, was für Musik sie machen. Es sind zu hören: Gitarren, Stimme, Trompete, Schlagzeug, eigentlich das ganz normale Programm. Doch Tempo, Melodien, Rhythmus und Ideen werden dabei so geschickt und außergewöhnlich kombiniert, dass ein Mix aus großen Queen-mäßigen Melodien gepaart mit einem Sound à la Calexico und einer breiten, dramatischen Harmonie, die aus der Feder von Konstantin Gropper kommen könnte, daraus entsteht. Das ist wirklich schön. Es ist gewissermaßen beflügelnd. Und auf extreme Weise cineastisch. Am 6. November wird ihr Album Outside erscheinen. Es lohnt sich sehr, sich darauf einzulassen. Eine vergleichbare Band aus unseren Breitengraden fällt mir beim besten Willen nicht ein. Also! Mutig sein und zuschlagen!


Shelter Boy
(sb) Ich war in meinem Leben bisher ca. 30 mal in England. Hauptsächlich zum Fußball schauen, hin und wieder auch für Konzerte, manchmal für beides und oft begleitet mit Bier. Man nimmt halt mit, was man kann. Will sagen: So a bisserl britische Kultur habe ich durchaus schon aufgesaugt. Und dann kommt da Calm Me Down von Shelter Boy daher und ich denk mir beim Anhören: Hm, nice, klingt richtig geil und typisch britisch. Klar, der Dialekt passt nicht, aber den Bengel stelle ich mir in grauen Jogginghosen vor, wie er so durch Birmingham streift und nix mit sich anzufangen weiß.
So kann man sich täuschen, denn de facto ist das Musik aus deutschen Landen und Simon Graupner (so der bürgerliche Name des Künstlers) gelingt mit seiner Single der anspruchsvolle Spagat zwischen Unbeschwertheit und Melancholie, Ernsthaftigkeit und aufreizender Lässigkeit. Natürlich hab ich mir direkt auch ein paar ältere Tracks des Dresdners angehört, an Calm Me Down (VÖ: heute) reicht aber leider keiner ran. Die Richtung stimmt also, wenn man so will...


Charly Hübner & Ensemble Resonanz
(ms) Eigentlich weiß ich über das, was hier jetzt zu lesen ist, kaum etwas. Aber die Kombination von Namen, Ideen und Tönen ließ mich mehr als aufhorchen. Im wahrsten Sinne. Denn im guten, alten Radio kam eine tolle, kurze Nachricht. Es geht um Charly Hübner, Nick Cave und Franz Schubert. Und das natürlich im Deutschlandfunk Kultur - wo sonst?! Charly Hübner ist einer der geilsten Schauspieler, Personen, Ideenfinder hierzulande. Das kann man genau mit dem Adjektiv so stehen lassen. Ob die Doku über Monchi oder sein schauspielerisches Talent. Er ist wandelbar und ganz nah, menschlich. Nun hat er mit dem Hamburger Ensemble Resonanz die Winterreise von Franz Schubert eingespielt. Das gibt es auf Platte nun zu erstehen. Die klassischen Lieder und Texte von Schubert werden auf dem Album mit Liedern von Nick Cave kombiniert. Es klingt morbide, düster, aber auch wundersame Art einfühlsam und, ja, genüsslich schön! Hier wartet ein weiteres, phantastisches Angebot, um mal wieder über den Tellerrand zu hören!
Ganz wichtig! Ganz, ganz wichtig: Das hier ist nicht das verkappte Musikprojekt eines Schauspielers. Hier beweist ein Profi, wie gut er mit seiner Stimme umgehen kann. Was in ihm steckt. Worauf er Bock hat. Das muss nicht gefallen. Das muss nicht die bestuhlten Hallen der Ü50er à la Prahl und Liefers füllen. Sondern Hinhörer und Genießer packen! Also! Los!

