Freitag, 21. August 2020

KW 34, 2020: Die luserlounge selektiert

Bild: www.kunstraum34.de/
(ms/sb) Klar, Musik ist die große Leidenschaft. Ab und an mache ich auch Sport oder schaue solchen. Klar, Freunde, sowieso. Lesen auch. Aber hauptsächlich Musik. Doch wenn ich im Urlaub bin, spielt Musik komischerweise kaum eine Rolle. Mehrere Tage bin ich durch Polen gereist und mir war fast egal, was aus den Boxen tüdelte, das waren natürlich die üblichen Verdächtigen, aber wenn dann sowas wie Eros Ramazzotti oder Vicky Leandors ist, stört mich das nicht. Zuhause würde es mich durchaus aggressiv machen und stressen. Doch nicht unterwegs.
Auch interessiere ich mich dann kaum für die Musik, die vor Ort läuft. Ist mir egal. Ich genieße die tolle Zeit mit lieben Menschen, sauge visuelle Eindrücke auf wie nicht gescheit und lasse mich treiben. Fertig.
Doch ein Moment hat mich nachhaltig schockiert. Oder amüsiert. Es ist ein kruder Mix aus beidem. Im südlichen Polen befindet sich die Hohe Tatra, der höchste Gebirgszug zwischen Alpen und Kaukasus, der sich dann weit in die Slowakei zieht. Erst vor Ort - ich hatte keine wirkliche Vorstellung im Kopf - wurde mir bewusst, dass da ja auch massiv Wintersport betrieben wird. In so einem Ort, ein Mix aus Ischgl und Willingen, sind wir gelandet. Am letzten Abend saßen wir in der örtlichen Brauerei, dazu gehörte ein großer Saal, der okay besucht war für einen Dienstag. Auf einer Bühne spielte dann ein mittelaltes Trio polnische Lieder. Wir haben nix verstanden. Doch einiges kam uns bekannt vor. Als ob gecovert wird. Und ja! In der Tat! Einige Knaller haben wir auf polnisch dargeboten. Also: Knaller im Skigebiet wohlgemerkt. Als dann eine polnische Version von Schatzi, schenk mir ein Foto lief, habe ich sehr schnell noch ein groooßes Bier bestellt. Nun ja.

Zum Glück sind wir die luserlounge. Zum Glück ist Freitag. Zum Glück haben wir selektiert. So!

Tocotronic
(ms) Mit Best Ofs ist das ja so eine Sache. Häufig werden sie als vorläufiges Ende einer Band interpretiert (was bei den Künstlern hier ausgeschlossen ist). Doch noch öfter haben sie den Beigeschmack des Geldmachens. Doch auch dieser schimmert hier nicht durch. Was Tocotronic heute (!) unter dem Titel Sag Alles Ab raus bringen, ist schon sehr sinnvoll. Also als Kompilation der eigenen Diskografie. Das war nicht immer so. Denn 2005 haben sie auch schon ein Best Of veröffentlicht, das - aus der heutigen Sicht betrachtet - eher Richtung Geldmachen ging. Dennoch hat mir die damalige Zusammenstellung geholfen, auf den Geschmack zu kommen und aufgrund chronischen Geldmangels (ich war gerade mal 15, habe mir die Platte daher sicher später gekauft) einen guten Überblick über ihr Schaffen gegeben.
Nun ist aber 2020. Und die Feuilletonlieblinge, die mittlerweile in Berlin wohnen, hauen ordentlich einen Raus. Sag Alles Ab. Das muss man tun, um dieses Monster zu hören. Denn darauf warten nicht weniger als 70 (!!!) Lieder, die 1995 starten und in diesem Jahr mit Hoffnung enden. 25 Jahre Bandgeschichte, gut viereinhalb Stunden Material! Wahnsinn. Einem sehr ausführlichen Trip durch alle Alben folgt eine umfangreiche Sammlung an raren Livemitschnitten von früher und heute sowie einige Demo-Versionen unveröffentlichter Songs. Für Sammler ein unverzichtbares Stück im Regal. Und sollte es tatsächlich Menschen geben, die Tocotronic nicht kennen, dann ist das hier die perfekte Anschaffung. Mehr braucht man nicht. Dann gilt es erneut: Sag Alles Ab. Schließ dich ein. Tauche ein in dieses Werk einer Band, die stets zwischen intellektuellem Wahn, bizarrer Ironie, Divenhaftigkeit und programmatischen Ansagen oszilliert.



