Donnerstag, 10. Dezember 2020

Sigur Rós - Odin's Raven Magic

Foto: Eva Vermandel
(ms) Weil es so seltsam überraschend und auch irgendwie untypisch ist, ist Odin's Raven Magic von Sigur Rós ein phantastisches Album! Logisch, das will erklärt werden?
Ein neues Album von Sigur Rós? In meiner kleinen Welt nichts weiter als eine Begebenheit, für die ich alles stehen und liegen lassen würde, wie die Besprechung von Jónsis Soloalbum zeigt. Erklingt der Name der isländischen Band, erwarte ich nichts anderes als ein markerschütterndes Meisterwerk. Es kann leise, poppig oder düster sein. Überwältigend muss es aber mindestens sein. Die Ankündigung Anfang Herbst kam tatsächlich aus dem absoluten Nichts. Über das Bestehen der Band wurde viel spekuliert. Insbesondere, da Jónsi ja Shiver veröffentlicht hat. Außerdem sind von der ursprünglichen Besetzung nur noch er und Bassist Georg übrig. Zu zweit ist diese Band nicht zu stemmen. Ein Glück, dass einige ihrer früheren Aktivitäten sehr gut dokumentiert worden sind. In Bild. Und in Ton. Das ist das Grundgerüst, dass es Odin's Raven Magic überhaupt gibt. Diese Aufnahme, die seit vergangenem Freitag als neues Album zu erwerben ist - und der Kauf ist ein absolutes Muss - ist achtzehn (in Zahlen: 18) Jahre alt. Von 2002. Holla, da möchte ich gar nicht dran zurück denken.

Einzelne Aufnahmen aus diesem opulenten Werk geisterten immer wieder durchs Netz. Auch auf meiner Festplatte schlummert seit vielen Jahren das Lied, was nun unter dem Namen Dvergmál zu hören ist - gab es wohl mal irgendwo als Download. Warum ausgerechnet jetzt und ob man wieder Hoffnungen haben darf, dass die Band in irgendeiner Besetzung wieder aktiv wird, steht in den Sternen. Und da schauen wir nun einfach mal nicht hin sondern geben uns einfach diesen formvollendeten 65 Minuten hin. Statt zu spekulieren, sollte man dankbar sein, dass dieses Stück Musik existiert. Ja, so kann man es sagen.

Doch typisch für Sigur Rós ist Odin's Raven Magic nicht. Es hat nicht den Postrock-Charakter der ganz frühen Lieder. Nicht das mystisch Verwunschene von Takk, nicht die ruhige Kraft, die auf Valtari immer wieder ausbricht, nicht dir poppige Sorglosigkeit von Með suð í eyrum við spilum endalaust und auch nicht die düstere Wucht von Kveikur. Es ist von allen Phasen etwas dabei und steht doch zeitlich viel weiter davor.
Eine weitere Beobachtung ist hier absolut vonnöten: Dies sollte eigentlich nicht als reine Sigur Rós-Platte gelten. Dazu gibt es viel zu viele Akteure, die bei der Entstehung, Umsetzung und Realisierung beteiligt gewesen sind. So müssen eine Menge Namen genannt werden, die nicht übergangen werden dürfen: Da ist Hilmar Örn Hilmarsson. Er forschte und schrieb die Texte. Denn dahinter verbirgt sich eine alte isländische Sage um einen Raben, eine apokalyptische Warnung über das nahende Ende. Steindór Andersen ist als Einzelperson auf dem Album wohl am präsentesten. Er ist Kantor und mit einer wunderschönen, einprägsamen, wohligen, dunklen aber auch erwärmenden Stimme gesegnet. Maria Huld Markan Sigfúsdóttir hat neben/mit Sigur Rós vielleicht den größten hörbaren Einfluss auf das Werk. Sie ist Teil der Gruppe amiina, im wesentlichen ein instrumentales Streicher-Ensemble, mit denen die Isländer häufig kollaborierten und gemeinsam auftraten. Sie und Kjartan - ehemaliger Keyborder der Band - haben die ganzen Arrangements geschrieben, also den Löwenanteil von Odin's Raven Magic. Ist jetzt alles klar? Gut. Dann ab in den Sound der Platte, die im Kern für das Reykjavik Arts Festival 2002 erdacht worden ist.

Mit 65 Minuten hat die Live-Aufnahme, deren wesentlicher Charakter nur am Applaus am Ende zu hören ist, durchaus die Länge eines Filmsoundtracks. Rein atmosphärisch ist Odin's Raven Magic oft kaum davon zu unterscheiden, man könnte es mit Howard Shore oder Hans Zimmer verwechseln. Einzelne Lieder herauszupicken ist natürlich möglich, wird dem Album aber nicht gerecht. Es ist als Ganzes gedacht und muss zwingend als Ganzes gehört werden. Nur so ist der Zauber zu erfühlen, am besten recht laut, sodass der Chor glänzen, die Streicher berühren, Andersens und Jónsis Stimme erklingen und sich so herrlich abwechseln und in ihrer Unterschiedlichkeit ergänzen. Und es taucht ein weiterer wichtiger Charakter auf dem Album auf: ein außergewöhnliches Marimbaphon. Der Bildhauer Páll Guðmundsson hat es extra aus grob geschlagenem Stein abgefertigt. Fünf Oktaven - ein einzigartiger Klang!
Ja, ich weigere mich hier einzelne Stücke herauszupicken, man wird ihnen durch Worte eh nicht gerecht. Dieses Album muss gehört, genossen, erlebt werden. Doch worin besteht dieser Zauber, der mich nicht loslässt? Man könnte es vielleicht als radikale Harmonie bezeichnen. Der Klang des Marimbaphons ist derart rund und weich, fast unverschämt. Andersens Stimme hat etwas kirchlich Erhabenes, Behütendes, das angenehm in den Körper schwingt, wenn es sich an den Dissonanzen erhebt. Jónsis Singanteil ist wesentlich geringer, doch seine Kopfstimme ist ein schöner Kontrast. Ganz verrückt: Jónsi sing - meines Erachtens - nicht wie Andersen auf Isländisch, sondern auf seiner Phatasiesprache Vonlenska. Spannendes Konzept, beides nebeneinander stehen zu lassen. Dann ist da dieser herrliche Chor. Auch der singt oft keinen Text, sondern nur lang gezogene Vokale, deren Gesamtbild dann wieder wie ein einzelnes Instrument erklingt, so einnehmend und mitunter zart. An einigen Stellen erklingt auch Bass und Schlagzeug von Sigur Rós, um dem ganzen mehr Schwung, Pop und Rhythmus zu bringen.
Ja, die Lieder auf Odin's Raven Magic pendeln zwischen vielen Polen - von der Instrumentierung bis zur Stimmung und Dynamik. Wenn es stiller ist, ist es immer voller Spannung, weil Harmonien gegeneinander ausgespielt werden. Mit Marimbaphon wird es beinahe poppig und zum Ende hin ist die Apokalypse, von der der Rabe berichtet, in Mark und bein zu spüren, denn dann wird es laut, brachial, fulminant, groß.

Was für ein Geschenk. Was für eine schöne Gabe, deren Ergebnis nun zu hören ist. Was für ein passender Grund, um insbesondere jetzt über eine Stunde sich entführen zu lassen. Von einem phantastischen Werk.


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