Freitag, 4. September 2020

KW 36, 2020: Die luserlounge selektiert

Bild: dafont.com/
(sb/ms) Als Musikhörer reflektiere ich mich kaum in Bezug auf die Qualität der Texte im Vergleich zu ähnlichen Lyrics eines gänzlich anderen Schlagers. Meist läuft irgendwas mit Gitarre oder Beat oder Klavier. Ja, diese Elemente gibt es auch im fiesesten Schlager, doch ihr wisst, was ich meine. Und da geht es ja schon los. Man unterscheidet das ganz arg voneinander, obwohl sich Alternative/Indie/Wieauchimmer oft vom schlimmsten Schlager gar nicht so sehr unterscheidet. Es werden die gleichen Instrumente bedient, oft sogar - wie gesagt - vergleichbare Texte geschrieben mit einer ähnlichen Aussage. Und trotzdem ist Schlager halt eine körperliche Qual. Wenn man sich mal wirklich, dezidiert, ruhig, unvoreingenommen ältere (oder auch aktuelle) Texte von Niels Frevert, Kettcar, Tomte undundund anschaut, könnte der gleiche Text halt auch abends in einer gruseligen Playbackversion überbelichtet in der ARD zu hören sein; in einer Show, die Florian Silbereisen moderiert. Natürlich, das wollen wir nicht.
Die Frage ist ja halt: Warum beharren wir dann so sehr auf unserer bornierten Position? Ach, liebe Leser. Liebe Leserin. Ich weiß es auch nicht. Ich bin Fan. Besessener. Passionierter. Ich bin dem ganzen ergeben. So schaut es aus. Der Rest darf auch mal vollkommen egal sein!

Hier ist der Freitag. Hier ist die luserlounge. Wir haben selektiert. Und finden es geil. Abfahrt!

Urlaub in Polen
(ms) Mit der Bahn fahre ich gern. Also das ist kein Scherz. Ich fahre wirklich enorm gerne mit der Bahn. Man kann lesen, dösen, Musik hören, gegebenenfalls auch Bier trinken ohne lenken zu müssen. Das ist super. Daher bin ich es auch gewohnt zu warten. Entschleunigung ist ein dämlicher Brainfuck-Begriff. Das geht auch am Gleis. Warten gehört dazu.
Doch neun Jahre sind schon sehr viel. So viel hat die deutsche Bahn insgesamt nicht mal in einem Jahr an Verspätung angehäuft. Die Band mit dem sehr originellen Namen Urlaub In Polen hat es vollbracht, diese Zeit anzugeben. Nach neun Jahren erscheint ein neues Werk. Das ist irre lang. Man dachte schon beinahe, die Auflösung wäre wirklich das letzte Lebenszeichen. Doch Georg Brenner und Jan Philipp Janzen veröffentlichen am 6. November ihr neues Album All. Schön, dass es auf Englisch und auf Deutsch funktioniert. Zum Einen hat es etwas unumstößlich Großes, zum Anderen auch eine herrlich sphärische Ebene, die sich auch in der Musik wiederspiegelt. Mit dem Song Impulse Response bekommt man einen Eindruck davon. Vom Stil knüpfen sie an etwas wie Krautrock an: Der minimalistische Beat gepaart mit der ebenso runter gefahrenen aber markanten Gitarre, das kennt man aus den 70/80ern. Super! Das geht auf. Die verzerrte Stimme darüber passt ins Bild. Auf die Platte, die bei den guten Menschen von Tapete Records erscheinen wird, freuen wir uns sehr!


