Samstag, 27. April 2024

Kettcar - Gute Laune Ungerecht Verteilt

(Ms) Vielen Dank an Chilly Gonzales. Ohne seinen Auftritt bei Böhmermann letztens wäre der Stein des Anstoßes für diesen Text wahrscheinlich noch in weitere Ferne gerollt. Seit gut drei Wochen ist Gute Laune Ungerecht Verteilt von Kettcar nun draußen. Noch ein paar Wochen länger durfte ich es schon hören, aber mir blieb der Zugang verschlossen.
Das erste Mal hörte ich das Album bei einem Abendspaziergang durch den Ort. Als ich zurück kam, wollte ich es gar nicht mehr anrühren. Viel zu sperrig, viel zu umständlich und wenig griffig. Das war mein erster Eindruck und er blieb länger haften. Mühsam begann ich die Lieder zu verstehen, bei allen ist es mir bis heute nicht ganz gelungen. Einige finde ich immer noch recht schwach oder ich habe ihre Stärke noch nicht verstanden. Andere finde ich textlich-musikalisch heikel. Und dann kommen aber auch zahlreiche wirklich tolle Lieder über die ich mich richtig freue und die ich beim Bremenkonzert aus vollem Herzen mitsingen konnte.
Der Schlüssel zum Album war jedoch wirklich der Chilly Gonzales-Auftritt beim NeoMagazin. F*CK WAGNER hat er dort präsentiert und die sehr alte, sehr gute Frage aufgeworfen, ob Werk und Autor zu trennen sind. Was für eine spannende Angelegenheit. Wagner, Kanye, Michael Jackson, R. Kelly. Undundund. Ihre Lieder werden immer noch im Radio gespielt, also trennen Sender zwischen Werk und Autor, halten die Kunst für größer als den Künstler. 
Auch Kettcar werfen diese Frage auf und nennen das Stück dazu Kanye In Bayreuth. Wagner also wieder. Genialer Musiker aber Antisemit. Muss man das aushalten? Die Hamburger Band um Marcus Wiebusch hat eine eindeutige Haltung dazu: Nein, hier muss man nichts aushalten, Werk und Autor bleiben zusammen, sind eine untrennbare Einheit. Genau das wird in diesem Lied durchexerziert und das Für und Wider besprochen. In meinen Ohren ein wenig holprig, aber textlich ungemein wichtig und stark. Vielleicht ist der Track inhaltlich wichtiger als musikalisch gut. 

Kettcar also. Seit 23 Jahren dabei. Ich sah sie nun 33 Mal live. Sie sind eine der wichtigsten Bands für mich und überraschen an vielen Stellen auf dieser neuen Platte. Und der kulturphilosophische Gedanke von oben geht ja auch umgekehrt: Kettcar sind die Musik, die sie machen. Die fünf Menschen, die dieses Jahr wirklich oft auf der Bühne stehen, sind solche aufrichtigen Typen, die Liebeslied, sozialen Traum, politische Mahnung und große Unterhaltung leben. Es ist ihnen anzusehen, wie sie bei ihren Auftritten derzeit strahlen und wirklich dankbar sind, dass sie immer noch das machen können, was sie lieben und können.

Doch ein paar Songs verstehe ich einfach nicht. Einige finde ich phasenweise auch gruselig. Doug & Florence zum Beispiel. Ja, der Traum, dass eines Tages die Pflegerinnen und Paketboten und alle anderen Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen die Macht übernehmen, ist schön und gut. Aber selten hat mich ein Kettcar-Refrain stärker genervt als dieser. Hui! Auch Einkaufen In Zeiten Des Krieges ist wirklich schlimm. Ja, ich habe das schon verstanden, aber soll das jetzt witzig oder bitter sein? Oder beides? Zudem klingt es wie eine Fortsetzung von Trostbrücke Süd, das auch nicht zu meinen Kettcar-Lieblingsliedern gehört. Klar, ist nur mein Eindruck.
Wir Betraten Die Enterprise Mit Falschen Erwartungen erschließt sich mir auch überhaupt nicht. Auch Was Wir Sehen Wollen packt mich gar nicht, trotz des Hoffnungsschimmers in dunkelsten Zeiten. Und wirkt in meinen Ohren wie eine Fortsetzung oder andere Version von Ein Zimmer. Puh, also erstmal knapp eine Handvoll Lieder, die so erstmal nicht bei mir laufen werden. Durchatmen.

