Dienstag, 13. Oktober 2020

Jónsi - Shiver

Foto: Barnaby Roper
(ms) Es ist die Sache mit den Erwartungen und Hoffnungen an eine Neuerscheinung. Da muss man nicht lange schwafeln: Von Jónsi erwarte ich nichts Geringeres als ein Meisterwerk. Opulent muss es sein. Feine, aber auch große Melodien. Lieder, die sowohl ins Herz als auch in die Beine gehen. Rhythmen, die verzaubern. Songs, die wirklich groß sind: originell, neu, im wahrsten Sinne genial. Außergewöhnlich, unvergleichlich.
Und so sind im ersten Absatz schon wesentliche Adjektive verbraucht, um eigenständige, einzigartige Musik zu beschreiben. Wenn Sigur Rós zwar auf den Social Media-Kanälen recht aktiv sind, oft überarbeitete Platten wieder veröffentlichen, liegt das Projekt doch auf Eis. Sie sind nur noch zu zweit (Jónsi und Goggi) und dem ehemaligen Manager weht immer noch der Verdacht auf Steuerhinterziehung her.
Ein Glück, dass das Jónsis Kreativität nie geschadet hat. Er initiierte Kunstausstellungen, es gab ein paar Ambient-Experimente unter der Bezeichnung Liminal, die jedoch unter Sigur Rós veröffentlicht wurden.

Doch nochmal zu den Erwartungen: Warum sind meine Ansprüche an Jónsi so wahnsinnig hoch? Das ist leicht erklärt! Seit Jahren sind Sigur Rós für mich musikalisch-emotional das absolute Non-Plus-Ultra. Es ist kaum auszudrücken, wie sie es auf ihren Liedern ohne verständlichen Gesang schaffen, mich so krass zu berühren. Nur durch Melodien, Harmonien und perfekte Arrangements. Ihre Musik läuft nicht so häufig bei mir daheim, aber wenn, dann entsprechend laut und mit der Hand an der richtigen Stelle in die Luft gereckt. Live ist ihre Kunst noch weniger zu beschreiben, es ist nur zu erleben, wie sie zwischen sanfter Stille und extremem Lärm changieren. Sigur Rós, die Band, die mich live heulen lässt. Voller Dankbarkeit und Ergriffenheit.

Jónsi hat vor zehn Jahren sein Solo-Debut Go veröffentlicht. Bis heute ist auch das eine phantastische Platte. Am 9. Oktober (Mea Culpa) erschien nun der Nachfolger Shiver (zum Großteil auch auf Englisch gesungen). Der Künstler selbst sagt, dass er direkt nach Go mit dieser Platte begonnen hätte. Das ist kaum zu glauben, wenn man die Stücke hört. So ist der Sound doch hörbar anders. Extrem elektronisch. Das hat sich bei seinen vorherigen Projekten nur minimal angekündigt - auch bei dem Projekt Dark Morph mit C. M. von Hausswolff, das spürbar düsterer war, nicht. Dafür verantwortlich ist die Kooperation mit dem Produzenten A. G. Cook.

 

Was Jónsi auch hier auf bemerkenswerte Weise schafft, ist, große Momente mit teils brachialen elektronischen Elementen zu schaffen.
Dabei startet das Album mit Exhale ganz ruhig, beinahe andächtig, meditativ. Ruhige Klaviertöne, die an Ólafur Arnalds erinnern, bis Jónsis verzerrte Stimme einsetzt: Breathe in, breathe out, let go. Ja, das fällt hier ganz leicht. Nach drei Minuten kommt Schwung in den Track, ja, man kann von Euphorie sprechen. Er wird groß und dabei ist kein Bruch zu spüren, wenn es poppiger wird (ein Adjektiv, das man sich für diese Platte merken sollte). Auf Shiver (dem Track) wird geloopt, allerhand Knöpfe werden gedrückt, verspielte erklingen neben futuristischen Sounds. Ja, es sind kaum klassische Instrumente zu hören - hier ist jemand in seiner Kreativität extrem mutig geworden. Dennoch erzeugt er einen märchenhaften Sound, auch wenn er eher poppig (ja!) als sphärisch ist.

Auf der Platte sind auch Gäste zu hören. Beispielsweise Elizabeth Fraser, mit der er den sehr ruhigen Track Cannibal eingespielt hat. Er ist lange ruhig... bis er nahtlos in Wildeye übergeht. Dieses Lied startet mit gewöhnungsbedürftigen Klängen für Jónsi-Verhältnisse. Ja, es ist wild, aber es wird nie störend. Keine Ahnung wie, aber es fügt sich nahtlos ein! Und auch hier wird es neben den bizarren Stellen hörbar poppig. Das hat kaum noch etwas mit dem Solo-Vorgänger oder dem Sigur Rós-Sound zu tun. Am Ende bricht dieses Stück sogar komplett aus. Hut ab!
Als wunderschöne Abwechslung kommen danach zwei Lieder auf Isländisch: Sumarið Sem Aldrei Kom und Kórall sind dabei auch mit je über sechs Minuten die längsten Stücke der Platte. Klar, es ist auch total unfair seine neuen Leider mit teils lang Vergangenem zu vergleichen, doch aus diesem Korsett kommt man als Schreiberling und Hörer nur schwer heraus. Hier wird er wieder ruhiger, andächtiger und spielt doch immer wieder DJ'eske Elemente und Sequenzen hinein.
Der Sound passt auch zu den stark animierten Videos, das geht ganz harmonisch Hand in Hand und beweis erneut, dass Jónsi ein kompletter Künstler ist. Er ist locker mit Damon Albarn oder Nick Cave zu vergleichen. Wie wunderschön, dass Jónsi sein Talent mit uns teilt!

Nach den ruhigen Parts erklingt Salt Licorice zusammen mit Robyn! Derart poppig (ja, erneut!) wie hier hat sich der Isländer meines Wissens nach noch nie gegeben. Das ist schon krass! Und Robyn klingt an einigen Stellen wie Yolandi Visser!

 

Zum Ende der Platte gibt es noch ein richtig starkes Highlight. Swill fasst das Gewand dieses Albums perfekt zusammen: die Synthie-Töne, die Größe, den sauberen (aber nie zu glatten) Pop. Dieser Track knallt auch laut besonders gut! Ruhig und leise endet Shiver. Mit Grenade und Beautiful Boy folgen am Ende noch zwei ruhige, beinahe mystische Lieder, die einen durchaus melancholischen Touch aufbringen.

Ja, dieses Album war (für mich) so nicht zu erwarten. Doch es ist sehr ausgewogen, was die Stimmungen und Dynamiken anbelangt. 
Also: Erwartungen an Alben. Ja, Shiver ist ein beeindruckendes Werk, weil mutig, kreativ, völlig unerwartet, neu, irgendwie frisch. Doch die ganz großen Momente bleiben aufgrund des recht poppigen (manchmal an der Grenze zur Beliebigkeit) Charakters aus. Es tut der Platte jedoch keinen Abbruch, wird aber voraussichtlich dafür sorgen, dass sie bei mir persönlich nicht auf Heavy Rotation laufen wird. Um es jedoch nochmals zu betonen: Das hier ist ein wirklich beeindruckendes Album von Jónsi!

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