Lang Lang
(sb) Er ist der Popstar der Klassikszene und auch dem breiten Publikum dank Auftritten bei der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele oder der Verleihung des Friedensnobelpreises bekannt: Lang Lang ist nicht nur ein Meister am Klavier, sondern hat es auch geschafft, sich als Marke zu etablieren. Über allem steht jedoch das unfassbare Talent, das dem mittlerweile 38-jährigen Chinesen gegeben ist und das er durch jahrelange harte Arbeit zu etwas verfeinert hat, das seinesgleichen sucht. Ich höre ja beispielsweise auch sehr gerne Víkingur Ólafsson, aber Lang Lang klingt (selbst für mich als Laie) dann halt doch nochmal ein Stückchen perfekter - und natürlich spielt da auch seine Extrovertiertheit mit rein, die ihn einfach jederzeit unheimlich präsent wirken lässt. Auch das neue Album des Klaviervirtuosen, die Goldberg Variationen (VÖ: heute!), zeugt wieder von der technischen Brillanz des Chinesen und eröffnet in seiner Interpretation neue Dimensionen. Ganz besonders hörenswert im Deluxe Paket ist die Live-Aufnahme aus der Leipziger Thomaskirche - überragend!


Jónsi 
(ms) Wir sind Wiederholungstäter. Das geben wird immer wieder direkt oder indirekt zu. Auch unumwunden. Leidenschaftlich. Und wenn es etwas Neues von Jónsi gibt, dann flippe ich immer ein wenig aus. Ein Endzwanziger, der wie ein Kleinkind austickt, wenn der Weihnachtsbaum geschmückt ist. So ungefähr. Dass am 2. Oktober sein zweites Solo-Werk Shiver erscheinen wird, haben wir schon angekündigt. Doch es gibt erneut Gründe, um darauf hinzuweisen. In meinen Ohren ist Cannibal nicht der große, überragende Wurf, den man durchaus von jemandem wie Jónsi erwarten darf. Doch die stetige Unaufgeregtheit in dem Song ist auch ein schönes Qualitätsmerkmal. Weiterhin wird dabei nicht nur mit breiten Synthie-Flächen gearbeitet, sondern auch mit einem Gast: Elizabeth Fraser singt mit. Ihre Stimme ist nicht direkt zu hören. Man nimmt sie eher wahr. Die Schottin wurde mit den Cocteau Twins bekannt und ist auf den Soundtracks von Herr Der Ringe zu hören. Und ein weiteres Mal arbeitet Jónsi mit einem tollen Video. Dieses Mal ist alles in Weiß getaucht und sanfte, langsame, milde, zarte Bewegungen der Artistik untermalen die Stimmung des Liedes. Dieser Typ weiß wirklich, wie man verschiedene Kunstformen ganz harmonisch miteinander verbindet.


Long Tall Jefferson
(ms) Hey, wo genau ist jetzt eigentlich dieser Sommer geblieben? So ohne Festivals, den richtig feinen, großen Abenden gemeinsam draußen. Ständig musste man sich zügeln. Was auch alles korrekt ist. Doch es fehlt schon. Dann war es lange so richtig heiß. Dann kam die Schwüle. Und von heute auf morgen wurde es Herbst. Irgendwie seltsam.
Dabei kommt jetzt von Long Tall Jefferson durchaus eine Platte heraus, die ein entspanntes, sorgloses Sommergefühl verbreitet. Doch dieser herrliche Zustand wird immer wieder von Zweifeln garniert. Eine nie endende Sorglosigkeit wäre ja auch gewissermaßen gefährlich. Und diese beiden Pole bringt der Schweizer auf seine neuen Platte Cloud Folk, die am 20. November erscheinen wird, unter. Ruhige, gelassene Beats bilden das Gerüst und darauf wird ganz locker und zurück gelehnt eine Melodie entfacht. Die Texte drehen sich ums in-Gedanken-Schwelgen und auch wieder zu sich kommen. Denn Simon Borer, der Mensch hinter der Musik, befand sich nach zwei Alben in einer kleinen Krise und verlor seinen Sound. Doch - ein Glück! - hat er ihn wieder gefunden und er beschert und genau das Feeling, was so gut in die letzten Wochen gepasst hätte. Macht nichts. Holen wir nach! Und stimmen uns mit Young Love ein!


