Foto: John Fisher |
(ms) B. war letztens zu Besuch, wir tauschen uns viel über Musik aus. "Kenne ich nicht", sagte sie dann auf einmal. Ich war etwas verdutzt. Es war die Reaktion auf die Frage, worauf ich mich als nächstes freuen werde. "Yann Tiersen", war meine Antwort. Irgendwie habe ich - nicht nur bei B. - vorausgesetzt, dass der Name bekannt sei. Weit gefehlt in meiner eigenen kleinen, wabernden Blase. Für sein neues Album Kerber ist es auch ziemlich gut, wenn man Yann Tiersen gar nicht kennt. Die Assoziationen und Erwartungen könnten sonst irgendwo zwischen hoch, kitschig, schön romantisch und cineastisch sein. Lösung kommt unten, wer scrollt ist selber Schuld.
Sieben Stücke erstrecken sich auf einer guten dreiviertel Stunde. Wobei erstrecken das falsche Wort ist. Es impliziert, dass es sich dehnt, mitunter zäh und langweilig werden kann. Es sei garantiert, dass Langeweile hier nicht aufkommen wird. Traumhafte Sequenzen öffnen die Stücke. Beim Hören ist es leicht, in diesen Kosmos einzutauchen. Es könnten sechs Kapitel sein, oder eine große Geschichte - die Freiheit des Hörenden.
Alles, was so unter Neo-Klassik läuft, erlebt seit einigen Jahren einen ziemlich krassen Boom. Ich finde es toll, dass das möglich ist. Dass sich diese ruhige Musik ihr Feld sucht. Ob das jetzt alles kommerziell ausgeschlachtet wird, ist mir egal. Ja, vieles hört sich ähnlich an, wenn es still und zart ist. Doch die kleinen, feinen Nuancen sind es, die die Unterschiede entstehen lassen.
Auch bei Tiersen steht das Klavier im Vordergrund. Damit hat er jedes Stück angefangen zu komponieren. Das Schöne: Es blieb nie dabei. Ähnlich wie Ólafur Arnalds oder Martin Kohlstedt hat auch Yann Tiersen die anfänglichen Pianoparts auseinander geschnitten, wieder gesampelt, neu zusammen gesetzt, umgebaut, größer oder kleiner gemacht. Eine schöne, Legobaukasten-ähnliche Weise mit Klang zu experimentieren.
Natürlich, das Klavier bleibt auch im Vordergrund, es ist das bestimmende Instrument, auch wenn Tiersen in den Pressetexten das Gegenteil behauptet. Was für den Künstler auf diesem Album völlig neu ist, sind die elektronischen Spielereien, die er über, neben, auf die Tastentöne setzt. Einige geben dem Arrangement einen mechanischeren Klang, andere erzeugen futuristische Assoziationen, manche stören auf gute Art. Eine vielfältige, sehr hörenswerte Reise.
Kerber klingt irgendwie hart, aber nur auf deutsch. Französisch müsste es 'kerbee' ausgesprochen werden. Es ist der Name einer kleinen Kapelle auf der Insel Ouessant, die vor Brest im Atlantik liegt, auf der der Künstler seit vielen Jahren lebt. Mit Kerlann beginnt das Werk ganz leicht, verträumt. Einzelne kleine Akkorde, die mit höheren Tönen garniert werden. Elektronisches Knistern gesellt sich dazu, als ob der Bildschirm flirrt. Es wäre jetzt verfehlt, zu behaupten, dass sich das Tempo steigert. Die Melodie wird ein ganz bisschen breiter, schlängelt sich aber in zarten, schönen, harmonischen Bahnen. Dieses Lied ist so unverschämt ruhig, dass es den gesamten Körper beim genussvollen Lauschen runterfahren lässt. Irgendwie orientalisch vom Titel her klingt Ar Maner Kozh. Ich weiß auch nicht was es bedeutet, interessiert mich auch nicht. Doch das leicht Pathetische, Romantische des französischen Wesens kommt ihr - meines Hörerachtens - zur Geltung. Die elektronischen Elemente dienen hier beinahe als Rhythmus. Da tritt das große Tasteninstrument merklich in den Hintergrund! Ein feines Spiel wird hier gespielt! Wirklich ruhig wird es nun auf Ker Yegu. Da könnte Tiersen fast mit Martin Kohlstedt zusammen gearbeitet haben. Irgendwo las ich, wie Klaviermusik gehört werden kann. Das Ohr konzentriert sich wohl automatisch auf die rechte Hand mit den hohen Tönen, sie strahlen auch auf diesem Stück. Die linke Hand jedoch bleibt vollkommen entspannt, mantrahaft spielt sie ihre Akkorde und sorgt für eine gelöste Grundatmosphäre. Mal den Fokus verschieben.
Das titelgebende Stück hat nun mit zehn Minuten und vierzig Sekunden die längste Spielzeit. Es entwickelt sich bedächtig aber mit klarer Kontur, nach zwei Minuten startet schon eine fühlbare Dramatik, eine schöne Unruhe. Die Dauer, aber auch das Arrangement zeigen hier recht eindrucksvoll, dass Tiersen ein Soundtrackkomponist der ersten Reihe ist: Hektische Bilder schwirren durch den Kopf, steigern das Tempo, nehmen es wieder raus, schwanken zwischen zarter Hoffnung und auflodernder Melancholie.
Eintauchen in Musik. Das liebe ich wirklich. Das macht dieses Album sehr leicht. Gerne höre ich mir diese Neo-Klassik an (wir brauchen dringend ein neues Wort dafür!), schließe die Augen, lasse mich entführen. Ehrlicherweise höre ich es auch nicht so oft. Es ist ein Typ von Musik, das Ruhe und vor allem Zeit braucht. Diese 48 Minuten sind ein starker Ausflug mit zahlreichen zu entdeckenden Details!
PS: Er komponierte den Soundtrack zu Goodbye Lenin und vor allem Die Fabelhafte Welt der Amelie.
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