Freitag, 30. April 2021

KW 17, 2021: Die luserlounge selektiert

Bild: http://clipart-library.com
(ms/sb) Betreiben wir ein wenig Verklärung der Welt. Setzen wir die romantische Brille auf und auch wieder ab. Ich wollte immer schon ein Buch schreiben. Bereits in der Schule. Es sollte um einen Fahrkartenkontrolleur Namens Ulf gehen. Ich dachte mir in meinem kleinen Provinzköpfchen: Mensch, was für ein toller, entspannter Beruf! Man tapert durch den Zug, hilft Menschen weiter und verbreitet eine gute Stimmung. Menschen fragen nach dem Weg, ich gebe eine Antwort. Wohin mit dem Kinderwagen? Kein Problem, da drüben ist noch Platz. Spätestens seitdem längere Strecken zu dunkleren Uhrzeiten oder volleren Orten zum Lebensrepertoire gehören, weiß ich, dass das Gegenteil der Fall ist. Viele Kontrollierende arbeiten mit Pseudonym, weil sie ganz übel angegangen werden. Ähnlich ging es mir schon mal mit BriefträgerInnen. Da kam ein ähnlicher Gedanke auf: Ach, wie nett! Du bringst den Menschen gute Nachrichten und wirfst einen Gruß aus dem Urlaub ein? Achso... Usedom... wie schön! Tja, nix da. Was für ein brutaler Knochenjob! Bei Wind und Wetter raus mit dem Rad und an jeden noch so schlecht beschilderten Hinterhof. Sicher werden diese guten Menschen auch tagein und -aus angekackt. Verbal. Also: Zollen wir ihnen Respekt und danken wir ihnen. Ist nicht zu viel verlangt.

Doch der Auftrag lautet: Frische Musik zu selektieren. Gerne. Hier ist die luserlounge. Freitag. Bitte.
 
The Ghibertins
(sb) Ich hatte es an anderer Stelle ja bereits angedeutet, dass ich sehr gerne Musik aus Italien höre. Talco, NH3, Fo-Go und wie sie alle heißen. Sie alle singen in der Regel in ihrer Landessprache, heißt: Ich versteh leider sehr wenig, aber das Klangbild sagt mir sehr zu.
The Ghibertins aus Mailand gehen einen anderen Weg und fahren die internationale Schiene. Englisch ist angesagt beim Quintett aus der Lombardei. Macht aber nix, denn inspiriert von The National oder den Editors klingt das zu Beginn zwar sehr mainstreamig, driftet dann aber doch ein wenig ins Experimentelle ab und das steht der Single 20149 - Milano (VÖ: heute) unverschämt gut. Und was für ein geiler und präsenter Basslauf! Ich bin sehr gespannt aufs Album The Life & Death of John Doe, das allerdings leider erst im Januar 2022 folgen wird. Dort wird jeder Track ein Jahrzehnt des fiktionalen Charakters John Doe repräsentieren. Spannendes Konzept und definitiv ein ein Grund zur Vorfreude!
 

Loki
(sb) Wow! Einfach nur wow! Eine EP, fünf Tracks, die unterschiedlicher kaum sein könnten und das Gefühl, gerade was ganz Großes gehört zu haben, das auch international steil gehen kann. Das Einzige, was man Loki auf seiner Intimacy EP (VÖ: 21.05.) vorwerfen kann, ist wohl, dass er sich manchmal etwas zu sehr an bekannten Bands anlehnt. Sheppard könnte auch von Walking On Cars stammen, González von, naja, José González halt. Wie dem auch sei: Marc Grünhäuser und seine Mitmusiker haben eine herausragende Scheibe erschaffen, die ich mir in den kommenden Monaten noch sehr oft anhören werde, weil sie mich vom ersten Ton an anspricht, mich berührt, mitnimmt und am (viel zu frühen) Ende wieder ruhig und zufrieden entlässt. Die Macht der Musik. Großartig.
 

Fiddlehead
(sb) Wenn man Patrick Flynn so schreien hört, könnte man fast meinen, er sei wütend. Sehr wütend. Auf Gott, die Welt und das große Ganze. Aber das ist nur die halbe Wahrheit, denn der Sänger von Fiddlehead holt thematisch auf Between The Richness (VÖ: 21.05.) noch deutlich weiter aus und löst sich vom Offensichtlichen. Leben, Tod, Freude, Schmerz - es liegt alles so nah beieinander und das hört man dem Album auch an. In einem Moment wird noch geknüppelt, im nächsten ist es schon herrlich melodiös und geradezu verspielt. In Sachen Songwriting hat das Quintett aus Boston auf jeden Fall einen gewaltigen Schritt nach vorne gemacht, sprengt die Ketten des Post-Hardcore und spielt mit im Konzert der Großen.
 

