Freitag, 9. Oktober 2020

KW 41, 2020: Die luserlounge selektiert

Bild: astronlogia.com
(ms/sb) Die Überraschungen und Kleinigkeiten des Alltags: Das klingt halt ganz furchtbar nach einer Kreuzung aus Kalenderspruch und Paolo Coelho. Wenn es nicht sogar das gleiche ist.
Doch die Geschichten und ganz kleinen Momente zwischendurch sind halt wirklich das, was einen mal ein wenig abschalten lässt.
Es ereignete sich am heutigen Morgen in der Bahn. Man ist da ja immer ein wenig degeneriert. Viele hören Musik, ich lese meist. Wenn sich da wer unterhält, drehe ich durch. Ich werde regelrecht aggressiv!
Doch was mich zum Schmunzeln bringt, sind originelle Ansagen des Personals. Und solch eine war heute morgen zu vernehmen: Da sagte der Schaffner (sagt man das noch?) auf platt (!) die Streckt mit Fahrtziel Bremen an. Wie toll ist das denn bitte? Dazu kam eine feine Stimmlage, sodass das auch gar nicht nervig klag. Dann folgt noch ein super schöner, wenn auch leicht trauriger Nachsatz: "Wenn wir in den Kalender schauen, stellen wir fest, dass John Lennon heute Geburtstag hätte. Doch der wurde ja vor vielen Jahren erschossen. Nun gut. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Fahrt." Der Bildungsauftrag im öffentlichen Nahverkehr! Ich bin Fan!

Wir verfolgen auch einen. Im Musikgeschäft. Es ist Freitag. Wir haben Selektiert und tischen auf!

Austin Lucas
(sb) Man hat es in Zeiten wie diesen nicht leicht und Austin Lucas schon gar nicht. Der Amerikaner sitzt aufgrund der Corona-Pandemie mehr oder weniger unfreiwillig in Europa fest, Freunde und Familie sind auf der anderen Seite des großen Teiches. Immerhin wurde die Zeit sinnvoll genutzt und mir Alive In The Hot Zone (VÖ: 30.10.) ein hochpolitisches Album aufgenommen, das sowohl amerikanische als auch globale Entwicklungen kritisch hinterfragt und mit großer Sorge betrachtet. Musikalisch gesehen ist die Scheibe erstaunlich heterogen aufgebaut: Nach drei Tracks in bester Manier á la Nathan Gray oder Chuck Ragan folgen drei Songs, die genau so (also stimmlich und auch vom Pathos her) von Morrissey stammen könnten. Insbesondere bei American Pyre musste ich mich mehrmals vergewissern, dass da wirklich nicht der Mozzer zu hören ist. Danach gehts wieder im punkig bzw. rockig angehauchten Songwriter-Stil weiter, was Austin Lucas alles in allem auch besser steht bzw. seine Intention auch glaubhafter transportiert. 


EF
(ms) Schweden, Sehnsuchtsland der Deutschen. Was hast du uns nicht alles für helle, wundervolle Momente gebracht mit Astrid Lindgren, Mando Diao oder ABBA? Wir sind dir kollektiv dankbar dafür! Doch ebenso dankbar sind wir für die lauten, wuchtigen, düsteren Töne, die du verlässlich von dir gibst. Ein wirklich beeindruckendes Stück Musik kam vor zehn Jahren aus dem Norden. Man könnte munkeln, dass dunkle Wälder die Heimstätte von EF sein könnten? Ja, könnte man. Oder halt nur ein enorm gutes Gespür, wie satte, mitreißende Melodien samt Erdbeben zu großem Genuss führen können! Das Quintett liefert seit 2003 extrem verlässlich ab und hat mit Mourning Golden Morning 2010 ein wirklich packendes, energiegeladenes Album veröffentlicht. Lange habe ich nicht verstanden, was Post-Rock überhaupt bedeuten soll. Mit so einer Platte ist dieses Genre perfekt beschrieben. Darunter machen wir es nicht. Ein Glück, dass das kleine, sehr geschmackssichere Label Kapitän Platte die Veröffentlichung dieses Albums übernommen hat. Und es jetzt zum Geburtstag nochmal ans Tageslicht bringt. Denn: Lange, lange vergriffen! Am 16. Oktober erscheint das Werk auf goldenem Vinyl mit noch nie gehörtem Bonus-Material! Also, ab! Die guten Läden und die besonderen Bands unterstützen!


Pascal Finkenauer
(ms) Die Fähigkeit, sich überraschen zu lassen, ist wichtig. Man muss staunen können. Wer abstumpft, verreckt irgendwann ganz klein und traurig. Es ist nicht schlecht, jedes Mal auf neue Allem eine Chance zu geben. Bei den guten Sachen, dem Schönen. Auch bei Musik. Wobei es hier nicht danach klingen soll, jemandem eine zweite Chance zu geben. Keineswegs. Sondern sich von Unerwartetem überraschen und überzeugen zu lassen. Und da ist Pascal Finkenauer genau der richtige Typ für. Nicht nur seine Solo-Platten sind große Klasse, auch die Kooperation mit Fettes Brot oder seine feinen Gedichte! Bevor kommendes Jahr (endlich!) ein neues Album von ihm erscheinen wird, überrascht uns der Hamburger mit einer Veröffentlichung! Wer sein leises Treiben bei Facebook verfolgt, merkt, dass er immer wieder Songideen, Schnipsel, Fertiges mit der Welt teilt. Vergangenen Montag hat er jedoch einfach ein Album veröffentlicht, das er Signals nennt. Das Englisch passt wenig zu ihm, der die deutsche Sprache in Lied- und Versform so gut beherrscht. Und das wiederum passt mit diesen Tönen. Denn es gibt darauf keinen Gesang, nur Instrumentales. Sehr andächtig ist Signals geworden. Es oszilliert zwischen Meditation, Melancholie und Düsterem. Welche Sorgen, Gedanken und Impressionen da wohl für verantwortlich sind? Man wird es nie erfahren. Man kann es nur erhöhren und sich seine eigenen Gedanken machen. Bei Bandcamp gibt es das Album zu kaufen. Haben wir selbstredend gemacht und empfehlen es eindringlich!


