Mittwoch, 17. August 2022

Muff Potter - Bei Aller Liebe

Quelle: Facebook.com/muffpotterofficial
(Ms) 1. Nein, ich kann den großen bandhistorischen Rahmen nicht ziehen. Auch zu der musikhistorischen Bedeutung der Band kann ich aus eigener Erfahrung nichts berichten. Beides aus einem ganz profanen Grund: Als die Band so richtig drin war im Spiel, in den frühen 00er Jahren, da war ich schlichtweg zu jung. Meine Eltern haben ja schon 2004 erst stirnrunzelnd und dann bereitwillig den kleinen Jungen zu den Sportfreunden Stiller gefahren. Der Sprung zu Muff Potter war zu dieser Zeit in der Kleinstadt noch zu groß. So richtig kennengelernt habe ich die Band dann erst, als sie sich aufgelöst hat. Blöd gelaufen also. Aber auch später habe ich die Band aus Rheine nie so wirklich verfolgt. Im Hinterkopf wummerte aber immer schon die leise Ahnung: Die sind geil.

2. Dann gab es eine kleine Abbiegung im Muff Potter-Kosmos, die ich wenigstens zum Teil mitgegangen bin. Denn Thorsten Nagelschmidt ist einer der Künstler, din es fertigbringen, sowohl tolle Lieder als auch sehr schöne Bücher zu schreiben. Als 2018 sein Buch Wo Die Wilden Maden Graben herauskam, hab ich es recht schnell verschlungen. Vielleicht auch, um mich vor den letzten Metern der Uni zu retten. Wie er das Leben in der Kleinstadt einfängt, hat mir sehr zugesagt. Zum Einen, weil ich selbst in einer groß wurde (s.o.), zum Anderen, da ich durch die Uni-Wahlheimat Münster auch das nahe Rheine kennengelernt habe.

3. Memo an mich: Eine Rezension zu einem Musikalbum zu schreiben, funktioniert nie ohne Rückkopplung zum Schreibenden. Wer neutral über Musik schreibt, ist entweder herzlos oder sehr professionell. 

4. Bei Aller Liebe heißt die Platte, die am 26. August auf dem eigenen Label Hucks Plattenkiste erscheinen wird. Und mir gefällt sie außerordentlich gut. Aus Punkt Nummer 1 folgt auch, dass ich die alten Platte der Band nicht kenne. Hier wird kein Vergleich stattfinden, sondern das Album recht isoliert betrachtet. 

5. Dazu ein kleiner, sehr, sehr subjektiver Stand der Dinge zu deutschsprachiger Pop/Rock-Musik, die neu ist. Da gibt es so einiges, was ich ziemlich drüber finde. Blond zum Beispiel. Kann aus meinen Augen weg. Düsseldorf Düsterboys finde ich auf Platte charmant, live aber lahm. Da ist zum Teil viel Gewolltes dabei, viel Wannabe-Feuilleton. Im Rap oder Punk passieren viel spannendere Dinge. Viel mehr Wut und Druck und Tempo und Dichte. Ansonsten sind es in meinem Wahrnehmungskreis die Altbekannten wie Gisbert oder Die Sterne oder Thees oder Wiebusch oder Fortuni, die Raffinesse und Tiefe im Text zeigen. Bei Muff Potter ist das auch deutlich zu hören. Es ist zu hören, ja, zu spüren, was in diesen Texten steckt. Sie brauchen keine Verzerrung oder Verkleidung. Sie stehen durch ihre Prägnanz für sich. Es ist Kunst, die durch das Herz, den Bauch und den Puls ans Tageslicht kommt. Und schlussendlich aus der Lunge. Wer auf diese Platte Nagel singen, krächzen, sprechen, voranreden hört, weiß genau, woher diese Worte, diese Geschichten, diese Aufnahmen kommen. Mit wachen Augen, einem hellen Gespür und einer feinen Füllfeder (um ein bisschen romantisch zu bleiben). Hinzu kommen wuchtige Gitarren, die einen Klang ins Jahr 2022 bringt, von dem ich nicht wusste, dass ich ihn vermisse.