Die Buben Im Pelz
(sb) Ach, was hab ich die Neigungsgruppe Sex, Gewalt & Gute Laune gefeiert! Nicht, dass ich sie täglich hätte hören wollen oder können, aber das war schon etwas ganz Besonderes. Und genau da setzen Christian Fuchs und David Pfister auch mit ihrer neuen Band Die Buben Im Pelz wieder an und transformieren internationale Klassiker in moderne, grantige Wienerlieder mit dezent überheblichem Metropol-Charme. Sagen wir es, wie es ist: Das ist einfach nur geil, wie rotzig, mitunter böse, aber doch stets mit Liebe zum Detail die Musik hier zelebriert wird. Millionen Platten verkaufen? Drauf geschissen! Im Mainstream landen? Am Arsch, Oida! Danke, danke, danke, dass Ihr das so macht, wie Ihr es macht. Mit Geisterbahn (VÖ: 14.05.) übertreffen sich die sechs Herren aus Österreich mal wieder selbst - und das mag was heißen!
 

The Subways
(ms) Es gibt halt diese Band, auf die man zählen kann. Sie liefert solide ab. In regelmäßigen Abständen. Nein, ein ausgesprochen passionierter Fan von The Subways war ich nie. Aber sie waren halt immer da und halt auch immer gut. Eine typische Festival-Band, auf die sich alle einigen können und wo man ganz genau weiß, dass sie komplett abliefern und ausrasten werden! Geil, oder? Eben! Deshalb ist die Vorfreunde natürlich groß, dass Neues in den Startlöchern steht. Fight ist der erste Vorbote von einem neuen Album, dass wohl dieses Jahr noch erscheint. Name und Datum folgen dann. Vorerst also diese ausgesprochen politische Single. Ungewöhnlich. Doch wen lässt diese Zeit schon kalt?! Viel zu viele laute Idioten. Viel zu viele dumme Idioten auf großen, mächtigen Stühlen. Genau darum geht es! Fight them! Das ausgesprochen Bemerkenswerte: Der Track erscheint als 7"-Single und auf der B-Seite ist ein Interview zu hören mit dem Rock-Duo Nova Twins. Zudem liegt der Platte ein DIY zum (gewissermaßen) zivilen Ungehorsam bei! Genau das braucht es! Selten waren The Subways so wichtig!


Gaspard Augé
(ms) Eine Liebe zur Musik, eine Liebe zu den Tönen. Deshalb bin ich wahnsinnig oldschool und habe mp3-Dateien auf meinem Handy! Nix Spotify, einfach ganz normale, mehr oder weniger analoge Musikdateien auf dem internen Speicher. Das wird regelmäßig ausgetauscht, damit keine Langeweile herrscht. So kam zuletzt erneut Woman Woldwide von Justice aufs mobile Endgerät und begleitet mich erneut gerne und komplett aufgedreht durch den Tag. Was für eine irre Band, was für eine geil aufbereitete Platte! Die eine Hälfte der Franzosen, Gaspard Augé, veröffentlicht nun bald seine erste Solo-Platte! Der erste Hinhörer zeigt: Er bewegt sich in guten Alten Justice-Klangsphären und ballert schön nach vorne: Tanzbar und irre catchy! So mag ich es! Force Majeure kommt mit einem äußerst sehenswerten Video-Snippet daher (den ganzen Track gibt es hier zu hören). Es ist zu sehen wie in der Türkei Becken fürs Schlagzeug hergestellt werden. Alles Unikate, alle handgemacht. Eine Liebe zur Musik, eine Liebe zu den Tönen!


Alex Kranabetter
(ms) Vor einigen Jahren sah ich Hauschka live und war selbstredend total fasziniert. Das Klavier ist für Volker Bertelmann nicht nur ein reines Saiteninstrument der alten Schule. Für ihn ist es ein Spielzeug, ein Spielplatz, dessen Funktion und Größe genutzt werden wollen. Kein Wunder also, dass Tischtennisbälle bei seinen Konzerten dort hindurch fliegen und Töne erklingen lassen. Klar, das Klavier hat ordentlich Konjunktur, Neo-Klassik boomt. Ein anderes Instrument sorgt seit vielen Jahren bei mir auch für große Begeisterung: die Trompete. Der Klang, der durch sie (normalerweise) erzeugt wird, hat in meinen Ohren immer etwas Herrschaftliches, Königliches. Das innere Auge schmeißt die Flimmerkiste an und eine Burg mit Fanfarenspielenden ist zu sehen, die die KriegerInnen nach getaner Arbeit willkommen heißen. Best of both worlds: Alex Kranabetter. Der Wahlwiener reizt die Möglichkeiten der Trompetenklänge aufs absolut Extreme aus. Kommenden Freitag, am 7. Mai, erscheint sein erstes Album, das Textures heißt. Extrem bedeutet hier: Das ist keine leichte Kost. Hier ist kein Jazz zu hören, obwohl er es studiert hat. Und auch keine Klassik, kein Pop oder Rock. Kranabetter nutzt die Trompete nicht nur als Blechblasinstrument. Während des Aufnahmeprozesses befestigte er ein weiteres Mikrophon daran, das die Bewegungen der Tasten aufnimmt. Daraus filtriert er Töne, Klänge. Nein, keine Melodien. Vielmehr knarzt, kracht, dröhnt es an allen Ecken und Enden. Das ist anstrengend. Aber auch absolut faszinierend wie er ein Instrument nimmt und die Optionen der Musik vollkommen ausreizt. Dieses Album unterscheidet sich im Wesentlichen davon, wie man ihn eventuell kennt. Trompete spielte er beispielsweise schon mit/für Voodoo Jürgens oder Fuzzman. Beides große luserlunge-Lieblinge. Einen Tipp gibt es für dieses Stück: sich drauf einlassen!


