Foto: Marco Lanza |
Erst seit Kurzem finde ich einen Zugang zu experimenteller Musik aus den 70er und 80er Jahren. Musik, die prägend aber wenig erfolgreich war. Manch einer mag es als Krautrock beschreiben, ich finde 'experimentelle Musik' wesentlich passender, da ersteres sowohl eine Fremdbezeichnung ist als auch oft wenig rockig ist.
Zu Michael Rother also. Er ist einer der prägendsten Figuren aus dieser Zeit und immer noch aktiv mit Anfang siebzig. Fragt man Menschen aus dem Britpop oder Techno, worauf sie sich beruhen, wird sicher regelmäßig sein Name fallen. Unermüdlich kreativ, voller Ideen, ohne Angst vor Neuem und mit viel Neugier ausgestattet.
Mit dieser Haltung veröffentlicht er mit seiner Lebensgefährtin Vittoria Maccabruni nun das Album As Long As The Light, das am 21. Januar auf Grönland Records erscheint. Es ist eine Reise im doppelten Sinne. Die eine ist klanglich. Die andere geographisch. Seit Jahrzehnten wohnt Rother abgelegen an der Weser im Niemandsland. Für diese Platte hat er sich aufgemacht nach Pisa, Neuland entdecken. Maccabruni hat ihm in den letzten Jahren Schnipsel, Soundideen, Mosaike geschickt, zusammen haben sie etwas Rundes draus gemacht. Die Italienerin tauchte bis dato als Musikerin gar nicht auf. Toll, dass sie diese Seite nun so ausleben kann!
Acht Stücke sind auf dem Album zu finden. Es knackt und knarzt. Es klingt dennoch im besten Sinne glatt und dennoch irgendwie gewollt unperfekt, genau wie der legendäre Conny Plack es wohl auch gemacht hätte. 44 Minuten nehmen die beiden die Hörenden mit. Elektronische Morsesignale eröffnen die Platte auf Edgy Smiles. Langsam setzt ein Beat ein. Im Hintergrund eine verzerrte Gitarre, im Vordergrund ein dichtes Synthiearrangement. Hier lohnt das Hören über Kopfhörer, da es besser wirkt! Nach zweieinhalb Minuten: die Gitarre voll im Fokus, um sanft wieder abgelöst zu werden. Hier geht alles Hand in Hand, sehr fein abgestimmt. Faszinierend bei diesem Klang: Er kann vielfältig wirken. Sowohl als berauschender Trip, als auch vollkommen beruhigend. Wenn das beabsichtigt ist, geht es voll auf, wenn nicht, entfacht sich erneut der Zauber der Musik.
Ich komme nicht umhin, zu beobachten, dass bei EXP 1 direkt der Kopf anfängt zu nicken. Ganz automatisch bin ich drin in dieser Klangwelt und lasse mich gerne mitreißen! Dieses Mal ist der Rhythmus noch klarer zu greifen, der die Synthies und die Gitarrenwände trägt. Automatisch mache ich die Musik lauter. Auf You Look At Me kommt eine weitere Komponente hinzu: Vittoria Maccabruni singt! Schön verzerrt, wabert ihre Stimmt mit dem tollen, einfachen Text direkt durchs Ohr in den Körper. Eine Musik, die in dem diffusen Raum zwischen wach und schlafend einschlägt. Es ist sicherlich nicht leicht, genau solche Stimmungen zu erzeugen, umso größer ist meine Begeisterung!
Ob sie diese Platte je live aufführen, ist unklar. Insbesondere Rother steht nicht mehr allzu oft auf den Bühnen. Wenn sie es täten, ginge ich selbstredend sofort hin und hätte ein wenig Furcht vor Curfewed, einem Track, wo die Gitarre erstmalig bedrohlich klingt und der Bass, der dahinter lauert, könnte live nochmal um einiges stärker knallen! Selbst die Percussion werden richtig wild und sorgen für viel Unruhe, die phantastisch wirkt! Dieses Album ist sehr abwechslungsreich!
Ein wichtiges Element aus der experimentellen Zeit der 70er und 80er war die Wiederholung, sie wirkt psychedelisch. Und tut es heute auch. See Through ist der Beweis, dass das auch 2022 aufgehen kann. Langsam zieht der Sog und ich lasse mich gern einbinden und mitziehen. Der stärker werdende Beat steuert sein übrigens dazu bei! Mit welchen Programmen und Instrumenten sie diese Platte aufgenommen haben, weiß ich nicht, interessiert mich auch nicht, da ich keine Ahnung davon habe. Dass sie es jedoch schaffen, ganz warme Vibraphon-Klänge zur Entfaltung zu bringen wie auf Forget This, ist schlicht wunderschön! Ja, Effekte von Musik! Es hört nicht auf, mich zu faszinieren! Codrive Me klingt in meinen Ohren über viele, viele Takte nach einem langsam ertrinkenden Menschen. Klar, das ist furchtbar und einschnürend, aber auch irgendwie genial, dass Sounds so etwas entstehen lassen können! Zum Ende auf Happy (Slow Burner) ist sogar ein wirklicher Schlagzeug-Beat zu hören. Es ist beeindruckend: Jeder einzelne Track bietet eine neue Komponente. Es wird nie langweilig! Was für eine große Kunst!
Musik und Alter haben wirklich nichts miteinander zu tun. Ob nun zwei (aus meiner Sicht) ältere Menschen ein phantastisches Album aufnehmen oder welche Musik die Leute meines Alters hören... darauf kommt es nicht an. Es geht doch ausschließlich um die Bereitschaft, eintauchen zu können und wollen. Tut man genau dies, wird man reich belohnt. Mit diesem Album!
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Wenn du auf meinem Blog kommentierst, werden die von dir eingegebenen Formulardaten (und unter Umständen auch weitere personenbezogene Daten, wie z. B. deine IP-Adresse) an Google-Server übermittelt. Mehr Infos dazu findest du in meiner Datenschutzerklärung (siehe Blog-Startseite unten) und in der Datenschutzerklärung von Google.