6. Die Platte also. Sie beginnt mit verzerrten Gitarrenriffs und Nagels unperfekt geiler Stimme. Herrlich. Ich bin sofort drin, habe sofort Bock. Es wird eine Szenerie aufgebaut. Eine Siedlung, die etwas trostlos erscheint zwischen Mietwucher, Nostalgie und Lethargie. Und dann eine Brühwürfel-Zeile, die mich umhaut. Wie kommt man nur darauf?! Absolut genial. Wäre ich Musiker, wünschte ich mir, dass es mir eingefallen wäre. Killer ist eine perfekte Startnummer, sogar mit Chorgesang. Und dann wird aber bitte Fahrt aufgenommen. Gitarren, Schlagzeug, Bass, Stimme, LOS! Ich Will Nicht Mehr Mein Sklave sein ist genau die Hymne meines neuen, privaten Vorhabens: Weniger Handy, weniger ferngesteuert werden durch diese doofe kleine Kiste mit dem schwarzen Display. Ja, hol mich raus und zeig mir das Draußen! Los, Muff Potter, ich bin dabei! Flitter & Tand danach. Richtig Bock durch die Arrangements. Super Stakkato im Schlagzeug, viel Wärme und dennoch Energie im Bass, starke Hook im Gitarrenriff! Augenzwinkernd werden Kalendersprüche und Spruchbildchen aus den Medienplattformen seziert. Dann beginnt Nagel zu erzählen. Ein Gestohlener Tag ist eine wahnsinnige Nummer. Es ist pointiert das, was Jochen Distelmeyer auch macht, aber viel, viel zu sperrig dabei bleibt. Nagel ist klar, mit ihm kann ich mitgehen. Bei Distelmeyer bin ich eingeschlafen. Die Strophen gesprochen, der Refrain gesungen und eine große Hymne auf die oft mühseligen Wege zur ungeliebten Arbeit. Oder wie Pascow singen: „Die Zeit, die mir fehlt, ist das Geld, das ich krieg.“ Das Gute bei dem Lied ist, dass der Kosmos klein, überschaubar bleibt. Es geht nicht um Selbstverwirklichung oder Work-Life-Balance oder so einen Schrott. Es geht einfach um Arbeit, die ich brauche zum Leben, aber an genügend Tagen wenig verlockend ist. Über fast 8 Minuten erstreckt sich das Lied. Nein, ziehen tut er sich nicht. Nicht in einem Takt. Erst wird die Grundlage dargelegt, dann kommt die Wut. Ich bin mit geballter Faust komplett dabei! Stark, Muff Potter! Das Erwachsenenthema Arbeit dehnt sich noch ein wenig weiter aus. Das mag sicher auch damit zusammenhängen, dass Nagels Buch von 2020 so heißt. Zudem ist Hammerschläge, Hinterköpfe natürlich ein astreines Wortspiel. Außerdem geht es auf dem Stück über eine Lebensrealität, die den Namen nicht verdient hat, da sie oft nur auf irgendwelchen oberflächlichen Plattformen hashtagversehen zu bestaunen ist. Alles nur fürs Hamsterrad, um schlussendlich ausgebrannt nicht mehr mit zu kommen?! Nein danke! Hier wird die Lanze für ein humanistisches Miteinander schon recht deutlich mit leichtem Schaum vorm Mund hoch gehalten. Da packe ich mit an! Zum Ende hin erstrahlt das Album in ungeahnten Höhen. Nottbeck City Limits ist ein Werk, das mich beim ersten Hören direkt komplett umgehauen hat. Zwischen Oelde und Rheda liegt das kleine Kulturgut Haus Nottbeck, wo dieses Album entstanden ist. Eine Parallelwelt im Nirgendwo. Richtig abschalten ist da möglich. Doch neben der Idylle lauert die Hölle. Da liegt das Schlachthaus von Tönnies. Dort werden nicht nur sekündlich Schweine getötet, sondern auch Menschen ausgenommen. Diese ausweglose Spirale zwischen Sub-Sub-Unternehmen und billigem Fleisch bringt die Band auf extreme Weise nah. Gänsehaut und Grummeln im Magen inklusive. Blumfeld -Zitat inklusive. Zum letzten Lied, Schöne Tage, möchte ich gar nicht mehr so viel schreiben. Es lohnt viel mehr, dies zu erleben. Darin stecken nicht nur Zeilen und Stimmungen, die an ein Früher erinnern, sondern auch ganz viel musikalische Raffinesse, die schnell in den Körper übergeht. Was ist das bitte für eine Platte. Ich wusste nicht, dass es eine Lücke gibt. Aber nun ist die geschlossen.

7. Repeat. Repeat. Repeat.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Wenn du auf meinem Blog kommentierst, werden die von dir eingegebenen Formulardaten (und unter Umständen auch weitere personenbezogene Daten, wie z. B. deine IP-Adresse) an Google-Server übermittelt. Mehr Infos dazu findest du in meiner Datenschutzerklärung (siehe Blog-Startseite unten) und in der Datenschutzerklärung von Google.