Donnerstag, 3. November 2022

Sigur Rós - Das Livephänomen

Live in Köln. Foto: luserlounge
 (Ms) Eine Erscheinung wie Sigur Rós ist schwer in Worte zu fassen. Das beinhaltet ihre Kunst, ihre Musik und insbesondere ihre Art und Weise live aufzutreten. Seitdem ich sie vor neun Jahren das erste Mal in München live gesehen habe, gibt es für mich nichts Erstrebenswerteres als dies ständig zu wiederholen. Ihre Musik ist reine Mystik - unerklärlich. Ihre Liveauftritte der pure Rausch, die absolute emotionale Überforderung, eine Demonstration an Lautstärke, Feinheit, Gefühl, Können, Verausgabung. 
Einige Jahre war es sehr still geworden um die Band. Als Drummer Orri 2018 aus der Band ausgestiegen ist, häuften sich die Gerüchte und die Sorge, ob es mit Sigur Rós überhaupt weitergehen wird. Denn es waren nur noch Jónsi und Georg übrig. So eine Band lässt sich auch zu zweit nicht stemmen. Doch wie das heute so ist: Durch Updates auf den Internetkanälen häuften sich Anfang des Jahres die Zeichen, dass etwas passieren wird. Erst wurde bekannt, dass Keyboarder Kjartan wieder an Bord ist und dann, im Februar, gingen häppchenweise Daten für eine Welttournee online. Dies löste bei mir große Euphorie aus und relativ schnell war ich mit Tickets versorgt.
In diesem Herbst war es also soweit, Sigur Rós waren wieder in der Nähe und ich vor Ort. Doppelt. Denn das wollte ich mir nicht entgehen lassen. Am 22. Oktober sah ich sie in Kopenhagen, am 27. dann in Köln.  Dieses Doppelereignis war eine sehr gute Idee. Hier sind die Gründe.

Dass ein Konzert dieser Band intensiv sein wird, war mir vorher bewusst. Ich habe es erwartet. Bislang war es die einzige Gruppe, bei deren Auftritten ich aus unerklärlichen Gründen anfing zu weinen. Das ist in Kopenhagen erneut passiert. Fast schon ein wenig gruselig. Zu den äußeren Bedingungen: Das Konzert (wie wohl auf der ganzen Tour) war in zwei Teile geteilt. Der erste war etwas ruhiger und durchaus experimenteller, beim zweiten ließen sie den Menschen keine Chance mehr - laut, irre, gewaltig und dennoch immer wieder so unheimlich zart. Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums von ( ) spielten sie vermehrt Lieder von dieser zauberhaften Platte. Ich muss gestehen: Wie die Lieder dieser Band, die ich seit Jahren hingebungsvoll höre, heißen, ist mir größtenteils egal, die meisten kann ich eh nicht aussprechen. Und auch die Tracklist ist mir fast egal. Denn bei Sigur Rós geht es mir nicht darum, unbedingt einzelne Lieder zu hören. Es geht dabei für mich um ein Gesamtereignis. Ja, ich verehre diese Band. Weil ich sie nicht verstehe. Ich verstehe nicht, was dort passiert. Ich verstehe nicht, was die Band mit mir macht. Mit ihrer ungeheuren Kraft, ihren verwunschenen Melodien, ihrer Sanftheit und ihrem unbändigen Rausch scheinen sie mich fernzusteuern. Im zweiten, lauteren Set haben sie drei, vier Töne eines Liedes gespielt und mir liefen die Tränen. Wie kann das sein?! Was passiert da?! Auf der einen Seite ist es unheimlich, auf der Anderen wunderschön. Das, was diese Band macht, ist nicht nur Kunst. Es geht in meinen Augen weit darüber hinaus. Wie sie mich im Innersten berührt, ist mir unerklärlich. Und ich will es auch gar nicht wissen. Leidenschaftlich gebe ich mich hin. Denn das, was in diesen gut zweieinhalb Stunden passiert ist, sucht seinesgleichen!

Das ist der emotionale Aspekt. Nach dem Konzert in Kopenhagen war ich erstmal fertig. Noch Stunden später habe ich versucht, zu ordnen, was passierte. Keine Chance.
Daher war ich umso glücklicher, die Band ein paar Tage später nochmal in Köln zu sehen. Um alles etwas genauer zu beobachten. Zum Beispiel die Bühne. An einigen Stellen sind lange Seile vom Boden bis in die Decke gezogen, die sich oft gewunden haben. Von links nach rechts sind kleine Lampen verteilt, die insbesondere bei Svefn-G-Englar toll wirkte, als sie nacheinander aufblinkten und wieder erloschen. Im Vordergrund waren von links nach rechts Kjartan, Jónsi und Georg angeordnet, etwas weiter hinten saß ein neuer Drummer. Offensichtlich handelt es sich dabei um Ólafur Björn Ólafsson, der auch schon vorher mit Jónsi zusammenarbeitete. Er war eine Maschine. Kaum vorstellbar, dass er nur mit zwei Händen und zwei Füßen das Schlagzeug spielte. Kjartan hat alles übernommen, zuvorderst natürlich das Keyboard, doch er bediente auch eine Posaune und immer wieder die Gitarre. Georg und sein Bass scheinen eine Einheit zu sein - für die liebevollen kleinen Töne und für die heftigsten Rückkopplungen, die durch Mark und Bein gingen. Und was Jónsi da macht… keine Ahnung! Er spielt sich in den Rausch, wirkt mächtig und zerbrechlich zugleich. Erschüttert die Hallen, wenn er mit dem Geigenbogen über die Gitarrensaiten geht und ist am Ende des Konzerts fertig mit den Nerven.
Dass das beim Publikum auch so sein kann, dafür sorgt auch die große Lichtshow. Überall blinkt etwas auf, alles sehr durchdacht. Hinter der Band erstreckt sich eine große LED-Leinwand, über die immer wieder kleine Videos oder Animationen laufen. Dazwischen, darunter, daneben strahlt es immer wieder in den unterschiedlichsten Farben ins Publikum. Das war schon alles extrem harmonisch. Ich glaube, so ein Konzert ist stark durchdacht. Es gibt keine Zufälle, keine Improvisation, alles soll genau so sein. Die Ekstase ist heraufbeschworen. Und so stürzte am Ende alles zusammen. Jónsi schmiss das Mikro um, Georg warf den Bass zur Seite, Kjartan holt alles aus der Gitarre raus, Ólafur bearbeitet mit vier Gliedmaßen acht unterschiedliche Teile des Schlagzeugs. Uff!

Was für eine extreme Form der Musik. Was für eine eigene Welt. Mir fällt nichts Vergleichbares ein. Das ist große Kunst, und noch viel mehr. Ein paar Stücke waren wohl neu. Die Hoffnung auf eine neue Platte ist also berechtigt. Sigur Rós lebt. Wie wunderbar. Vielen Dank für diese Erfahrungen!



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