Mittwoch, 6. April 2022

Live: Kettcar in Leer

Foto: luserlounge
(ms) Ein Abend voller Premieren. Ein Abend an einem wirklich schönen Ort. Ein Abend, auf den viele Menschen sehr lange gewartet haben.
Doch alles der Reihe nach.
Am Dienstagabend haben Kettcar in Leer gespielt. Die einzig richtige Frage, die sich dabei stellt, ist: Warum um alles in der Welt spielen sie das erste Konzert nach zweijähriger Pause ausgerechnet dort, am nordwestlichen Randgebiet der Republik? Gerade mal 35.000 Menschen wohnen dort. Auch geographisch ist es nicht zwingend der nahe liegendste Ort, an dem eine Band wie Kettcar spielt. Kommende Woche sind sie in Hamburg, Berlin und Köln. Klar, Leer hat wirklich eine sehr schöne, besuchenswerte Altstadt, aber das war es dann auch. Der Grund: Das Subventionsprogramm Neustart Kultur des Bundes sorgt dafür, dass MusikerInnen oder Veranstaltungsorte pandemiebedingt nicht hängen gelassen werden. Davon profitiert eine Hamburger Rockband und ein super schönes ostfriesisches Veranstaltungsgebäude, das Zollhaus. Herrlicher Backsteinbau, tolle Holzdielen unten und oben. Sicher haben Kettcar länger nicht auf so einer kleinen Bühne gestanden. Aber egal. Eine gewisse Aufregung und Nervosität war auch den alten Hasen anzumerken.
Überwogen hat jedoch stets die irre Freude an der Kurzweil eines solchen Abends. Am allerbesten an Reimer zu beobachten. Ja, es lohnt sich auf jeden Fall mal einen ganzen Kettcar-Abend lang den irren Sympathieträger am Bass zu beobachten. Mimik, Gestik, Körpersprache, das ganze Programm. Reimer ist komplett drin, es ist ihm wunderbar anzusehen, wie sehr er das lebt.
Darauf hat nicht nur das Leerer Publikum lange gewartet, auch ich. Für die ursprünglich Anfang Januar geplanten Konzerte hatte ich Karten für Hamburg und Köln. Nun halt Leer, war sowieso näher. Endlich wieder Kettcar, endlich wieder Herzensband Nummer eins. Es war das dreißigste Mal, dass ich sie live sah und ich bin immer noch emotional komplett ummantelt, wenn Reimer, Christian, Marcus, Lars und Erik die Bühne betreten. So nah gehen mir ihre Texte, so sehr sind ihre Lieder Bestandteil von mir selbst.

Also rein ins Zollhaus, Jever geordert und etwas gewundert, wie luftig es noch ist. Ins Zollhaus sollen ca tausend Leute passen, zur Hälfte sollte es auf jeden Fall gefüllt sein. Vor den Hamburgern hat Eleanor B Rigby einige Lieder auf ihrer Ukulele gespielt. Sie hatte eine unsagbar tolle Stimme und hat es klasse gemacht. Leider war der Rahmen nicht der richtige, sodass ihr Können gar nicht so stark zur Geltung kommen konnte. Außerdem störte dabei enorm ein recht falsch mitklatschender Typ vor der Bühne, von dem Marcus später auch dezent genervt war ("Danach hältst du aber deine Schnauze" klang es später von der Bühne).
Wechsel auf der Bühne, neues Getränk in der Hand, Money Left To Burn und der Auftakt zu einem wundervollen Abend. Lars voller Energie und Bock, Erik tief im Gitarrenspiel versunken, Marcus mit Pokerface, Reimer mit Elan ohne Ende und Christian mit hanseatischer Freude. Zu den Liedern muss ich hier nichts schreiben, das habe ich zahlreich getan. So kommt es auf die besonderen Momente des Abends an. Kettcar haben einen strikten Dresscode: Jeans und schwarzes Oberteil. Erik brach diesen heiligen Schwur, indem er ein Iuventa-Soli-Trikot von Borussia Leer trug. Und es gab noch mehr Premieren. Wenn man eine Band neunundzwanzig Mal gesehen hat, sind das rare Momente. Der Dienstag war üppig damit gefüllt. Zum ersten Mal spielten sie Notiz An Mich Selbst von der Wir Vs Ich-EP. Die Wucht kam nicht nur über den enormen Text, sondern auch über Eriks satte, beige Gitarre, die ziemlich reingehauen hat! Und dann spielten sie noch zwei Lieder, die ich so nienienie hätte kommen sehen. Erst spielten sie in guter alter Ska-Punk-Manier Hamburg, 8 Grad, Regen von Rantanplan. Aus der Zeit also, als Reimer und Marcus noch Bestandteil der Band waren. Long time ago... Pogo, Unglaube, astreine Stimmung, nicht nur vor der Bühne. Wenig später nur hagelte es Vorfreudeschreie als Marcus ankündigte, dass sie nun Tomte covern würden. What?! Dinge, die ich nie für möglich gehalten habe. Und dann noch Die Schönheit Der Chance. Krasser geht es ja gar nicht mehr. Da blieben keine Augen trocken und keine Wünsche offen. Oh, doch, das nächste Mal bitte wieder Mein Skateboard Kriegt Mein Zahnarzt am Ende.

Was für ein Abend.
Was für ein Ende einer viel zu langen Indoor-Konzerte-Durststrecke.
Was für eine irre Freude.
Was für eine wunderschöne Verbundenheit mit dieser Musik.
Was für ein Unglaube, als wir danach feststellten, dass wir sie ja Anfang Juli erneut sehen. Vorfreude: an!

PS: Ob es sinnig ist, momentan Konzerte zu spielen, wurde selbstredend recht früh am Abend von Reimer thematisiert. Corona und Krieg. Alles scheiße. Aber ja. Kultur, Musik kann es schaffen, für einen kurzweiligen Abend die große Pausetaste zu drücken. Das muss erlaubt sein, muss machbar sein. Schneckenhausproblematik. In dem Bewusstsein den Abend genießen, gerne auch mit ein paar Bieren darf kein moralisches Problem sein. Selbstredend liest man ja am nächsten Tag wieder die neusten Schreckensnachrichten.

PPS: Ob wir zu diesem Konzert gehen können, stand etwas auf der Kippe. Trotz maximalem Impfschutz war ich bis Tags zuvor ein zweites Mal in Quarantäne. Es ist ein widerliches Virus. Seit dem Wochenende waren die Tests negativ und ich sah kein Problem darin, hinzugehen. Nur kämpfe ich immer noch mit Begleiterscheinungen. Die Lunge ist schlapp, für den Kreislauf so eine Aktion fast ein Höllenritt. Aber ich lasse es mir bei aller Umsicht und Achtung auf mich selbst nicht nehmen, vorsichtig anwesend zu sein. Es war anstrengend, mitsingen nur phasenweise möglich, aber lohnenswert.

PPPS: Es gelten ja keinerlei Regeln mehr für den Einlass. Eine freiwillige Handhabung von 2G oder 2G+ mit tagesaktuellem Test fände ich dennoch sehr sinnig. Ich habe jetzt zwei Mal erfahren müssen, wie dreckig dieses Virus ist und wie stark es dem Körper schaden kann. Ich wünsche mir, dass viele Clubs das zum Schutz ihres Publikums und der KünstlerInnen so handhaben.


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