Freitag, 17. Dezember 2021

Luserlounge Adventskalender, Türchen 17: Die luserlounge selektiert (KW 50)

Quelle: leben-und-erziehen.de
(ms) Als ich ihn jetzt zu Fuß sah, wurde mir das vorherige Bild noch eindrücklicher. Ich dieses Mal zu Fuß - er immer. Zu Fuß ist alles etwas langsamer. Sonst fahre ich mit dem Rad an ihm vorbei, wenn er unterwegs ist. Wie alt mag er sein?! Puh, schwer zu sagen. Um die 70, schätze ich. Was ich gar nicht so richtig deuten kann, ist sein Gesichtsausdruck. Ist er angestrengt oder glücklich? Ersteres würde ich viel schneller verstehen. Sollte letzteres zutreffen, möchte ich die Geschichte gerne wissen. Wie oft wurde er wohl schon angehupt? Täglich? Zwei Mal pro Woche? Diese dämlichen, ungehaltenen Autofahrenden. Ich mag sie nicht. Der Mann. Er bleibt daher haften, da er sehr, sehr langsam unterwegs ist, was auch seinen Grund hat. An beiden Armen hat er eine Gehhilfe. Romantisiere ich es, wenn ich es gut finde, wenn er zu Fuß unterwegs ist? Vielleicht kann er sich ja ein fahrbares Gerät nicht leisten. Wer weiß das schon. Seine Schritte sind extrem klein. Sie gehen kaum über Fußlänge hinaus. So dauert eine Straßenüberquerung länger als bei anderen. Seine Einkaufswege müssen Marathone sein. Irre. Das bleib haften. Ich wünsche ihm eine schöne Adventszeit.

Hier gibt es nun temporeich auf die Ohren. Lässt sich ja zum Glück auch sitzend genießen! Los:

Bipolar Feminin
(ms) Diese Programmatik mag ich sehr. Eine klare Ansage. Ein irrer Plan. Größenwahn. Gefahr. Verrücktheit. Doch, was das alles erst so richtig gut heraufbeschwört, ist Zorn! Zorn ist eine treibende Kraft. Wut steht nur auf der Stelle und bekommt Schaum vorm Mund. Zorn geht darüber hinaus. Zorn macht aktiv. Zorn schwelt, brummt, kocht, geht wesentlich tiefer. Ich bring' euch alle um! Klar, eine einfache Zeile, aber der Kontext muss dazu gedacht werden. Hass, nein, Zorn aufs Patriachat, auf diese ganzen ätzenden Scheißtypen. Die Welterklärer, Besserwisser, Grapscher, Idioten. Ich töte euch alle! Das singen Bipolar Feminin aus Wien zu einem unfassbar griffigen 80er-Jahre-Rotzrock! Der Zorn, der darin liegt, geht tief, er ist zu hören, zu spüren. Und ich nehme ihn der Band ab. Das ist die wahre Programmatik, die ich Tocotronic beispielsweise nicht mehr abnehme (feiern tue ich sie dennoch). Süß Lächelnd heißt die erste Single aus der kommenden EP des Quartetts. Im Februar soll sie erscheinen und ich freue mich immens drauf. Das kommt von Herzen, dort her, wo es brennt, lodert, wo es sich auch angestaut hat. Und wenn sie bei der Umsetzung ihres Planes Hilfe brauchen, ich bin sofort dabei!



Oasis
(sb) Ja, wir sind spät dran! Live in Knebworth erschien nämlich bereits am 19.11., aber wenn wir penibel sind, ist das ja gar nichts verglichen mit der Verspätung der Gallagher-Brüder, denn das nun veröffentliche Konzert fand bereits im Jahr 1996 statt. So, Denkzentrum kurz anstrengen und nachrechnen. Richtig, 25 Jahre! Jubiläum also. Damals versammelten Oasis eine Viertelmillion Menschen an zwei Tagen im Knebworth Park in Hertfordshire und rissen eine Setlist vom Feinsten runter. Alter Verwalter, was hatten die Hymnen und Banger! Auch wenn sie - wie ich mehrmals leidvoll erfahren musste - nicht die beste Live-Band aller Zeiten waren, so stellt dieses Doppel-Album doch ein wunderbares Zeitdokument dar und bei Tracks wie Live Forever, Supersonic, Don't Look Back In Anger, Whatever oder Wonderwall kann man sowieso nichts falsch machen. Nie. Und ja: Ich vermisse Oasis. Aber das ist eine ganz andere Geschichte...
 
 
Blood Red Shoes
(ms) Sommer 2019. Es scheint eine völlig andere Welt zu sein, die sich in meinen Erinnerungen ausbreitet. Nein, sie ist nicht vorüber, sie pausiert nur. Die Festivalsaison startete für mich mit dem Deichbrand im hohen Norden und einem irren Wochenende mit ganz herausragenden Menschen und beeindruckender Musik. Freitag, 17 Uhr. Sicher war das eines der überraschendsten Auftritte. Die Band kannte ich nicht, der Rest war ja irgendwie vorhersehbar. Blood Red Shoes standen auf der Bühne, viel zu wenig Menschen davor, die ihre Kunst bewundern konnten, bewundert haben. Alle, die woanders waren, haben eine energiegeladene Show und einen starken Beweis an druckvoller Gitarrenmusik verpasst. Im Januar erscheint bereits das sechste Album der Briten - Ghosts On Tape. Es ist eine Sammlung an extrem düsteren Themen, die sie in Lieder gegossen haben. Mordphantasien, Passagen aus True Crime Podcasts, Psychosen aller Art. Der Hang zum Morbiden gefällt mir sehr - nicht umsonst schlägt mein Herz für die österreichische Literatur. Passend heißt die erste Single Morbid Fascination. Die Band ist ein Duo. Das finde ich stark, denn die Frage lautet dann immer, wie sie es schaffen einen breiten Bandsound zu zweit auf die Bühne zu bringen. Im Sommer vor zwei Jahren gelang es ihnen mit spielerischer Leichtigkeit. Und trotz der bedrückenden Themen haben sie sich für einen eingängigen Klang entschieden - sicher keine schlechte Idee. Sie zeigen sich elektronisch, dicht, griffig! Das macht Bock aufs Album! Und einen Festivalsommer!