Zinn
(ms) Obsessive Liebe. Amour Fou. Pure Leidenschaft. Völlige Verrücktheit. Obsession, ja, Sucht. Immer mit dem indirekten Wunsch sich abzugrenzen, etwas besser zu machen (in jedem Fall den Eltern gegenüber). Die Revolution der Liebe. Aber auch auf die Nase fallen. Juse Ju (Claras Verhältnis) und Get Well Soon (Love) haben schon toll darüber getextet.
Diesem illustren kleinen Kreis gesellen sich jetzt drei Damen aus Österreich hinzu. Margarete Wagenhofer, Jasmin Strauss und Lilian Kaufmann sind Zinn. Sie sind zu dritt und spielen schrammelig-geilen, verzerrten Gitarrenrock mit Einflüssen aus Folk und Groove. Schön aufgedreht, schön mit Ahh-Ahhhh-Gesängen garniert. In ihrem Song Black Lake geht es auch um eine Liebe. Doch ist er der richtige? Gute Frage. Er ist immerhin der Teufel. Ein Teufel. Es ist nachzuhören auf diesem Track. Und der wiederum steckt auf dem Album, das in diesem November noch erscheinen wird.
Es ist irre, beinahe harmonisch, dass der grobe Klang zu dieser Art von Musikvideo passt. Lasst euch verzaubern von: Zinn!


Martin Kohlstedt
(ms) Es gibt diese Tage, die so aufgebaut sind, dass man abends nicht mehr kann. Liegen und irgendwie sich berieseln lassen. Das ist dann das höchste der Gefühle. Der Kopf voll. Der Körper schlurft so mit. Und man fragt sich - leicht lädiert und leicht verzweifelt - wie man aus dieser Trance wieder herauskommt. Eines lässt sich sagen: Sich berieseln lassen via Bingewatching geht vollkommen klar. Doch wenn man die Augen schließt und nur noch zu lauschen braucht, dann ist ein weiterer Sinn ausgeschaltet und man kommt noch ein Stückchen weiter runter. Ehrlich. Ich habe es diese Woche ausprobiert und es funktioniert grandios. Verantwortlich dafür sind neue Töne von Martin Kohlstedt! Ja, genau. Der Meister, der zwischen Techno und reduziertem Klavier changiert. Nun wieder an den analogen, sanften Tasten mit dem Lied PAN. Das ist ja das schöne an seinem Werk, die Lieder haben so tolle Namen. Hört rein. Lasst euch verzaubern. Mitnehmen. Ja, entführen. Lasst euch sanft ausschalten, etwas sedieren. Das Lied pendelt in seiner schönen Einfachheit zwischen dezenter Melancholie und immer wieder aufflimmernden Hoffnungsschimmern. Toll! Mehr davon gibt es am 21. November. Denn dann erscheint ein neues Album des Tastenmeisters aus Weimar (dort lebend wurde auch dieses Video gedreht!). Es heißt FLUR und wir bleiben sehr gerne am Ball, wenn man Tastenbeweggeräusche hört, wenn es so zart und klar zugeht!


Donots
(ms) Omma sagte früher immer: "Es gibt nichts, das es nicht gibt." Das stimmt in jedem Fall in ganz vielen Sphären des Lebens. Doch Ommas Weisheit stößt im Musikkosmos auf eine ungeahnte Begebenheit. Denn als Otto-Normal-Musikhörer denkt man ja: "Ein Live-Album der Donots... das gibt es doch sicherlich. Muss es! Die sind halt live eine Bank." Wahr, wer so denkt. Und doch so falsch. Seit einem Vierteljahrhundert gibt es die Donots aus Ibbenbüren. Letztes Jahr kam ihr Best-Of Silverhochzeit raus. Doch kein Live-Album bis dato! Zugegebenermaßen bin ich jetzt kein leidenschaftlicher Donots-Fan. Doch jemand, der sie liebend gern auf Festivals sieht (Deichbrand 2019, Krabbentanz im Ackerstaub) oder auch den Münster-Slam abfeiert! Und genau diese unglaublich dichte, persönliche, nahe und energiegeladene Atmosphäre kommt bald endlichendlichendlich auf Platte raus! Passend zum irren Weihachtsgeschäft der Musikindustrie (nur ein kleiner Seitenhieb an dieser Stelle) erscheint Birthday Slams Live! Aufgezeichnet zwischen Wiesbaden und (logischerweise) Ibbenbüren ballern die Donots dann endlich auch daheim live auf uns ein! Das wird ein Fest!

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