Mammal Hands
(ms) Letztens sprach ich mit einer Bekannten über Bücher. Bücher, die man mindestens zwei Mal gelesen hat. Ich meinte, dass ich keins der Bücher, die im Regal stehen, zwei Mal gelesen habe, dafür gäbe es zu viel zu entdecken. Doch beim näheren Betrachten fielen mit zwei, drei ein, die ich nochmal in die Hand nehmen würde. Weil. Weil ich sie nicht verstanden habe, als ich sie als Oberstufenschüler gelesen habe. Ja, es gibt Inhalte, die man einfach später erst versteht und zu schätzen weiß. Das ist bei Literatur einleuchtend, doch zunehmend wird mir das auch bei Musik bewusst. Das kann man auch hier ablesen, dass seit geraumer Zeit mehr instrumentale, experimentelle Musik Einzug erhält. Dazu gesellen sich in idealer Weise Mammal Hands. Das Trio aus UK spielt Schlagzeug, Klavier und Saxophon. Man könnte es als poppige, hypnotisierende Art von modernem Jazz verstehen. Oder einfach nur als gut und elektrisierend, wenn das Saxophon singt, das Schlagzeug nach vorne prescht und die Klavierakkorde dem Ganzen ein wundervolles, harmonisches Kleid überzieht. Jesse, Jordan und Nick spielen seit acht Jahren unter diesem Namen zusammen, ihre Songs können sowohl beruhigend als auch aufwühlend sein. Vielseitig, tief, berührend. Aber in erster Linie auch tanzbar! Das beweisen sie auch auf ihrem vierten Album, das Captured Spirits heißt und am 11. September auf Gondwana Records (u.a. die von uns sehr geschätzte Hania Rani) erscheint. Wir werden noch ausführlich berichten! Lasst euch schon mal anfixen:


Illuminine
(sb) In der Stille der Nacht erwachte Kevin Imbrechts als Illuminine. In seinem Schlafzimmer, begleitet von einer Gitarre und einer Handvoll Style-Effektpedalen. Der gebürtige Leuvener hatte jahrelang heimlich an Klanglandschaften und ausgefeilteren Gitarrenspuren herumgebastelt - die beste Therapie für seine Generalisierte Angststörung und sein Asperger-Syndrom. In der Regel balanciert der Flame geschickt zwischen Neo-Klassik und Einflüssen aus dem Post-Rock, für sein neues Werk Dear, Piano (VÖ: heute!) hat er sich jedoch etwas ganz Anderes ausgedacht: Obwohl er selber nicht Klavier spielt, hat er zahlreiche Klassik-Künstler aus der ganzen Welt gebeten, die Tracks seines dritten Albums mit dem Piano neu zu interpretieren. Spannender Ansatz und extrem gut umgesetzt! Mit dabei sind u.a. Sergio Díaz des Rojas, Akira Kosemura, Simeon Walker und Dominique Charpentier und verleihen der Musik von Illuminine ein völlig verändertes und doch unverkennbares Antlitz.


