Mittwoch, 23. November 2022

Björk - Fossora

Farbenfroh, fulminant. Foto: Vidar Logi
(Ms) Björks Kunst auch nur ansatzweise in Worte zu fassen, scheint für mich ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Aber dieses Album ist eine Wucht. Eine Erfahrung. Eine Körperliche. Es ist zu gut, zu ungewöhnlich, zu schön, um nicht darüber zu schreiben. Und genau aus diesem Grund habe ich Tage, Wochen gebraucht, um auch nur irgendwie diesen Text hier fertig zu stellen. Komplexität und pure Ästhetik sind hier eins, stehen sich nicht gegenüber, schließen sich nicht aus. Aber die Schönheit im Klang dieser Platte kam für meine Ohren erst mit der Zeit. 
Mit Björks Gesamtwerk kenne ich mich zu schlecht aus, um Fossora nun gebührend einordnen zu können. Das ist vielleicht auch gar nicht notwendig. Der Ausgangsgedanke für diese Platte war, dass sie das Gefühl, mit dem Fuß auf der Erde aufzutreten und seicht darin zu graben, in Sound zu transformieren. Allein das steht schon für sich, wie verrückt! Was für ein irrer Anspruch an sich selbst, das schaffen zu wollen. Welche Ideen kommen dann? Welche Instrumente will sie heranziehen? Wie soll das klingen? Welche Gefühle sollen heraufbeschworen werden? Welche Bilder ploppen auf? Das ist ein beeindruckender Weg, um sich Musik zu erschließen.

Für die Verbindung zwischen Mensch und Boden hat sich Björk ein Vehikel herangezogen: den Pilz. Er macht sich im Artwork und auch in mindestens einem Video bemerkbar. Ein kluges Bild: Pilze sind ungeheuer schlaue Lebewesen, sie kommunizieren miteinander, verbreiten sich geschickt, einige leuchten sogar im Dunklen. Irre. Nicht ganz verwunderlich, dass Björk sich deren metaphorische und natürliche Kraft bedient. 
Nun, wie soll man sich also Fossora nähern? Geduldig, würde ich sagen. Unter keinen Umständen sollte man sich abschrecken lassen. Neugier ist gefragt. Auch gilt es, gewisse Dinge auszuhalten. Klar, für alle Björk-Hardcorefans ist das nichts Neues. Sie wissen, dass sich die Isländerin immer wieder neu erfindet. Nur sind halt nicht alle Teil dieser ausgebufften Gruppe.

Am einfachsten ist es, zu starten. Also: Go! Atopos ist der erste Track und direkt die erste große Herausforderung. Klar, Björk zeigt ohne Umschweife, was für ein irre Gesangskünstlerin sie ist. Wo überall gebrochen wird, wie unwichtig ein klarer, harmonischer Aufbau von Text und Gesang ist… wobei… die innere Logik ergibt sich mit der Zeit, doch beim ersten Hören mag es ungewöhnlich klingen. Dazu diese Instrumentierung. Sie hat sich ein Klarinetten-Ensemble hinzugezogen und einen DJ für dieses Lied (und das gesamte Werk). Es fließen die warmen Bläserklänge mit heftigsten Bassdrums zusammen. Und: Es geht auf! Wenn auch mit einer irren Portion Wumms. Und dabei sind wir noch nicht mal beim Inhalt. Dieses etwas wirre Stück ist eine große Hommage ans Zusammenhalten. Das ist Kunst! Das ist eine Explosion!
Auch wenn der Klang dieser Platte etwas sperrig klingen mag, man muss ihm zwingend eine Chance geben. Dann ist die Belohnung groß und der Genuss obendrein.
Das Thema also: Auf dem Boden auftreten. Es muss also weich sein, vielleicht schreckt man kurz zurück, zieht den Fuß nochmal hoch, vielleicht steigt Kälte auf, vielleicht überdenkt man diese Entscheidung. Und dann lässt man sich sinken. Ovule. Dieses Lied erweckt in mir genau dieses Gefühl. Die Zweifel, die zuckenden Nerven und das sich-fallen-lassen.
Dieses Album hat viele Bestandteile. Nicht alle kann ich hier auflisten. Beispielsweise die kleinen Zwischenstücke, die aus Melodien, Schnipseln, Gefühl bestehen. Sie geben dem Album teils eine Pause, aber halten auch das inhaltliche wie auch klangliche Motiv aufrecht.
Schönheit. Ja, die glänzt auf dieser Platte an vielen Orten. Zum Beispiel auf Sorrowful Soil. Es ist beinahe ein a-capella-Stück, nur ein wenig Bass liegt unter den zahlreichen Stimmen. Das ist ein tolles chorisches Arrangement. Es strotzt vor Kraft und beinahe sakralem Glück. Gerne möchte ich mich in dieses Lied fallen lassen. Denn ich weiß, dass ich sanft und behutsam aufgefangen werde. Musik, du kraftvoller Zauber!
So. Und dann kommt Ancestress. Puh, ich musste es vier, fünf, sechs mal hören. Denn ein, zwei, drei Mal war ich nur verwirrt, ja, abgeschreckt. Wollte es irgendwie ausblenden, sah mich überfordert. Hier wiederhole ich mich gern: Dieser Platte gilt es, Zeit zu geben. Sieben Minuten und achtzehn Sekunden erstreckt sich hier ein wahres Wunder. Erneut gibt es unzählige Brüche. Immer wieder, unaufhörlich. Die Melodien und Rhythmen wechseln sich immer wieder ab, das ist jedoch nicht das „Problem“. Viel mehr singt Björk hier derart zeilenbrüchig, dass es erst schwer auszuhalten ist. Doch der Glanz ist enorm. Viele Parts dies Liedes sind so ungeheuer schön, harmonisch, wundervoll, zart und klar. Sie kommen und vorhergesehen, passen fast nicht zusammen. Und dennoch ergeben sie ein enorm passgenauen Ganzes. Selten in letzter Zeit so komplexe, überraschend schöne Musik genossen!
Die Pilz-Bilder machen sich dann ganz praktisch auch auf Fungal City bemerkbar. Herrlich, die Klarinetten sind so leicht, so verspielt, sie tanzen durch das Lied, ganz selbstverständlich und unerschütterlich. Ein sanfter Beat dazu und viele Stimmen neben Björks machen daraus einen ersten Frühlingsspaziergang durch den Wald. Klar, auch hier passieren wieder zahlreiche Brüche, doch jeder Bruch auf diesem Album macht nichts kaputt. Erst mögen sie erschrecken, dann ergänzen sie. Kaum auszuhalten, wie schön das ist!

Klar, auf Fossora schlummern noch mehr Überraschungen. Noch mehr Dinge, die es zu entdecken gibt. Es ist enorm facettenreich. Der Klang überlagert für mich fast den gesamten Text. Pardon an dieser Stelle, dass ich dem nicht gerecht werde. Doch es gibt einige Bands und KünstlerInnen, bei denen mir die Musik als solche viel präsenter erwischt. Bei Björks aktuellem Album ist das massiv der Fall. Fossora ist ein Album, dass seinesgleichen sucht. Vom künstlerischen Anspruch, vom Soundgewandt, von der Vielschichtigkeit und von Belohungsseite aus. Denn das ist die Belohnung: Eines der schönsten, irrsten, verrücktesten, tollsten Platten, die dieses Jahr zu bieten hat!


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