Mittwoch, 20. Mai 2020

Lesetipp: Roger Willemsen - Musik! Über ein Lebensgefühl

Quelle: rogerwillemsen.de, Foto: Jörg Steinmetz
(ms) Darin müssten wir uns alle einig sein: Mit Roger Willemsen ging die wichtigste, prägnanteste, humorvollste, versierteste intellektuelle Stimme dieser Breitengrade viel zu früh. Gerne wüsste ich, was er zu Bands sagt, die mit Der.../Die.../Das... anfangen. Gerne wüsste ich von ihm, wie sich der Jazz nun weiter entwickelt. Wo die Klassik heute steht. Wen er gern interviewen würde. Wen er liebend gern in Grund und Boden schreiben würde. Nie respektlos oder tölpelhaft, sondern mit analytischem Schneid und einem unmissverständlichen Lächeln im Auge.
Was von ihm bleibt sind seine herausragenden Texte. Seine Kunst die Sprache zu beherrschen und mit ihr vogelwild, aber handwerklich zu hantieren. All das können wir glücklicherweise für immer nachlesen. Oder seine Auftritte im Fernsehn anschauen. Oder seine Radiosendungen nachhören. Sie werden für immer da sein. Gleichzeitig existiert eine tiefe Anerkennung seines Könnens. Klar, er war Intellektueller ersten Grades, doch war nie hochnäsig, herabblickend. Willemsen war immer Aufmerksamer, Interessierter, Hinschauer, Hinhörer, Nachfrager.
Und, wie bereits angeführt, Analytiker. Für Musik. Sein großes Steckenpferd, das mir als Laie ihm gegenüber auch nicht als erstes aufgefallen ist. Doch war er kein Musikwissenschaftler, verstand das Musikhandwerk dennoch messerscharf und konnte es wiederum in Worte ummünzen. Die beeindruckenden Beweise, wie genau er das konnte, wie prägnant ohne um den heißen Brei herum zu schwadronieren - das läge ihm stets fern - ist seit einiger Zeit nachzulesen. Im Fischer-Verlag erschien eine Sammlung eines Großteils seiner musikalischen Texte. Eine große Menge von seinen Stationen im Radio, einige Beiträge für Zeitungen oder Liner Notes.
Den überwiegenden Teil aus dem Buch Musik! Über ein Lebensgefühl füllen Radiosendungen aus dem WDR und NDR. Da hat er - oft spät - seinen neugierigen Zuhörenden Jazzstücke zu bestimmen Schlagworten vorgestellt, sie in einen Kontext gebettet. Über verliebte Männer, Heimweh oder die Stimmung vor Tagesanbruch. Dazu hat er anscheinend aus einem unendlichen Fundus von Platten und CDs Stücke gefunden, die dazu wie angegossen passen. Durchstöbert man das Namensregister hinter den herrlichen 500 Seiten Text wird einem das erst richtig bewusst. Will sagen: Ich kenne mich mit Klassik und Jazz (Willemsens Steckenpferde) wirklich nicht aus, kenne nur Nuancen, und was einem dort präsentiert wird, ist lexikalischen Ausmaßes.
Seine große Liebe gegenüber Miles Davis oder John Coltrane kann er nicht verschweigen und das tut er auch nicht. Andere Größen wie Dizzy Gillespie kommen ähnlich vor wie unbekanntere Protagonisten aus Südafrika. Mal werden sie gegenübergestellt, mal portraitiert. Immer mit feinem, gefühlvollen Vokabular umrissen und ins Scheinwerferlicht gestellt, dass seine Worte genauso klingen wie die Musik, die er so liebte.
Das ist auch der Punkt, der mich so begeistert an diesem kurzweiligen Buch. Jeder Song ist aufgelistet, lässt sich blitzschnell nachhören. Doch ich wollte lieber seinen Worten nachgehen, seinen Formulierungsswing aufsaugen und genießen. Es kein Buch für Nerds. Auch keins für ausschließlich Intellektuelle. Es ist für Sprach- und Musikgenießer. Wie hier über Töne, Melodien, Rhythmen und die Passion der Menschen dahinter geschrieben wird, ist ohne Vergleich. Wunderbar! Neben dem hohen Lesegenuss, den ich während der Lektüre erlebte, konnte ich auch dazu lernen. Willemsen hat mir das Genre Jazz näher gebracht, greifbar aufgeschlüsselt und mit Leben gefüllt. Nicht auf musiktheoretischer - was ich auch wissenswert fände - sondern auf emotionaler Ebene lässt er die Töne mit Worten klingen.
Allein das ist schon herausragend. Der große Verdienst dieses Buches ist es, den Jazz aus einer verstaubten, profanen Fahrstuhlmusikecke herauszuholen und ihn glänzend voller Puls, technischem Können und Leben zu füllen!
Doch die vereinzelten Glossen zum Ende des Buches setzen dem ganzen eine Krone auf. Denn wer so wundervoll in den Himmel loben konnte, war auch im Stande vernichtend zu sezieren. Die Beispiele über Helene Fischer oder Modern Talking sind großes Kino. Pures Entertainment für die, die es verstehen.
Selten hat sich ein Musikbuchkauf derart gelohnt wie diese Textsammlung von Roger Willemsen!

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