Foto: Simon Hegenberg |
(ms) Es ist die Sache mit den Erwartungen. Und diese Sache ist total schräg. Ja, bei mir zündet das neue Mine-Album Hinüber, das diesen Freitag (30. April) erscheint, nicht so richtig. Im Wesentlichen liegt es daran, dass ich mehr erwartet habe. Das finde ich selbst total erschreckend, denn: Wer bin ich denn, dass ich die Messlatte so hoch lege bei dieser fulminanten und enorm kreativen Musikerin? Oder ziehe ich aus ihrem Wirken ein Niveau, das ich in meiner Haltung ihrer Musik gegenüber verlange? Total vermessen. Aber ich komme aus diesem Gedankengang nicht raus. Mine ploppte auf meinem Radar tatsächlich erst mit dem unglaublichen und gemeinsamen Fatoni-Album Alle Liebe Nachträglich auf. Natürlich knallte da auch nicht jedes Stück, aber die Dichte an extremen Perlen ist nach wie vor frech! Zum Einen liegt es an den Texten, die unterhaltsam und einfühlsam sind und regelmäßig heftig in die emotionale Magengegend einprügeln. Das ist schon irre aufgebaut. Zum Anderen sind es die musikalischen Arrangements, die Mine allesamt selbst erschuf. So breit. So vielseitig. So fein! Klebstoff war dann genau die Knallerplatte, die danach kommen musste.
Zudem sah ich sie glücklicherweise vor zwei Jahren auf dem Deichbrand und war hin und weg. Zum Einen von ihrem Auftritt, ihrer Präsenz auf der Bühne. Selten eine derartige Ausstrahlung erlebt. Der Mensch steht auf der Bühne und füllt den Raum mit der reinen Anwesenheit. Die Kinnlade klappte noch weiter hinunter, als mir zum Anderen klar wurde, wie extrem sie das Liveniveau mit ihrer unfassbar sympathischen Band halten kann.
Das sind die Punkte, die ich stets im Hinterkopf habe, wenn es um Mine geht. Alles sehr weit oben. Und dann ist (leider) klar, dass diese Erwartungen erfüllt werden wollen.
Woran liegt es also nun, dass Hinüber mich nicht so stark überzeugen kann? Schuld ist unter anderem ein weiterer paradoxer Eckpunkt: Ordert man Mine, wird eine Wundertüte geliefert. Völlig unberechenbar: textlich, musikalisch und zunehmend auch optisch. Und das aus einem überzeugenden Grund: Die Dame macht schlichtweg, was sie will und für gut befindet. Worauf sie Bock hat. Geil! Wenn sie Bock auf Weltphilosophie hat, macht sie das. Wenn sie Bock auf emotionale Kratzer hat, macht sie das. Wenn sie Bock auf seichte Unterhaltung hat, macht sie das. Wenn sie Bock auf unverschämt gute Features hat, holt sie sie sich ins Boot.
Ihr Bock versus meine Erwartung. Ist ja klar, was wichtiger ist. Dennoch möchte ich es erläutern.
Da sind die Lieder, die ich schlichtweg nicht verstehe. Das sind die Stücke, die mich in gewisser Weise stören, sodass die Platte entspannt im Hintergrund laufen kann, ohne dass ich irgendwie hinhören muss. Ist Eiscreme tatsächlich 'einfach' nur ein Lied darüber, wie sehr sie Eis mag? Okay, alles klar. Aber genauso: Hä?! Lambadaimlimbo geht in eine ähnliche Richtung. Ich verstehe es einfach nicht. Was soll das Lied? Ebenso Elefant. Klar, altbekannte Metapher für Unausgesprochenes. Aber weiter als die Thematisierung geht der Track nicht. Da fehlt mir absolut das Weiterführende.
Die nächste Kategorie Stücke: Emotional-melancholische Tracks auf persönlicher Ebene. Im Reflektieren ist Mine wirklich überragend. Im Fragenstellen auch. Das tut sie auf KDMH (Kannst du mich halten?), Bitte Bleib oder Mein Herz auf sehr harte und direkte Weise. Sie tut gerne weh, aber das muss auch mal sein. Insbesondere letzteres ist ein echter Hinhörer. Sie vertont ein weiteres Mal den ungeheuer schmerzvollen Verlust ihrer Mutter. Ich kenne auch Menschen aus dem nahen Kreis - alle um die dreißig - die vor Kurzem oder Längerem ein Elternteil verloren haben (drecksscheiß Krebs jedes Mal) und weiß mir nie zu helfen, wenn es darum geht. Nur verständlich, wenn sie dann in die Welt ruft: Wie kannst du mir das antun? Hier weiß Mine auf wundersame Art zu überzeugen. Die harten, bitteren Themen. Sie liegen ihr wohl.
Diese lässt sie nicht nur im persönlich-emotionalen Raum. Sondern sie erweitert ihn um eine globale Ebene. Wo stehe ich in der Welt? Welche Schuld trage ich am täglichen Leid anderer um den ganzen Globus? Das ist die dritte Kategorie an Liedern: Hinüber, Tier und Unfall. Insbesondere Unfall haut komplett rein. Ganz übel. Ganz stark! Sie zeigt sehr deutlich auf, was schief läuft. Und brilliert. Denn durch das Video bekommt der Text eine weitere Ebene. Sie stellt sich dem Thema und weiß ganz genau: Ich gehöre hier absolut zu den Privilegierten! Mein Teller ist voll, ich habe Glück, ich rede es mir schon irgendwie schön. Oh man,... man bleibt sprachlos zurück. Das ist Kunst.
Achja... da fehlt ja noch ein Lied. Audiot. Das ist so geil gaga, dass man es nur feiern kann. Hier mag ich gar nicht spoilern. Das muss laut genossen werden, so, dass man nur noch grinsen kann.
Hinüber ist mannigfaltig. Musikalisch auf extreme Art. Einige feel-good-Tracks, bei den härteren, schwereren Themen werden die Aussagen durch musikalische Dramatik unterstrichen. Doch mir fehlt oft der letzte Punch - lyrisch und musikalisch -, damit ich voll aus dem Häuschen bin. Glücklicherweise ist und bleibt Musik Geschmackssache. Meiner wird hier nicht 100%ig getroffen, bei vielen anderen hoffentlich schon!
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Wenn du auf meinem Blog kommentierst, werden die von dir eingegebenen Formulardaten (und unter Umständen auch weitere personenbezogene Daten, wie z. B. deine IP-Adresse) an Google-Server übermittelt. Mehr Infos dazu findest du in meiner Datenschutzerklärung (siehe Blog-Startseite unten) und in der Datenschutzerklärung von Google.