Donnerstag, 9. Juli 2020

Roger & Brian Eno - Luminous


(ms) Erstens: Synthetische Drogen sind mir vollkommen fern. Ich kann nicht verstehen, warum man seinem Körper derartige Substanzen zuführen will. Ja klar, meist geschieht es im Zuge einer ausgewachsenen Sucht und man kann nicht anders. Schlimm genug. Aber es gibt ja genug einigermaßen klar denkende Menschen, die sich insbesondere am Wochenende sowas wie LSD reinhauen. Sich verlieren und Farben sehen können - man hört die wildesten Dinge. Doch warum sich dafür selbst schaden? Sich verlieren kann man auch anders, wenn es darum geht, Raum und Zeit nicht mehr in prägender Form wahrzunehmen. Ich behaupte, dass Musik das auch aus sich heraus schaffen kann. Dazu braucht es auch keinen Alkohol oder so. Der pure Klang vermag das zu schaffen. Oft hilft vielleicht noch ein berauschender Tanz, aber das ist optional. Musik, Ton, Rhythmus, Melodie. Sie haben eine unfassbare Kraft; sie können mich erheben und runter drücken, mich euphorisieren und beruhigen. Und dafür muss sie einfach nur erklingen. Gerne laut, sodass nichts anderes mehr den Moment beherrscht. Sich verlieren - mit einfachen Mitteln. Aber okay, abhängig kann das auch machen.

Zweitens. Was tun gegen Stress, Schwindel, innere Unruhe? Das ist verallgemeinernd natürlich kaum zu beantworten. Das kann man nur individuell entscheiden. Natürlich ist es am allerbesten, wenn es erst gar nicht so weit kommt, dass man akut etwas dagegen machen muss. Aber Hand aufs Herz... das betrifft auch nicht so viele Menschen. Für Meditation oder Yoga bin ich der falsche Mensch. Aber autogenes Training oder Qi Gong finde ich super. Da muss man nicht so viel machen und entrückt schnell der Wirklichkeit. Insbesondere wenn dort jemand mit einer wunderbaren, eindringlichen Stimme ist, der einen durch die Traumwelten leitet.

Drittens. Nun steht die Frage im Raum, wie man beides gut vernetzen kann. Meditative Zustände und sich verlieren. Die Antwort liegt auf der Hand. Oder bald bei Euch auf dem Plattenteller. Es ist die EP Luminous der Brüder Brian und Roger Eno. Allein mit diesen beiden Namen macht man natürlich ein riesengroßes Fass auf. Selbstredend eher mit Brian Eno, sein jüngerer Bruder stand nie soo sehr in der Öffentlichkeit. Mag halt auch daran liegen, dass Brian einer der wichtigsten und einflussreichsten Akteure der Musikwelt war/ist. Insbesondere in den 70er und 80er Jahren. Er veröffentlichte mit Dieter Moebius und Hans-Joachim Roedelius, produzierte U2, Ultravox, David Bowie oder Devo. Sicherlich hing er auch mal auf dem Bauernhof von Conny Plank rum. Ohne Brian Eno keine Ambient-Musik. Gut, dass Roger in einer ähnlichen Weise musizierte: breite Klangflächen, die mitunter cineastischen Charakter haben.

Viertens. Auf Luminous sind sieben Tracks erhalten. Sie klingen allesamt nach atmosphärischer Klaviermusik, völlig ohne Raum und Zeit. Tempo spielt hier überhaupt keine Rolle. Was stattdessen einzieht ist Ruhe und absolute Konzentration auf den Moment, den Ton. Manchmal ist es ein Akkord, der noch nachhallt. Mehr passiert nicht. Doch Obacht! Wer hier von Langeweile spricht, hat die Musik nicht verstanden. Natürlich, hier ist alles auf extreme Art entschleunigt, ohne damit eine pseudomoderne Lebensweise zu propagieren. Hier herrscht einzig und allein die pure Musik. Absolute Reinheit. Ja, selbst Rhythmus ist dem schon entkoppelt. Man könnte es Ambient nennen oder Neo-Klassik. Egal, welches Label hier aufploppt, so sind diese Lieder weit mehr als Musik. Sie sind auch eine Aufforderung. Zum Innehalten, durchatmen. Mal den ganzen Kram drumherum weg legen. Die Augen schließen. Durchatmen und sich auf das Gute und Schöne besinnen. Dass die Enos den Stücken Farbnamen gegeben haben, ist ein netter Nebeneffekt. Dass es über 1800 Einsendungen zu einem damit zusammenhängenden Videowettbewerb gab, auch schön. Doch ohne visuelle Reize, sind die Stücke noch reizvoller. Denn dann kann das Hirn arbeiten ohne eine Vorlage zu nutzen. Vielleicht verbinden sich ungeahnte Synapsen miteinander. Vielleicht drosselt es das Arbeitstempo. Ich behaupte, drinnen lässt es sich am besten genießen. Luminous wäre für draußen zu zart; auch für eine Bahn- oder Autofahrt. Da helfen die besten schallabsorbierenden Kopfhörer nicht. Die Klänge sind nicht zerbrechlich, aber so sanft, dass man sie sachte anfassen muss. 

Fünftens. Luminous ist nicht nur eine EP. Die Veröffentlichung schließt nahtlos an das gemeinsame Album aus dem März an: Mixing Colous. Es ist eine Fortsetzung, Ergänzung, weitere Kapitel, die das Buch fortschreiben. Begonnen hat der Prozess dazu 2005. Roger produzierte einzelne Sequenzen als MIDI-Sound und schickte sie seinem älteren Bruder. Der wiederum ergänzte das Material mit atmosphärischen Ebenen. Unvorstellbar, dass diese schüchterne Musik einen derart langen Schöpfungsprozess hinter sich hat. Meine Vermutung: Erst dadurch konnte sie ihre innewohnende Kraft entfalten. Als eigenständige Vinyl-EP erscheint Luminous erst am 14. August. Kommenden Freitag (17. Juli) erscheinen die Stücke schon digital mit dem vorangegangenen Album als Mixing Colours Expanded und am 23. Oktober als Doppel-CD. Eine etwas vertrackte Veröffentlichungspolitik; aber egal.

Vielleicht ist man aufgrund der aktuellen Situation verunsichert und/oder gestresst. Vielleicht auch ohne direkt von den Auswirkungen betroffen zu sein. Luminous hilft. Auf jeden Fall.


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