Freitag, 17. Januar 2025

The Weather Station - Humanhood

(Ms) Die großen Gesten. Die überbordenden Melodien. Die ganz klaren Hymnen. Die Lieder, die an Crescendos nicht sparen. Die Songs, die vor Dynamik nur so strotzen. Die Tracks, die das ganz große Gefühl durch ganz große Töne und irre Arrangements erzeugen. Ich liebe sie. Diesen Momenten, diesen Stücken gebe ich mich so richtig gerne hin. Das eindrücklichste, umwerfendste Beispiel dazu ist ein Konzert von Sigur Rós. Ich sah sie fünf Mal live und brauche danach nichts mehr, weil es so umwerfend und intensiv ist. Doch diese großen, breit angelegten Konzerte sind ja auch sehr vorhersehbar. Das geht bei den Editors oder Get Well Soon genauso. Da ist vorher klar, dass das ein irrer Abend sein wird.

Das geht auch anders. Das Große und Imposante muss nicht immer so laut sein, muss nicht immer so vorhersehbar und erwartbar sein. Es geht auch mit leisen Tönen. Mit feinen Klängen. Mit sinnlichen Arrangements. Und an diesem Punkt kommt Tamara Lindeman ins Spiel. Seit einigen Jahren macht sie unter dem Projektnamen The Weather Station Musik. Und was für welche?! Vor drei Jahren erschien ihr letztes Album Ignorance und es hat mich ganz stark beeindruckt. Im Leisen. 
Nun erscheint am 17. Januar der Nachfolger. Die Platte heißt Humanhood und kommt mit 13 neuen Songs daher, wovon vier kleine Interluden sind. Menschheit bedeutet der Titel. Das ist sehr groß gefasst, aber halt auch sehr facettenreich. Geerdet geradezu. Erden musste sich Tamara Lindeman auf jeden Fall ganz dringend für dieses Werk. Denn nach der Veröffentlichung von Ignorance ging es ihr gar nicht gut. Sie litt unter etwas, das Depersonalisation heißt. Ihr fehlte eine Verbindung zur eigenen Identität, zum Selbst. Ihr fehlte Vertrauen. Fühlte sich entfremdet. 

Und sie fand zurück.
Ben Whiteley, Karen Ng, Philippe Melanson, Ben Boye und Kieran Adams halfen ihr dabei. Diese fünf Menschen sind ihre Band und für diesen hervorragenden Klang auf Humanhood verantwortlich. Dass es mit sechs Bandmitgliedern nicht laut und wild sein muss, aber dennoch große Töne angestoßen werden können, das beweist dieses Album. Es ist wirklich gut arrangiert. Themen ziehen sich durch dieses Werk, deuten sich an, erklingen laut, schleichen sich wieder aus. Nach dem Intro geht es mit Neon Signs direkt in die Tiefe. Ein Lied, das ihre harte Phase der Krankheit beleuchtet. Wobei genau dieses Leuchten, so wird im Text deutlich, das war, was sie gar nicht mehr erreicht hat. Klaviermelodien tragen das Stück, darunter oder -rüber Bläser und ganz prägnant: das sanft treibende Schlagzeug. Es sind erneut die großartigen Arrangements, die ein ganz hohes Niveau an musikalischer Klasse zeigen. Mirror ist ein Stück, das mich ganz schnell an Justice Electra erinnert, sehr poppig, sehr griffig mit leichter Melancholie. Wenn eine Klaviermelodie ein Ohrwurm wird, ist sie richtig gut gemacht. Im Stück geht es darum, dass wir uns in allem wiederspiegeln, unsere Handlungen sehen wir in anderen Dingen wieder, entkommen dem nicht. Ribbon ist ein leises, seichtes Stück, worin sich die Erzählerin wieder offenbart, eine persönliche Geschichte erzählt, davon wie sie mit ihrer Angst umgeht. Es lohnt sich wirklich, Tamara Lindemans Texte zu lesen. Sie reimen sich ganz selten. Sie hat eine ganz eigene Art ihre Worte zu intonieren, zu betonen, zu singen, darzubieten. Sehr kunstvoll, sehr ungewöhnlich, ziemlich großartig gemacht! Im Titelstück kulminiert sich die ganze Art des Musikmachens von Lindeman so richtig eindrücklich. Teilweise flüstert sie. Die Bläser improvisieren (so scheint es zumindest), ein Banjo erklingt im Hintergrund, eine großartige Geschichte entspannt sich gänzlich ohne Refrain durch die Takte. Das Schlagzeug sorgt auf der einen Seite für Unruhe, andererseits ordnet es auch das ganze Arrangement. Verrückt, aber es funktioniert. Und das alles im Leisen.

Sicher ist Humanhood nicht das Album, das rauf und runter laufen wird. Dafür ist es tatsächlich auch ein wenig zu unspektakulär. Ein bisschen mehr Punch könnte der Platte gut tun, um sie noch öfter hören zu wollen. Doch es bleibt ganz klar festzuhalten: Dies ist ein großartiges Album, es macht unfassbar Freude, in die Tiefe einzutauchen, die ganzen kleinen Töne zu entdecken und sich vor allem von ihren Geschichten mitnehmen zu lassen! In meinen Augen toppt es nicht Ignorance, aber es ist ganz, ganz nah dran. Im Leisen.

26.02.25 Hamburg - Nochtspeicher
28.02.25 Berlin - Silent Green


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