Psychedelic Porn Crumpets
(ms) Seit März (oder so) versendet Christopher Amend und sein Team des Zeit Magazin Newsletters eine tägliche Sonderausgabe für Kreative, Kulturschaffende, die berichten, wie sie momentan ihre Zeit füllen, wenn ihr normaler Job nicht stattfinden kann. Auffallend dabei ist - so zumindest meine Wahrnehmung - dass einige dort intensiv Müßiggang betreiben. Sehr schön, Pause, durchatmen. Doch es gibt auch die Arbeitstiere, die dort nicht auftauchen. Dazu gehören die Jungs von Psychedelic Porn Crumpets. Die Australier machen nicht nur durch den sehr griffigen Namen auf sich aufmerksam, sondern auch mit enorm energiegeladener Gitarrenrockmusik, die nur wenig Augenblicke zum Pausieren mit sich bringen. Denn so nach vorne preschend wie ihre Musik, ist auch die Band. Letztes Jahr erschien mit And Now For The Whatchamacallit ein ziemlich wahnsinniges, weil extrem temporeiches und wildes Poweralbum; es folgte eine außerordentlich erfolgreiche Tour über den Globus. Und bald wird nachgelegt. Für den Nachfolger im kommenden Jahr gibt es noch keinen Namen und kein VÖ-Datum. Doch ein Vorbote befindet sich im Kosmos, der in bester Manier weitermacht: stets kratzt der Sound ein wenig, will sich nicht zur Ruhe setzen und stellt ganz klar die druckvolle Gitarre in den Vordergrund. Fertig ist Mr Prism, ein Alter Ego von Sänger und Texter Jack McEwan, das sich aufgrund intensiven Tourens medizinisch behandeln lassen musste. So sieht es aus. Auf die nächste Platte darf man sehr gespannt sein. Wir haben Bock!


Carsten & Carsten
(ms) Ach, liebes Musikuniversum. Es gibt so Lieder, die will ich nur genießen, da will ich gar keinen kleinen Text zu schreiben, weil das Lied für sich selbst spricht. Doch wenn Carsten und Carsten zusammen kommen und einen Song einspielen und es uns darbieten, dann muss man darüber freudig berichten. Und es kommt noch besser, weil diese beiden Menschen an Kreativität nur so übersprudeln: Sie haben sich sinnigerweise Carsten & Carsten genannt. Der eine heißt Meyer und besser bekannt als Erobique, der andere Friedrichs und ebenso ein Urgestein, Sänger, Gitarrist und Texter bei Die Liga Der Gewöhnlichen Gentlemen. Großartig. Purer Genuss, was da zusammen herauskommt. Eine Ode an den Menschen. Ein Danke für alle. Jeder auf Erden ist wunderschön. Und das muss erneut gesagt werden in Strophen und Refrains. Ich Mag Leute ist der kreativ-sympathische Output, der schnell zu gefallen weiß. Ein bisschen Easy Listening, ein paar Streicher, viel gute Schwingungen, einfach mal gut drauf sein und sagen was man denkt: Ich mag alle. Ja. So ist es. Und jetzt: Bitte zurücklehnen, liebe Damen und Herren und dieses Stück Musik genießen!


Violet Cheri
(sb) Die schwedische Band Violet Cheri wurde 2015 gegründet und kann als Releases bislang die EP Youth (2015) und die Single I'll always be alone (2017) veröffentlicht. Seit zwei Jahren konzentriert sich das Quintett aus Stockholm voll und ganz auf sein Debütalbum. Der Weg zum fertigen Endprodukt war/ist lang und steinig, schön langsam nimmt jedoch alles Gestalt an und für den Herbst 2020 ist die Veröffentlichung angedacht. Einer der insgesamt elf darauf vertretenen Tracks ist Shy Hurricane, dessen Entstehungsgeschichte Sänger Daniel Hoff wie folgt beschreibt:

„Ich war wegen meines Alkohol- und Drogenmissbrauchs total am Ende. Alle, die ich für meine engsten Freunde hielt, hatten sich mehr oder weniger von mir abgewendet. Es war dort unten sehr einsam und es war so einfach, der Sucht nachzugeben, nur weil ich nichts zu verlieren hatte. Weil ich innerlich ohnehin schon abgeschlossen hatte, löste alles einen Sturm in mir aus. Es war ein Sturm, der alles um mich herum völlig zerstörte und die letzten Freundschaften aus meinem Leben hinfortblies. Jemand nannte mich damals einen "schüchternen Hurrikan" und jetzt verstehe ich, was damit gemeint war. "

Kurz schlucken und dann in Lyrics á la "I don't hate life. I fear it." abtauchen...


