Donnerstag, 29. Oktober 2020

Jon Flemming Olsen - Mann auf dem Seil

Foto: Anne de Wolff

 (ms) Leicht sein. Was ist das nur für eine wundervoll-romantische Vorstellung? Sorgenlos! Der Hans-Guck-In-Die-Luft. Der Taugenichts. Müßiggang ohne Ende, keinen Gedanken an ein Morgen verschwenden, einfach mal schauen, was kommt und sich drauf einlassen. Kein Krampf, kein Stress, kein Schmerz. Ja, das zu versuchen ist schon schwer, eine komplette Umsetzung im Alltag... nein, sie ist nicht unmöglich, es ist nur eine Frage der Zeit. Wie lange hält die Leichtigkeit, wie lange kann ich sie genießen, ehe das Eis bricht und man sich zwischen Rechnungen, Anrufen von der Versicherung, Ärger mit den Vermietern, verlorenen Nerven auf der Arbeit und all dem anderen Schrott hingeben muss. Das tut dann immer weh, wenn man aus einer Phase der Leichtigkeit kommt. Doch ein Weg an der Realität führt halt nicht vorbei. Das muss man ausbalancieren. Und genau darum geht es in dem neuen Album von Jon Flemming Olsen. Es heißt passenderweise Mann Auf Dem Seil.
Varieté finde ich wirklich spannend, eindrucksvoll, faszinierend. Wenn diese Artisten Unmögliches verbringen und es so unbeschwert ausschaut. Im Kleinen machen wir das auch tagtäglich, nur schaut uns dabei keiner zu - hoffentlich.

13 Lieder präsentiert uns der Wahl-Hamburger, der seit jeher ein musikalischer Narr im besten Sinne ist. Spielt und spielt und spielt Gitarre. Voller Leidenschaft, ja, Bestimmung. Wenn man ihn mal live gesehen hat, weiß man auch, dass er ein absoluter Nerd ist. Auf Tour schleppt er zig verschiedene, teils seltene Modelle mit sich herum, kann zu jedem einzelnen Saiteninstrument mindestens einen Roman erzählen und sie halt auch noch sehr gut bedienen. Mann Auf Dem Seil ist sein drittes Solo-Album. Obwohl das nicht ganz stimmt. Klar, es steht sein Name drauf, die Texte und Arrangements sind auch von ihm, doch es gibt einen hörbaren Unterschied. Der hat sich über viele Gigs aufgebaut. Denn Olsen ist den anderen Weg gegangen. Nicht vom Studio auf die Bühne, sondern von der Bühne ins Studio und zurück. Ein Jahr lang hat er live diese neuen Leider ausprobiert, umgespielt, auseinandergebastelt und wieder zusammengesetzt. Dann hat er sich das Ensemble Konsonanz aus Bremen geschnappt und die Platte live im Schmidt Theater, Hamburg, eingespielt.

Das Ergebnis ist eine äußerst vielschichtige Platte, dessen Genre ich gar nicht so recht zuzuordnen weiß. Es ist Gitarrenpop, Folk, Country. Aber auch so etwas wie Volksmusik - und das bitte hier nicht falsch verstehen, denn den Begriff Schlager wollen wir tunlichst vermeiden. Was ich sagen will: Jon Flemming Olsens Musik läuft nicht zwingend bei ByteFM oder fm4. Vielleicht eher auf NDR1. Und das ist keine Wertung, sondern eine Einordnung. Denn die Platte ist sehr rund, bringt den Hörer an einigen Stellen zum vergnügten Schmunzeln, kann sowohl freudig als auch melancholisch stimmen.

Traurig beginnt diese Platte. Wenn Du Wiederkommst bleibt ein Konjunktiv. Jemand, der nicht mehr da ist, aber sehr vermisst wird, zieht den Alltag ins Graue. Alles ohne Belang, solange das Gegenüber fehlt. Wer dies genau ist, lässt Olsen uns offen. Und das ist schön. So kann man sich seine eigene Geschichte spinnen. Doch dieser trübe, aber sehr schöne Starter wird sofort vom leichtfüßigen Es Wird Etwas Geschehen abgelöst, und die häufig recht heitere Stimmung des Albums erhält Einzug. Mit einem sehr großen, schön-saloppen Augenzwinkern ertönt In Zwanzig Jahren. Ich habe keine Kinder, kann es nur aus der Ferne beurteilen. Aber dass es mitunter zwanzig Jahre dauert, bis man auch wieder Ruhe vom geliebten Nachwuchs hat, kann gut sein. Nicht alles so ernst nehmen, das ist hier der Rat. Und er ist gut, humorvoll. Ob auf diesem oder auf einem der anderen Stücke: Das Engagement der Streicher hat sich äußerst gelohnt. Sie geben den unterschiedlichen Atmosphären noch mehr Intensität als wenn die Lieder nur mit Gitarre dargeboten wären. Wie Macht Sie Das ist ein kurzweiliger Wohlfühl- aber auch Liebessong. Ja, Jon Flemming Olsen ist ein hoffnungsloser Romantiker, das kann man wohl behaupten. Und mit dem gleichen Herz erklingt Unerreichlich Schön. Definitiv stimmungsvoll, musikalisch und textlich das absolute Herzstück der Platte. Zum Einen ist es pure Ästhetik, die einen staunen, verlieben lässt. Aber es muss nicht nur das Äußere sein, auch die innere Schönheit kann so fulminant sein, dass man dazu ein tolles neues Wort erfindet.

Mann Auf Dem Seil ist ein schönes, kurzweiliges Album, das auch kritische Textstellen aufweist, im Großen und Ganzen aber zwischen Melancholie und Romantik pendelt. Herrlich. Klein und Groß in Einem! Wie macht er das?!

Ob sein Konzert morgen in Bremen stattfindet, ist mehr als ungewiss (Stand Donnerstagabend ist es nicht abgesagt). Kommendes Jahr gibt es in Hamburg Nachschlag. Empfehlung des Hauses!

30.10.20 Bremen, Bürgerhaus Weserterrassen (19.30 Uhr + 21.15 Uhr)
09.04.21 Hamburg, Lola Kulturzentrum


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