 

Freitag, 2. Oktober 2020

KW 40, 2020: Die luserlounge selektiert

Bild: https://www.hdg-bavaria.com/
Bild: https://www.hdg-bavaria.com
(ms/sb) Michel Abdollahi finde ich richtig gut. Ein kluger, feinsinniger Journalist, der stets mit der richtigen Portion Humor und Sarkasmus arbeitet. In den vergangenen Tagen habe ich sein Buch Deutschland Schafft Mich gelesen. Seine Kunst für Worte, Zusammenhänge und Ironie an den richtigen Stellen ist dort wunderbar nachzulesen. Man könnte sogar auflachen. Wenn es nicht so bitter wäre. Denn Abdollahi zeichnet auf den gut 250 Seiten die Entwicklung der sogenannten Neuen Rechten aus den letzten Jahren nach. Angefangen bei den Schläger-Nazis aus den 90er Jahren bis hin zu den ultra-harten rechten Hardlinern, die nun in unserem Parlament sitzen und sich keines Tabu-Bruchs zu schade sind, kein politisches Programm haben, sondern nur gegen Minderheiten, Andere, Nicht-Weiße, Nicht-Deutsche (was auch immer das bitte sein soll) pöbeln, treten und offen für den Gebrauch von Gewalt polarisieren. Leider gibt es genug Idioten, die das dann auch noch ausführen. Wie sich das für jemanden anfühlt, der als Kind aus dem Iran kam und seit vielen, vielen Jahren hier lebend leider für einen gewissen Teil der Bevölkerung noch immer nicht dazu gehört, beschreibt Abdollahi aus eigener Perspektive, aus eigener Erfahrung.
Kluge Worte. Richtige Appelle. Schnell zu lesen. Und dennoch erschreckend. Sollte man machen.

Jetzt geht es um Musik. Luserlounge. Freitag. Wir haben Bock. Wir haben 
selektiert.

Martin Kohlstedt
(ms) Der Sehnsuchtsort seit jeher ist die Nordsee. Das ist so. Über die Gründe könnte ich sicher eine längere Abhandlung schreiben, das tut hier aber nichts zur Sache. Ich versuche ein Mal im Jahr für mindestens ein paar Tage da zu sein. Und dann heißt es: Entspannung pur. Ich bin sofort raus aus dem Alltag, ganz weit weg. Ganz nah dran. Luft. See. Wasser. Wind. Runter fahren. Doch an diesem Ort passiert etwas Seltsames: Die Nordsee hat für mich keinen Klang. Es gibt für mich dort keine Musik. Kein Shanty, keine Gitarren, kein Rock, Pop, Rap, Klassik, nichts. Ruhe. Stille. Wind. See. Rauschen. Brausen. Doch vielleicht ändert sich das nun. Verantwortlich dafür ist der wunderbare Martin Kohlstedt! Der Wahl-Weimarer und Klangkünstler hat sich für die nächste Auskopplung seines kommenden Albums FLUR (erscheint am 27. November) nämlich in die Dünen Dänemarks begeben und den Track XEO dort live gespielt. Es rauscht und windet im Hinter- und Vordergrund und mittendrin ertönt dieses feine, leise Stück über viereinhalb Minuten. Ein Lied, das ganz im Hier und Jetzt ist. Das sich nicht aufdrängt. Das ruhige Kreise zieht und wieder zu sich selbst findet. Ja, das schafft die See auch bei mir. Vielleicht ist es ja bald schon soweit. Dann wird der Praxistest erzwungen. Bis dahin heißt es: Zurück lehnen, genießen, lauschen. Martin Kohlstedt!