 
Kid Dad
(sb) Oh ja, immer wieder geil! Schon ihr Album In A Box wusste zu gefallen und mit der Bloom EP (VÖ: 10.12.) legen Kid Dad angemessen nach. Fünf Tracks, verletzlich, aber doch wie eine Raubkatze auf der Lauer und ständig zum Sprung bereit. Die ruhigen Momente weisen eine so intensive Präsenz aus, dass man sich wahrhaftig verfolgt fühlt - aber irgendwie auf eine angenehme, aufmerksame Art und Weise. Erstaunlich, wie es der Band aus Paderborn erneut gelungen ist, sich neu zu erfinden und sich gleichzeitig treu zu bleiben. Ganz stark, sehr spannend und extrem hörenswert!
 

Still Talk
(ms) Mehrmals hinhören. Das ist so unglaublich wichtig, denn sonst könnte es zu katastrophalen Fehlinterpretationen kommen. So ereignete es sich diese Woche, als ich Nothing von Still Talk zum ersten Mal gehört hatte und dachte: Ach, was für ein tolles Liebeslied. Nun, Fehlgriff. "Nothing handelt vom Verlust des Selbstwerts, von der völligen Selbstaufopferung für jemand anderen und von der Angst, diesen Verlust erneut zu erleben", erzählt Sängerin Tanja Kührer. Upsi!!
Schön ist das Lied jedoch alle Male. Und wird im Februar auf einer 7-Track-EP erscheinen, die facettenreicher nicht sein könnte - wahre Kunst (s.u.). Denn: Zwei weitere Stücke sind bereits erschienen. Dreaming ist ein Skatepunk-Song à la Avril Lavigne und Veronica setzt dem ganzen nochmal die Krone auf als verträumter Indiepopsong. Die EP wird den gut einprägsamen Namen A Short Collection of Songs About How Easily I'm Distracted heißen und ich bin jetzt schon super gespannt, was sich hinter den anderen vier Stücken verbirgt!


Waving The Guns
(ms) Viele Möglichkeiten für ein fulminantes Liveerlebnis gab es dieses Jahr nicht. Eine der Gruppen, die das gut ausgereizt haben, sind Waving The Guns. Im Sommer sah ich sie in Oldenburg am Tag bevor ich in den Urlaub fuhr. Möglicherweise war ich am Abreisetag nicht so fit. Und das liegt nicht am strömenden Regen während des Gigs. WTG verfolge ich schon recht lang und ich bin stark begeistert von ihrem Wandel und Output. Die personelle Konstellation veränderte sich, die Qualität stieg immer weiter. Das meinte Milli Dance auch live, dass er es noch nie so stark genießen konnte wie jetzt. Was für eine tolle Aussage, auch wenn der Weg dahin sicher nicht leicht war. Nun legt das wortstarke Ensemble aus Rostock nach. Heli heißt der Track, der seit dieser Woche draußen ist. Wow! Erneut zeigt sich Milli Dance als knallharter Chronist der Zeit - mag ein abgedroschener Begriff sein, wahr ist er alle Male. Konsequent hart in der Aussage, nie wankend im Standpunkt. So geht das. Das Rezept: Ein Kopfnickerbeat, Humor, doppelter Boden, Punchlines, die hängen bleiben und einen gut trainierten Mittelfinger an die Neoliberalen! Und so legen sie nach. Im kommenden Jahr gibt's wohl eine frische Platte, viele der Livetermine sind bereits ausverkauft. Es spricht so vieles für diesen eingeschlagenen Weg! 


The Mind Is Complex
(ms) Was kann musikalische Kunst? Vieles. Zum Beispiel: Identifikation und Katharsis, wenn das Gehörte das selbst Gefühlte um ein viel stärkeres Maß ausdrückt, als ich es selbst könnte. Oder: Unterhaltung, wenn ein Konzert es schafft, für zwei Stunden alles um mich herum und in mir drin zu pausieren. Kunst kann aber auch verwirren, anecken, stutzig machen, Fragen aufwerfen. So geht es mir, wenn ich The Mind Is Complex wahrnehme. Mein erster Gedanke beim Track Deformation war: Puh, dem fehlt irgendwie die für mich so notwendige Harmonie. Doch es schwingt auch mit: Damit kann ich etwas anfangen. Es ist überhaupt nicht mein Stil, doch es spricht mich unterschwellig an. Ich möchte den Text verstehen und die Musik an mich heranlassen, die stakkato- und stroboartig den Körper bewegt. Hinter dem Namen steht Lorina aus Berlin, die mit ihrer Art des Raps durchaus auch direkt für Verwirrung sorgen will. Sowohl im Wechsel der Sprache aber auch im Wesen des männlich dominierten Rap! Zusammen mit ihrem Produzenten Jari veröffentlicht sie jeden Monat einen Track, bis im Februar die gesamte EP erscheinen wird. Künstlerische Wirkung - voll entfacht!

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