Viele der Tracks, die jetzt kommen, sind auch die Singles und Stücke, die sie aktuell live spielen. Oft besteht da ja ein Zusammenhang, dass ein besserer Zugang herrscht zu den Stücken, die ein wenig mehr Aufmerksamkeit bekommen. Tja, so ist das halt.
Bis jetzt frage ich mich, warum Chris von Fjørt auf München mitsingt?! Live nimmt Lars Wiebusch diesen Part ein und ich finde es viel, viel stimmiger! Nichts gegen die Aachener, super Band, insbesondere live, aber das Feature hätten sie sich schenken können. Nicht jedoch den Text. Und auch die Art dieses Lied musikalisch zu gestalten. Die Wut in den Zeilen muss in die Gitarre verlagert werden und wirkt so richtig gut! Auch die Art des Songwritings passt genau. Marcus Wiebusch hat sie mit seinem Solo-Album wieder entdeckt. Dass der Sprechgesang von …But Alive heute genauso funktioniert und den wichtigen Liedern den richtigen Rahmen gibt. München. Harlaching. 
Einen Track wie Rügen habe ich gar nicht erwartet. Vielleicht lässt er sich ja auch erst mit einem gewissen Alter schreiben und damit will ich niemandem zu nahe treten. So umsichtig über Familie und Kinder zu singen, braucht Abstand und Erfahrung. Spürbar, wie der Mensch Wiebusch hinter dem Text steht.
Trotz erstem, schlimmem Satz auf Bringt Mich Zu Eurem Anführer, kickt mich das Stück so richtig gut! Der Drang nach vorn im Refrain ist packend, strömt durch den Körper. Trotz der harten Geschichte dahinter: Einlieferung in die Psychiatrie (so vermute ich zumindest), ein bisschen Kuckucksnest-mäßig.
Und dann noch zwei ganz große strahlende Lieder, die den Kern der Band ausmachen. Die zeigen, dass sie niemals müde werden, an das Gute zu glauben. Dass es wichtig ist, diese Fahne aufrecht zu halten und weit oben zu hissen. Allen schlimmen Nachrichten zum Trotz! Nicht aufgeben ohne Durchhalteparolen. Sondern mit Liedern wie Auch Für Mich 6. Stunde. Kettcar - ein Bengalo in der Nacht! Ungeahnt stark auf dem sechsten Album. Ungeahnt, wie nah Marcus Wiebusch uns Hörer an sich heran lässt. Ein Brief Meines 20-jährigen Ichs (Jedes Ideal Ist Ein Richter) hatte live eine richtige Wucht. Schon auf Den Revolver Entsichern bekam man eine Ahnung davon. Hier ist es noch persönlicher. Und da steckt er: Der Künstler im Werk. Mit dem nimmermüde guten Herzen, dass es immer wieder schafft, das zu Papier zu bringen, was pocht und wichtig ist: „Und du tust, was du musst, und du hoffst, dass es langt.“

Diese Hoffnung geht auf. Gute Laune Ungerecht Verteilt ist thematisch sehr breit aufgestellt. Einiges verschließt sich mir oder meinem Intellekt oder beidem. Doch noch nie in der Geschichte der Band haben es Kettcar an so vielen, an so vielen wichtigen Stellen geschafft, das Gute ohne Wenn und Aber aufrecht zu halten, daran zu appellieren, was uns zusammenhält. Mit klugen Worten und verdammt viel Herz. Diese Band wird immer besser. Wahnsinn! Kettcar, alte Lady! Wo sind Kunst und Künstler denn auf so gute Art und Weise verbunden. Ich weiß es nicht…

Übrigens: Chilly Gonzales kommt zu einem anderen Schluss.

22.06. Duisburg, Traumzeit Festival
13.07. Georgsmarienhütte, Waldbühne Kloster Oesede
18.07. Marburg, Marburger Sommernächte
25.07. AT - Wien, Arena (Zusatzkonzert)
26.07. Augsburg, Sommer am Kiez
27.07. Karlsruhe, Zeltival
28.07. CH - Thun, Am Schluss Festival
29.07. AT - Graz, Kasematten
31.07. Freiburg, ZMF
01.08. Friedrichshafen, Kulturufer
02.08. Würzburg, Hafensommer
03.08. Reutlingen, HafenSounds Festival
04.08. Mainz, KUZ
10.08. Braunschweig, Applaus Garten
11.08. Lüneburg, Kultursommer
12.08. Bayreuth, Seebühne
14.08. Jena, Kulturarena
15.08. Bad Zwischenahn, Park der Gärten
16.08. Würselen, Burg Wilhelmstein
17.08. Taarstedt, Angeliter Open Air
28.08. Trier, Brunnenhof
29.08. CH - Aarau, Kiff
30.08. CH - St. Gallen, Grabenpark - 40 Jahre Grabenhalle
31.08. AT - Linz, Posthof (40 Jahre Posthof)
01.09. Schwerin, Schloss


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