Matterhorn
(ms) Wie wählen wir die Musik aus, über die wir hier berichten? Das ist oft sehr schwer zusammen zu fassen. Manchmal sind es einzelne Promoter, denen man vertrauen kann, dass da immer was Gutes kommt. Alte Bekannte haben hier auch einen festen Platz. Und dann stöbert man so rum. Dann wird selektiert. Dann landet man bei einer Band aus Trondheim, über die hierzulande leider wahrscheinlich kaum berichtet wird. Sie nennen sich Matterhorn und machen Musik. Das ist klar. Aber es ist ganz schwer in Worte zu fassen, was für Musik sie machen. Es sind zu hören: Gitarren, Stimme, Trompete, Schlagzeug, eigentlich das ganz normale Programm. Doch Tempo, Melodien, Rhythmus und Ideen werden dabei so geschickt und außergewöhnlich kombiniert, dass ein Mix aus großen Queen-mäßigen Melodien gepaart mit einem Sound à la Calexico und einer breiten, dramatischen Harmonie, die aus der Feder von Konstantin Gropper kommen könnte, daraus entsteht. Das ist wirklich schön. Es ist gewissermaßen beflügelnd. Und auf extreme Weise cineastisch. Am 6. November wird ihr Album Outside erscheinen. Es lohnt sich sehr, sich darauf einzulassen. Eine vergleichbare Band aus unseren Breitengraden fällt mir beim besten Willen nicht ein. Also! Mutig sein und zuschlagen!


Shelter Boy
(sb) Ich war in meinem Leben bisher ca. 30 mal in England. Hauptsächlich zum Fußball schauen, hin und wieder auch für Konzerte, manchmal für beides und oft begleitet mit Bier. Man nimmt halt mit, was man kann. Will sagen: So a bisserl britische Kultur habe ich durchaus schon aufgesaugt. Und dann kommt da Calm Me Down von Shelter Boy daher und ich denk mir beim Anhören: Hm, nice, klingt richtig geil und typisch britisch. Klar, der Dialekt passt nicht, aber den Bengel stelle ich mir in grauen Jogginghosen vor, wie er so durch Birmingham streift und nix mit sich anzufangen weiß.
So kann man sich täuschen, denn de facto ist das Musik aus deutschen Landen und Simon Graupner (so der bürgerliche Name des Künstlers) gelingt mit seiner Single der anspruchsvolle Spagat zwischen Unbeschwertheit und Melancholie, Ernsthaftigkeit und aufreizender Lässigkeit. Natürlich hab ich mir direkt auch ein paar ältere Tracks des Dresdners angehört, an Calm Me Down (VÖ: heute) reicht aber leider keiner ran. Die Richtung stimmt also, wenn man so will...


Charly Hübner & Ensemble Resonanz
(ms) Eigentlich weiß ich über das, was hier jetzt zu lesen ist, kaum etwas. Aber die Kombination von Namen, Ideen und Tönen ließ mich mehr als aufhorchen. Im wahrsten Sinne. Denn im guten, alten Radio kam eine tolle, kurze Nachricht. Es geht um Charly Hübner, Nick Cave und Franz Schubert. Und das natürlich im Deutschlandfunk Kultur - wo sonst?! Charly Hübner ist einer der geilsten Schauspieler, Personen, Ideenfinder hierzulande. Das kann man genau mit dem Adjektiv so stehen lassen. Ob die Doku über Monchi oder sein schauspielerisches Talent. Er ist wandelbar und ganz nah, menschlich. Nun hat er mit dem Hamburger Ensemble Resonanz die Winterreise von Franz Schubert eingespielt. Das gibt es auf Platte nun zu erstehen. Die klassischen Lieder und Texte von Schubert werden auf dem Album mit Liedern von Nick Cave kombiniert. Es klingt morbide, düster, aber auch wundersame Art einfühlsam und, ja, genüsslich schön! Hier wartet ein weiteres, phantastisches Angebot, um mal wieder über den Tellerrand zu hören!
Ganz wichtig! Ganz, ganz wichtig: Das hier ist nicht das verkappte Musikprojekt eines Schauspielers. Hier beweist ein Profi, wie gut er mit seiner Stimme umgehen kann. Was in ihm steckt. Worauf er Bock hat. Das muss nicht gefallen. Das muss nicht die bestuhlten Hallen der Ü50er à la Prahl und Liefers füllen. Sondern Hinhörer und Genießer packen! Also! Los!

 

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