Dienstag, 12. September 2023

Fortuna Ehrenfeld - Glitzerschwein

Foto: Christian Ohlig
(Ms) Übersättigung. Selbst wenn etwas richtig Gutes für einen bestimmten Zeitraum zu viel wird, vergeht die Lust irgendwann daran. Dann stumpft man ab. Die Reaktion wird träge. Die Emotion etwas taub. Von Begeisterung oder Vorfreude keine wirkliche Spur. Es wird abgenickt, wahrgenommen, ad acta gelegt.

So ging es mir zuletzt mit Fortuna Ehrenfeld. Beim Album Helm Ab Zum Gebet war ich vollkommen aus dem Häuschen. Was für ein wunderschönes, rundes Werk, das den Klang der Band hervorragend eingefangen hat! Dann kam das französischsprachige Pendant. Zwei Jahre später Die Rückkehr Zur Normalität, die mich schon gar nicht mehr so doll abgeholt hat. Es folgte im letzten Jahr Solo I. Und nun geht es weiter mit Glitzerschwein, das am Freitag (8. September) auf dem eigenen Label herauskommt. Zum Einen verstehe ich, dass die ganzen Ideen, Verse, Melodien, Rhythmen und Gedanken irgendwo hin raus müssen. Am besten in Liederform und nicht nur für sich allein. Doch die Band, die mich seit einigen Jahren vollkommen vom Hocker haut - diese heilsame Lyrik!!! - holte mich mit der Ankündigung zur neuen Platte gar nicht mehr ab. Ich war voll. Voll von Fortuna. Voll von Shalala. Voll von Halleluja. Voll von den ganzen repetetiven Momenten aus dem eigenen Kosmos. Sie haben mich alle nicht mehr abgeholt. Hör mir bloß auf mit Fortuna Ehrenfeld, diesem ganzen Köln-Gedöns, den Schlafanzügen, den Rotweinflaschen. 

Pause. Stop. Mal eben durchatmen. Nur weil mir der Output der Band zuletzt zu viel war und ich das alles gar nicht aufsaugen konnte und wollte, heißt es nicht, dass ich der neuen Platte gar keine Chance gebe. Also, alles auf Null, mal eben an die zahllosen großartigen Konzertkomente erinnert (Strandkorb in Wilhelmshaven, Kirche in Köln, Kneipe in Rheine, Knust Openair undundund…). Okay.
Glitzerschwein also. Wie gesagt, die Band hat sich einen eigenen Kosmos erschaffen und lebt darin. Schon okay, dass die Platte so heißt wie ein Schlachtruf von vor ein paar Jahren. Es bleibt ja auch nicht allein beim Alten. Elin Bell ist die Neue. Die Neue an den Tasten. Daher steigt schon die Spannung, ob das denn eine Auswirkung auf den Klang, den Swing der Gruppe hat.

Hat es nicht. Und das ist eine gute Nachricht. Alles schwingt herrlich so weiter, wie man es von dem Trio gewohnt ist. Mal rasten sie aus. Dann rasten sie wieder ein. 12 neue Lieder sind auf der Platte zu hören. Einige sind großartig, andere skippe ich weg. An Der Ecke Bellt Ein Hund ist der Starter und es erklingt ein wunderbar weiches Klavier, hach, diese Töne. Ich habe sie doch vermisst! In den ersten knapp drei Minuten wird mal wieder klar, was dabei herauskommt, wenn Martin Bechler mit Worten Tetris spielt: Kunst! Selten war deutschsprachige Popmusik in den letzten Jahren so poetisch. Verse aus dem Herzen, vom Schmerz und von der Liebe. Als Unsere Gegenwart Science-Fiction War enthält genau den Sound, der mittlerweile Alleinstellungsmerkmal der Gruppe geworden ist. Entspannte Orgel, entspanntes Schlagzeug, entspannte Akustikgitarre, sodass der Text schön im Vordergrund stehen kann. Ein eher unaufgeregtes Lied bis auf die letzte Zeile der letzten Strophe: „Alles, was ich suchte / konnt ich in dir finden / Lass mich nochmal schaun / und dann lass mich erblinden.“ PENG!
Zur Interpretation von Bechlers Texten gehört natürlich auch immer Spekulation. Ich spekuliere, dass Straßen Lang Wie Segeltau eine der großen Hamburg-Hymnen ist. Ein Gang nach Hause nach einer durchzechten Nacht über die Flaniermeilen. Träumen, schwelgen, ausnüchtern, fliegen. Stark sind die Lieder natürlich dann, wenn sie ganz nah am Schreiber selbst sind. Auf Revolution No. 9 öffnet sich Bechler eventuell sehr mal wieder sehr stark oder zeigt ungefiltert seine textlichen Stärken. Oder beides, hoffentlich. Fast noch nie hat er einen Text so sprechend vorgetragen, hier wird nicht gesungen. Einige Worte übersteigen meinen intellektuellen Horizont, aber das ist schon okay. Trotzdem/deswegen ist es schön. „Ich sterbe für die Liebe / Und ich blute auf Papier!“ PENG PENG! Aufm Park & Ride Von Golgatha ist nicht nur ein herrlich verträumtes Liebeslied, sondern auch ein sehr harmonisches Duett von Martin Bechler und Elin Bell. Diese beiden Stimmen bilden eine wunderschöne Ergänzung. Zuletzt packt Bechler all seinen Welt- und Liebesschmerz in seiner Stimme auf Tragically Hip… und dann ist das Album vorbei.

Wobei das ja nicht ganz stimmt. Mit den anderen, hier ausgesparten Liedern kann ich einfach nichts anfangen. Ich skippe sie, brauche sie aus verschiedenen Gründen nicht hören. Sanfte Tastentöne bei Leck Mich Am Arsch, Amore Mio, aber mehr irgendwie auch nicht.
Wir Propagieren Den Exzess kann weg… „Endless Love By Ordnungsamt“, was soll das?! Das Technogedingel aus den Konzerten nun auf Platte, aber das nervt ja schon bei den Konzerten… Autobahn hat nichts mit Kraftwerk zu tun, auch sehr schön, aber das war es dann auch. We Need To Go Maraca… dieses krasse Geballer brauche ich einfach nicht von dieser Band. Queen Of Fucking Everything klingt zwar super schön und auch einzelne Verse sind toll, aber ich komm nicht so recht dahinter. Wir Müssen Uns Bewegen… Ja, zum nächsten Lied!

Puh, was nun anfangen mit dem Glitzerschwein? Selten stand ich einem Fortuna Ehrenfeld-Album gespaltener gegenüber. Von Beginn bis zum Ende. Die Hälfte haut mich vom Hocker, die andere geht so vorüber. Aber das sind sie… die feinen Unterschiede der subjektiven Wahrnehmung. Dass Martin Bechler immer noch ein großer Poet ist, zeigt er schonungslos. Dass die Band sich auch ein wenig weiter entwickelt hat, ist auch zu hören. Mir gefällt es nicht so, aber was soll das schon. Gerne überzeuge ich mich demnächst wieder live davon:

28.09.2023 - Lido, Berlin
29.09.2023 - Kupfersaal, Leizpig
30.09.2023 - Beatpol, Dresden
12.10.2023 - TOWER Musikclub, Bremen
13.10.2023 - Knust, Hamburg
14.10.2023 - Musikzentrum, Hannover
15.10.2023 - Gloria, Köln
19.10.2023 - Z-Bau, Nürnberg
20.10.2023 - clubCANN, Stuttgart
21.10.2023 - Ampere, München
22.10.2023 - Brotfabrik, Frankfurt am Main
29.10.2023 - Gloria, Köln




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