Jon Flemming Olsen
(ms) Spulen wir kurz zurück ins letzte Jahr. Da lebte ich in der namenlosen Provinz zwischen Bremen und Hamburg und suchte nach kulturellen Highlights in der Pampa. Es gab vereinzelt welche, die mich echt glücklich gemacht haben. Dazu gehörte auch ein Konzert von Jon Flemming Olsen in einem Dorf, das Ahausen heißt. Da fährt man noch nicht mal durch. Für die TV-Affinen ist wichtig zu wissen, dass Olsen nicht nur Dittsches Ingo ist, sondern auch unter seinem bürgerlichem Namen wundervolle Musik macht. Die ist ganz zart, beinahe zerbrechlich und doch so bestimmt. Liegt an der TV-Bekanntheit oder an den typischen Kultur-auf-dem-Land-Spielstätten, dass seine Konzerte eher von Leuten besucht werden, die locker meine Eltern sein könnten?! Ich verstehe das nicht. Was hindert uns - sagen wir mal Studenten bis junge Familieneltern - davon, da auch hin zu gehen? Ich weiß es nicht.
Zurück nach Ahausen. Da saß also Olsen auf einem kleinen Podest, erzählte unterhaltsame Geschichten und spielte allein mit Gitarre und einem Percussion-Bau sehr einfühlsame, aber nicht anbiedernde Lieder. Das hat mich gepackt. Das war richtig gut. Und das kann man bald auf einem neuen Album hören, das Mann Auf Dem Seil heißen wird und am 30. Oktober erscheint (wir werden berichten!). Ein Lied, das man bereits jetzt hören (und sehen) kann, hat mich letztes Jahr schon so gerührt. Es heißt Unerreichlich Schön und klingt so:


Crucchi Gang
(sb) Was für eine wundervolle Idee und was für eine grandiose Umsetzung! Es muss wahrlich ein rauschendes Fest nach einem Bob Dylan-Konzert gewesen sein, das Francesco Wilking (Tele, Die Höchste Eisenbahn) und Sven Regener (Element Of Crime) zu dem Geistesblitz führte, die Crucchi Gang ins Leben zu rufen. Gerüchten zufolge wurde Bier konsumiert, aber wenn da nicht auch reichlich Chianti im Spiel war, dann weiß ich auch nicht...
Wie dem auch sei: Amore liegt in der Luft, wenn eigentlich deutschsprachige Künstler ihre Songs auf Italienisch performen oder andere Bands covern. Der Halb-Italiener Wilking trat in den meisten Fällen als Übersetzer in Erscheinung und erfüllte diese Aufgabe wirklich großartig und mit sehr viel Geschick. So wird aus der "AfD" in Von Wegen Lisbeths Meine Kneipe im italienischen Pendant Al Mio Locale direkt mal die "Lega". Und hey, sogar ich als ausgewiesener VWL-Skeptiker muss zugeben, dass der Song zieht und das sogar deutlich mehr als im Original. Höhepunkt dürfte hingegen Wilkings Interpretation von Bilderbuchs Bungalow sein. Grande!
Überhaupt ist die Crucchi Gang überaus prominent besetzt, denn beispielsweise auch Faber, Steiner & Madlaina, Thees Uhlmann und Clueso sind Teil des Projekts und kleiden ihre Songs in sommerliche Italo-Pop-Gewänder. Das klingt frisch, überraschend und über weite Strecken auch authentisch - nur das fehlende rollende "r" wird dem ein oder anderen zum Verhängnis. Aber egal! Eine klasse Zusammenstellung, bei der sich nur eine Frage stellt: Wie konnte man Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys vergessen?


Aloe Blacc
(sb) Ah, diese Stimme... Vor Jahren entdeckt, dann mit I Need A Dollar lieben gelernt und seitdem auf dem Schirm. Klar, die Musik von Aloe Blacc gehört nicht unbedingt den Genres an, die bei mir bevorzugt laufen, aber seine überaus warme und sympathische Stimme sorgt doch immer wieder für ein wohliges Gefühl und mit seinem neuen Album All Love Everything (VÖ: heute!) gelingt es dem Künstler, ein durchwegs positives Lebensgefühl zu transportieren, das Hoffnung vermittelt, selbst wenn die Lebenssituation noch so ausweglos erscheint. Vielleicht liegt es auch an der primären Thematik des Albums, denn mit Liedern rund um die Familie trifft Blacc bei mir natürlich voll ins Schwarze. Im Titeltrack des Albums spinnt Blacc beispielsweise den roten Faden, der sich inhaltlich durch die Songs über familiäre Liebe und Durchhaltewillen zieht und so autobiographische Details mit imaginären Elementen verbindet. Letztendlich zwar Mainstream, aber immerhin at its best!


