Freitag, 8. Mai 2020

KW 19, 2020: Die luserlounge selektiert


Bild: pnpnews.de/
(sb/ms) Wenn man zu Lebzeiten schon eine Legende ist, dann ist etwas wirklich Außerordentliches passiert. Angeeckt ist er ohnehin. In der Frühphase der Band wurden sie ausgebuht: zu eigenwillig, zu schräg, zu sehr dem Zeitgeist entgegengesetzt. Auch privat ist er ordentlich angeeckt: zu verschwurbelt, zu versunken im eigenen Kosmos, zu ellenbögig anderen gegenüber. Vielleicht gerade weil Kraftwerk seit Jahren keine neue Musik mehr produzieren, sondern die alten Lieder immer wieder in neuem Gewand präsentieren, wuchtiger, basslastiger, moderner und Florian Schneider-Esleben auch seit einigen Jahren nicht mehr Teil des Projekts ist, schwebt sein Name, seine Kreativität über allem. Logisch mit dem Ralf Hütters zusammen. Ja, sie sind/waren Pionieren, haben sehr, sehr große Türen für jegliche Form der elektronischen Musik geöffnet und waren im Ausland immer ein wenig mehr angesehen als hier. Nun ist Florian Schneider-Esleben verstorben. Sein musikalisches Erbe war zu Lebzeiten schon immens. Jetzt erst recht. Kraftwerk für immer!

Am Puls der Zeit sind wir auch nicht. Hören natürlich die Musik, die wir seit Jahren hören. Doch freitags wird selektiert. Perlen für euch. Neues aus den Boxen. Ab geht's:

Der Nino aus Wien
(sb) Was macht den Nino aus Wien eigentlich so megasympathisch? Dass er so ein fantastischer Beobachter des Weltgeschehens und der Menschen in seiner Umgebung ist? Dass ihm selbst die abgefahrensten und absurdesten Themen eine Erwähnung wert sind? Sein großartiger Humor? Dass er nur so semi-gut singen kann und man sich deswegen so leicht mit ihm identifizieren kann? Oder ganz einfach, dass er stets er selbst ist und man ihm einfach jedes einzelne Wort abnimmt, das er von sich gibt? Was auch immer sein Erfolgsrezept ist: Der Nino aus Wien macht verdammt viel richtig und nicht zuletzt deshalb verfolge ich seine Karriere seit vielen, vielen Jahren und komme immer wieder auf seine Musik zurück, wenn ich mal wieder gar nicht weiß, was ich hören mag. Der Nino geht einfach immer! Zugegebenermaßen nicht jedes einzelne Lied oder auch durchgehend ganze Alben, aber wer solche Perlen wie Du Oasch, Unentschieden gegen Ried oder Fuasboi schaun geschaffen hat, der ist ein ganz Großer. Und ich lehne mich jetzt mal (und zwar sehr gerne) ganz weit aus dem Fenster und behaupte, dass er mit Ocker Mond (VÖ: heute!) sein bislang bestes Album veröffentlicht. Warum? Weil es ihm diesmal tatsächlich gelingt, mich über die komplette Albumspielzeit hinweg zu überzeugen. Es gibt keinen unbedingten Skip-Track, dafür aber mit Langsam, Unter Fischen und dem überragenden Hawelka gleich drei Songs, die mit zum Besten gehören, was der Künstler in seiner Laufbahn aufgenommen hat. Wenn Ihr den Nino nicht eh schon auf dem Zettel habt, dann hört Euch das unbedingt an und lasst Euch auf ihn und seine Gedanken ein - es lohnt sich!