Sons Of Raphael
(ms) Für Easy Listening kann ich mich wirklich stark begeistern. Meines Erachtens ein Genre, das viel zu oft belächelt wird. Und ein Genre, das so irgendwie gar keins ist. Für mich ist es eher eine Haltung der Musik gegenüber. Es muss kein Hintergrundgeplatsche sein, sondern hat auch die Möglichkeit, bewusst genossen zu werden oder das Tanzbein zu schwingen. Da kommen Sons Of Raphael ins Spiel. Der Name klingt archaisch, ist aber irgendwie doch ganz süß, wenn man weiß, dass Loral und Ronnel halt Brüder sind und sich den gleichen Nachnamen teilen. Wenn am 21. Mai ihr Erstling Full Throated Messianic Homage erscheint, dringt poppiger Easy Listening in andere Sphären. Auf ihrem kurzweiligen, leicht futuristisch und psychedelischen Album sind sie meinem Ohr nach irgendwo zwischen MGMT, den Pet Shop Boys, Orph und einem damit einhergehenden passioniertem Hang zur pathetischen Dramatik zu finden. Sehr entspannt, mitunter cineastisch! Das klingt so:

 
Danger Dan
(sb) Eins vorweg: Dieses Album hätte eigentlich einen eigenen Artikel verdient, aber aktuell reicht mir die Zeit nicht, um weiter auszuholen. War die erste Single Lauf davon noch so lala, überstrahlt die zweite Auskopplung Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt natürlich alles. Für mich der mit Abstand beste und wichtigste Track des bisherigen Jahres. Auch Single Nummer 3 namens Eine gute Nachricht hält dieses Niveau, wenn auch auf einer thematisch völlig anderen Ebene. Aber wie schön ist das denn bitte?
Danger Dan von der Antilopen Gang zeigt auf seinem Piano-Album Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt (VÖ: heute!) eine völlig neue Seite von sich und seinem musikalischen Können. Klar, Solo-Scheiben hatte er vorher auch schon veröffentlicht und wusste da auch zu gefallen, aber diesmal überrascht er nicht nur, sondern überzeugt auch. Ernsthaftigkeit, Ironie, Humor, Boshaftigkeit, Politik und Absurdität - selten wurden so unterschiedliche Themen so konsequent in so ein unschuldiges Gewand gekleidet und präsentiert. Sehr, sehr stark! Und wer würde Penelope Cruz nicht helfen wollen, Sextouristen in Bangkok zu verprügeln? Count me in!


Oehl
(ms) Bei Alex Mayr sprach ich es letztens schon an: Wir hören viel, was uns zugespielt wird, wenig bleibt langfristig hängen, da wir im Endeffekt doch das hören, was wir immer schon hören. Und dann kommen die Abers! Dieses hier ist ganz, ganz groß! Oehl haben mich vor eineinhalb Jahren unglaublich begeistert und auf magische Weise berührt. Es begann mit Wolken, das Album Über Nacht folgte, anschließend die Cover-EP Im Spiegel. Denn sie haben Einzigartiges geschaffen: Einen eigenen, neuen Sound kreiert. Und wenn Ariel so herrlich daher nuschelt/singt, ist alles klar. Nun geht die Reise endlich weiter. Bereits die Ankündigung in den letzten Tagen hat mich hell aufhören lassen! Jetzt ist das neue Stück da: Arbeit. Das Duo drängt heraus aus dem heilsam persönlich Emotionalem und betritt die großen Themen eines Jeden, der Welt. Und bleiben genauso nah am Menschen, an der Seele dran. Das schaffen sie sehr geschickt. Zum Einen hat Ariel ein ungeheures Talent kleine, eindringliche Texte zu schreiben. Hjörtur arrangiert reine Musikmagie. Dazu servieren sie ein Video, was schöner kaum sein kann. Am 2. Juli erscheint die nächste EP: 100% Hoffnung. Musik kann heilsam sein, ja!

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