Berne
(sb) Mein Gott, was soll denn nun bitte "Earth Pop" sein? Gefühlt werden die von Bands und Agenturen kreierten Sub-Genres fast täglich noch dämlicher, aber solange die Musik, die sich dahinter verbirgt, hörenswert ist, soll es mir recht sein. Neuestes Beispiel: Berne! Deren Stay EP (VÖ: 25.09.) bietet abwechslungsreichen elektronischen Pop, der am besten zur Geltung kommt, wenn er - wie im Track Heat - ins Sphärische abdriftet. Auch textlich wissen die Briten zu punkten, denn hinter den mitunter verträumten Melodien verstecken sich relevante Themen wie der klimatische Notstand, die Flüchtlingskrise oder sogar Tierrechte.
Interessanter Sidefact: Die Website der Band ist nach dem Low Impact-Prinzip aufgebaut, d.h. 100% von Solarenergie betrieben und so designed, dass nur ein Minimum an Energie benötigt wird. Keine Bilder, keine Videos - all das reduziert den Energieverbrauch drastisch.


Die Liga der Gewöhnlichen Gentlemen
(ms) Ein Sommerhit im Herbst. Das muss man sich erstmal trauen. Auf die Idee muss man erstmal kommen. Da gehört schon Schneid dazu. Ein bisschen Verrücktheit. Aber auch abgefuckte Coolness. Plus ein Hauch Abgeklärtheit und sympathische Ignoranz der musikindustriellen Mechanismen. Dafür steht Die Liga Der Gewöhnlichen Gentlemen seit vielen Jahren mit ihrem guten Namen. Einfach machen. Und es ist immer gut. Ist so. Der aktuelle Geniestreich nach der sehr guten Platte Fuck Dance Let's Art kommt auf einer 7" daher. Das muss man sich auch erstmal trauen. Super Typen. 500 Stück. Schön limitiert. Schöne Lieferzeitprobleme. Aber alles egal. Denn darauf befindet sich ein brandneuer Track, der programmatischer nicht sein kann: Ferien Für Immer. Ja, ist das denn die Möglichkeit? Sind die Hamburger jetzt völlig verrückt geworden? Arbeit ist doch super. Ach, nee. Das ist ja nur ein Sechsbuchstabenwort. Mist, verwechselt. Müßiggang also. Schön an den Strand. Da kann man auch mal den Flieger nehmen. Eine 747 fliegt in den Süden. Doch ja. Stimmt. Sie haben recht. Die Idee ist verlockend. Gerade jetzt, wo es hier im Norden zunehmend schmuddelig wird...
Für das perfekte Verbrechen sind Tapete Records verantwortlich, die das feine Stück plus B-Seite auf die kleine Vinyl-Scheibe gepresst haben. Also: Rein in den Shop, ran an den Speck. Es ist die Liga. Sie sind sehr gut!


Travis
(sb) Es muss Ende 1997 gewesen sein, als ich im legendären Atomic Café in München diese junge, aufstrebende Band aus Glasgow sah, die gerade ihr Debütalbum veröffentlicht hatte und (zumindest in der Indie-Szene) in aller Munde war. Sie nannten sich Travis und Good Feeling sollte es im UK tatsächlich auf Platz 9 der Charts schaffen. Der Grundstein für eine erfolgreiche Karriere war gelegt und auch die rund 400 Zuschauer im Atomic verließen den Club vollkommen euphorisiert. Was folgte, lässt sich am besten in Zahlen ausdrücken: Sechs weitere Top 10-Alben im Vereinten Königreich (darunter zweimal Platz 1!) und auch vier Top 10-Platzierungen in Deutschland. Und gibt es wirklich jemanden, der nicht hin und wieder mal Why Does It Always Rain On Me, Side, Sing oder Turn summt? Trotz der nachwievor vorhandenen Erfolge wurde es in den letzten Jahren ruhig um die Schotten, die ganz großen Zeiten waren offensichtlich vorbei.
Mit 10 Songs (VÖ: 09.10.) stehen die Chancen jedoch prächtig, dass Travis auch in der öffentlichen Wahrnehmung wieder zulegen werden, denn das Album vereint all das, was die Band so stark und sympathisch macht: eingängige Melodien, nahbare Texte, eine vertraute Stimme und keinerlei Attitüde, sich über den Zuhörer zu erheben. Tracks wie A Ghost, A Million Hearts oder Nina's Song knüpfen nahtlos an die großen Hits des Quartetts um Sänger Fran Healy an und sind dabei doch nur die Speerspitze eines durchwegs unterhaltsamen Albums ohne Schwachpunkte. Ich muss ehrlich gestehen, dass ich Travis so eine großartige Scheibe nicht mehr zugetraut hatte, freue mich nun aber umso mehr, eines Besseren belehrt worden zu sein.


