(sb) „Schuld an meinem
Weltschmerz waren sicherlich nicht die Bräute. Ich bin in Kirchheim geboren,
aber nicht dort aufgewachsen wie meine Freunde und gehörte auch nie dorthin,
aber kann mittlerweile dorthin zurückkehren und freu mich. Ich freu mich.“ Juse
Ju ist seit seiner Kindheit ein Wandler zwischen den Welten: Kirchheim unter
Teck, Yokohama, München, Berlin – er kennt also schwäbische Provinz genauso wie
Weltstadt mit Herz und tatsächliche Metrople. All diese Erfahrungen lässt er in
sein großartiges neues Album Shibuya Crossing (VÖ: 16.03.) einfließen und
liefert das vermutlich beste deutschsprachige Rap-Album des noch jungen Jahres
ab.
1989: In einem kleinen, grünen Holzhaus in Tokio sitzt ein 6-Jähriger aus Süddeutschland und hört zum ersten Mal in seinem Leben Public Enemy. Aufgelegt von seinem großen Bruder auf dessen Billig-Plattentellern im gemeinsamen 12qm-Kinderzimmer. Jetzt, 29 Jahre später, verarbeitet Juse Ju nicht nur dieses Erlebnis, sondern lässt auch andere Kapitel seinen Lebens Revue passieren, sei es ein Schüleraustausch in El Paso, unschöne Erfahrungen mit Marketing-Agenturen oder das Leben zwischen den Hochhausschluchten in Japan.
2001: Sprühen, Jugendhaus-Battles
und Demo-Kassetten. Eine Solo-EP, eine Kollabo-EP mit seinem Partner in Crime,
Fatoni, seines Zeichens bester deutscher Rapper der Welt. Zu Beginn des
Jahrtausends freestyle-battled sich Juse Ju durch die Bühnen der Jugendzentren und Dorfdiskos
und veröffentlicht 2009 schließlich seinen ersten Longplayer Yo, HipHop hat
mein Leben zerstört. Eine Platte mitten in die Post-AggroBerlin- und
Prä-Casper-Cro-Materia Ära. Kein Video, keine Berichterstattung, keine
Struktur.
Foto: https://www.hai-angriff.de/ |
Juse bleibt ein Szeneding und
steckt zudem noch in einer beruflichen Sackgasse: Er verdingt sich als Drehbuchautor
und Redakteur fürs Trash TV. Da das nicht alles sein kann, wählt er das Risiko:
er kündigt seinen Job, setzt sich in einen Flieger nach Japan und fängt im
Tokioter Szeneviertel Shibuya an, in einem Café zu arbeiten. Wieder Japan, wieder
12qm. Zeit zum Nachdenken.
2011: Wieder in Deutschland
schafft es Juse an eine renommierte Journalistenschule in Berlin. Seine Ambitionen
als Rapper liegen auf Eis, die erste Liebe muss beruflichem Pragmatismus
weichen, denn irgendwie müssen die Rechnungen bezahlt werden und das klappt sicher
nicht mit Rap. Doch eines Tages steht Fatoni mit einer Feature-Anfrage bei
ihm auf der Matte: Vorurteile. Der Song wird ein Untergrundhit, Part II des
Tracks mit der Antilopen Gang knackt beinahe die Million auf YouTube.
Juse Ju ist zurück im Business und veröffentlicht die Mixtapes Übertreib nicht deine Rolle (2014) und Angst & Amor (2015) zum freien Download und als Vinyl.
Foto: https://rap.de |
Mit Übertreib nicht deine
Rolle und German Angst landet er zudem zwei Szene-Hits, erntet sehr gute Kritiken
von Juice bis Spex und spielt ausverkaufte Touren mit Fatoni und der Antilopen
Gang. Sein neuer Arbeitgeber Radio Fritz
erkennt zudem Juses Moderationstalent und gibt ihm eine eigene Radiosendung, den
"Deutschrap Nightflight". Parallel dazu baut er die Battle Rap Plattform "Don’t
let the Label label you" mit auf. HipHop hat Juse wieder… oder umgekehrt.
Und jetzt… 2018: Shibuya Crossing. Juse Jus erstes richtiges Album. Die Quintessenz seiner wechselhaften Geschichte und seiner Weltsicht. Dazu namhafte Indie-Features wie Fatoni, Edgar Wasser und Danger Dan von der Antilopen Gang, eine eindeutige politische Ausrichtung, wohl gewählte Worte als Kick in die Fresse der spießbürgerlichen Wertegesellschaft. Doch Shibuya Crossing ist kein durchgehend ernstes Album, ganz im Gegenteil: Pain is Love (und nein, der Track heißt nicht Penis Love, auch wenn es so klingt…) präsentiert genau den berufsjugendlichen Juse Ju, den man auch von der Bühne kennt, während Milka Tender die Verarbeitung einer Trennung thematisiert, wie sie wohl jeder von uns schon mal erlebt hat. Einfach mal volllaufen lassen und hoffen, dass alles gutgeht.
Man kennt die zwei Singles (7Eleven und das alles überragende Lovesongs), hört in freudiger Erwartung das Album rauf, ist positiv gestimmt, genießt die zwei bereits geliebten Tracks, hört es nochmal runter, findet einen neuen Liebling (in dem Fall Shibuya Crossing), wieder durch, bleibt bei dem neuen Liebling hängen. Nochmal drüber, jetzt Propaganda im Kopf, bis man Stunden und weitere fünfmal Durchhören später bei Bordertown aus dem Mitgehen nicht mehr rauskommt. Ein Hammer jagt den nächsten. Shibuya Crossing ist der passende Titel. Von jeder Seite wird man wieder von einem Hammer-Track überrollt. Alle Ampeln auf Grün - obwohl der Ampelmann blau ist.
Nicht groß nachdenken: kaufen!
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