Ida Laurberg
(sb) Es ist immer wieder schön, wenn man positiv überrascht wird. Und umso mehr, wenn es einer Künstlerin gelingt, deren Genre eigentlich so gar nicht dem entspricht, was man eigentlich so zu hören pflegt. Ida Laurberg ist aber nicht zu überhören, denn was die 20-jährige Dänin da auf ihrer EP Phase Five (VÖ: heute!) fabriziert, ist ungemein emotional und zutiefst berührend. Die Künstlerin lässt ihren Gefühlen freien Lauf und so finden Verzweiflung, Trauer, Wut, aber auch gelegentliche Hoffnungsschimmer genügend Raum, sich zu entfalten. Stimmlich und atmosphärisch ist das Ganze ohnehin herausragend und geht weit über einen Geheimtipp hinaus. Meine Favoriten: Lost All Hope (siehe Video) und Why Don't You. Großes Gefühlskino!

Kid Dad
(sb) Eigentlich wollten sie nur Grunge machen - und das haben sie. Sehr gut sogar. Irgendwann hat das nicht mehr gereicht und die musikalische Reise ging weiter. Viel weiter. Gut so, denn in Kid Dad steckt so viel Talent, dass es schade wäre, wenn sich das Quartett selbst limitieren würde. Die Band verfolgt auch in der visuellen Umsetzung ihrer Tracks ein sehr stringentes Konzept, das mir persönlich außerordentlich gut gefällt und das den alternativen Touch ihres Debütalbums In A Box perfekt transferiert. Abwechslungs- und facettenreich präsentieren sich die Paderborner, es lohnt sich, auch auf die Details zu achten. Die eher ruhigen Songs sind schon hörenswert, so richtig ans Eingemachte gehts aber, wenns laut wird und die Videoauskopplung A Prison Unseen ist das beste Beispiel dafür. Ich könnte mir vorstellen, dass Kid Dad in England sogar besser funktionieren als hierzulande, lasse mich aber natürlich gerne eines Besseren belehren. Sidefact: Happy klingt, als hätte man das komplette Album Nevermind von Nirvana auf weniger als drei Minuten Spielzeit eingedampft.


U96 & Wolfgang Flür
(ms) Kleiner Exkurs über große Kooperationen. Wenn Namen ihren Schatten voraus werfen, erwartet man natürlich Großes. Wenn wichtige Vertreter ihres Genres und der Musikgeschichte sich zusammen tun, dann muss da ja der nächste Geniestreich draus werden, auch wenn ihre große Zeit schon sehr lange zurück liegt. Ist das nicht schräg? Ist die Fallhöhe nicht viel zu groß? Wenn es dann nicht das non-plus-ultra ist, dann ist man schnell enttäuscht. Und das sollte man hier halt nicht sein. Let Yourself Go ist ein guter Techno-Song, der die 90er Jahre wieder aufleben lässt. Zum Glück nur musikalisch. Er arbeitet mit breiten, sphärischen Tönen und einem eingängigen Beat, was zusammen gut in eine nächtliche Großstadtsituation passt.
Man erwartet vielleicht ein wenig mehr Kreativität und Finesse, weil der Song von U96 und Wolfgang Flür ist. U96 waren in den 90ern wichtige Techno-Pioniere, die heute noch auf ihren Welthit Das Boot zurück schauen. Zurecht. Wolfgang Flür war Mitglied von Kraftwerk, als sie ihre wichtigen Alben produziert haben: Autobahn, Trans-Europa-Express oder Mensch-Maschine. Oft wird behauptet, er sei Gründungsmitglied, was so nicht stimmt; es gab ja vor Autobahn schon experimentelle Kraftwerk-Alben, die heute aber aus der Sicht von Ralf Hütter eher unter den Tisch gekehrt werden.
Nun. U96 und Wolfgang Flür arbeiten jetzt erstmalig auf Albumlänge miteinander. Ja, Let Yourself Go ist solide, kein Kracher. Man darf dennoch sehr gespannt sein, was auf Transhuman (VÖ: 4. September) alles zu hören sein wird. Wir informieren Euch!



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