Staring Girl
(ms) Gründe, warum ich so liebend gerne deutschsprachige Gitarrenmusik höre: Einige gute Bands schaffen es, innerhalb von drei, vier Minuten eine Geschichte zu erzählen, die mir nahe geht, die ich verstehe, in die ich mich hineinversetzen, hineinfühlen kann. Dazu muss ich mein rudimentäres Englisch nicht bemühen - bequem aber praktisch. Dieser feine Zauber eines in Musik verpackten Charakterzuges. Das schaffen Staring Girl seit vielen Jahren auf feinfühlige Weise sehr, sehr gut. Die Texte der Hamburger Band sind immer kleine Episoden, Momentaufnahmen ohne Kitsch, eine vertonte Pausetaste aus dem Alltag. Wunderschön, sehr fein und klug. Nach der letzten EP (die auch praktischer Weise so heißt), haben sie sich erneut ins Studio begeben, um ein paar Songs aufzunehmen. Einen davon darf man nun hören und sehen. Im Video springt der letzte Zipfel Sommer herüber. Der Track Menschen Aus Geschichtsbüchern ist leichtfüßiger als manch anderes Lied des Quintetts. Mit einer schönen, sorglosen Geschichte geben sie sich dem Zeit-verplempern hin. Wie schön. Müßiggang. So soll es sein. Ein Genießer, wer es schafft, das in seinen Alltag zu bringen. Große Band, toller Song!

 

Wie Ein Fremder
(ms) Die beste aller Jahreszeiten steht ins Haus! Wenn der Herbst erstmal so richtig da ist, dann geht mein Herz auf. Nachmittags, wenn ich von der Arbeit komme, kann ich noch etwas Zeit auf dem Balkon genießen ohne zu frösteln. Morgens ist es angenehm frisch ohne Handschuhe auf dem Rad tragen zu müssen. Und wenn es abends dunkel ist, kann man es sich herrlich auf der Couch bequem machen und guten Gewissens die Glotze anschalten. Oder halt Netflix, nennen wir das Kind beim Namen. Wir würden in dieser Form nie Werbung für eine dort ausgestrahlte Serie machen. Aber es gibt gute Gründe. Sehr gute Gründe! Denn die von uns extrem begeistert aufgenommene und als herausragend befundene Doku-Serie Wie Ein Fremder ist seit gestern dort zu sehen. Wir haben bereits darüber berichtet. Und die Euphorie hält an! Zurecht. Was hat Aljoscha Pause da nur für ein sagenhaftes Werk vollbracht?! Diese Langzeit-Doku über Roland Meyer de Voltaire ist ein außergewöhnlich nahes Portrait über einen Musiker, der seinen Weg verloren hat und sehr, sehr bemüht, verzweifelt und dennoch irre diszipliniert ist, ihn wieder zu finden. Ja, er erzwingt sein Glück - das kann man so sagen. Und macht sich komplett blank vor der Kamera. Dazu gehört Mut, Vertrauen und auch Glück. Glück, dass Pause und Meyer de Voltaire sich begegnet sind. Um diese Serie staunend zu schauen, muss man nicht zwingend die Musik von Roland kennen oder mögen (was aber schnell leicht fallen wird). Es geht um einen Menschen. Es geht um Musik. Um Talent. Um Steine im Weg. Das wird leise, eindrücklich und klug erzählt. Also ab auf die Couch!