Shock Therapy
(sb) Electropunk, Wave und Industrial - so lässt sich das Genre von Shock Therapy wohl recht treffend zusammenfassen. Anfang der 80er taten sich Itchy McCormick und sein Partner Eric Keith Jackson in Detroit zusammen, um die alternative Musikwelt aufzumischen, doch der etwas eigenwillige Itchy verschliss im Laufe der Jahre etliche Bandkollegen, so dass das Projekt Shock Therapy letztendlich quasi auf ihn reduziert werden kann. Im Jahr 2000 musste die Band schließlich eine Zwangspause einlegen, da ihr Mastermind in den Knast wanderte - er hatte einen Brand gelegt und anschließend versäumt, sich bei seinem Bewährungshelfer zu melden. In der ungewollten Auszeit blieb McCormick jedoch voller Tatendurst, für die Zeit nach seiner Freilassung war ein Album in Planung, das dann im Jahr 2008 auch veröffentlicht wurde. Itchy selbst erlebte den Release leider nicht mehr; er verstarb im November 2008 unter mysteriösen Umständen, für die u.a. jahrelanger exzessiver Alkoholkonsum, eine eventuelle Misshandlung hinter Gittern oder eine angeborene Krankheit verantwortlich gemacht wurden.
Wie dem auch sei: Wir schreiben das Jahr 2020 und Shock Therapy veröffentlichen ein neues Album! Back From Hell (VÖ: 15.05.) ist die letzte Komposition von Itchy, wurde bislang nicht released und stammt aus dessen umfangreichen Archiv. Die 12 Tracks sind eine konsequente Weiterentwicklung seines Schaffens und in ihrer Dichte zuvor unerreicht. Ich gebe zu: Mir ist es auf die Dauer etwas zu anstrengend, wer aber auf diese Art von Musik steht, der wird das Album vermutlich als Höhepunkt der Bandgeschichte anerkennen müssen.


Ursula Strauss & Ernst Molden
(sb) Wer die österreichische Seele verstehen möchte, der kommt seit Jahren an Ernst Molden nicht vorbei. Ist so. Der 53-Jährige hat sich nicht nur als Musiker einen Namen gemacht, sondern auch als Schriftsteller - und diese vielfältige Begabung setzt der Wiener wie kaum ein Zweiter ein, um die an Geschichten reiche urbane Mythenwelt seiner Heimatstadt, aber auch seines privaten Umfelds zu durchleuchten. Ursula Strauss hingegen ist dem Publikum in erster Linie als Schauspielerin bekannt und gehört zu den besten Charakterdarstellerinnen der Alpenrepublik. Das passt natürlich wie die Faust aufs Auge, denn an Persönlichkeit, an Charakter und an Eigenwilligkeit hat es der Musik Moldens noch nie gemangelt. Heute erscheint ihr gemeinsames Album Wüdnis, die Quintessenz ihrer seit sieben Jahren bestehenden Zusammenarbeit. Die zwölf Lieder sind einfach arrangiert (zwei Stimmen plus elektrische Gitarre) und leben von ihren herausragenden Texten, die von der Wildnis in und zwischen den Menschen und vom maskierten Krieg erzählen. Das Fluchtmotiv wird als zentrales Themen aufgegriffen und wort- und bilderreich in Szene gesetzt, der dämmrige Untergrund Wiens bildet das Fundament für die Songs des nur auf den ersten Blick ungleichen Duos. Klar: Ein Crashkurs Österreichisch oder zumindest eine gewisses Interesse an Dialekten ist hilfreich, aber wenn das gegeben ist, dann ist man gewappnet, um in Moldens Welt einzutauchen und sie zu verstehen. Sehr stark! Und wenn Ihr schon dabei seid, dann hört Euch auch gleich noch seine anderen Alben, u.a. zusammen mit dem Nino aus Wien, an. Sosososo gut.




Hans im Glück
(ms) Bekommt man mit, dass es frische Musik aus der Gegend gibt, wo man aufgewachsen ist, dann ist das immer ein bisschen seltsam. Das sind entweder Coverbands, unprofessionelle Musik oder anderes zum Fremdschämen. Immer schlimm. Puh.
Und dann kommen Hans im Glück. Sie sprengen zum Glück diese grausamen Kategorien. Mit Groove, Wortwitz, Rap, Bläsern, Beat entsteht eine extrem gelungene Reise durch die Stadt. Durch Detmold. Zwischen Bielefeld und Paderborn. Das sind natürlich schlimme Bezugspunkte, doch es ist wirklich schön da. Wirklich! Ich komme aus der nächst gelegenen Stadt. Warum kommen denn ausgerechnet aus Detmold so flinke, pfiffige Musiker?! Das liegt auf der Hand: Dort ist eine der renommiertesten Musikhochschulen des Landes beheimatet. Als Kind und Jugendlicher bekam ich von ihren Studenten Musikunterricht. Alles richtig gute Menschen.
Detmold ist schnell entdeckt - seit vielen Jahren ist Rudolfs Imbiss ein Highlight für mich, ebenso das schöne Freilichtmuseum. Für die, die nicht in der Nähe wohnen, bringen Hans im Glück mit dem Track DTC - Detmold City einen kurzweiligen und wirklich gelungenen Einblick! Sommerlicher Song, gute Laune, bisschen Lokalpatriotismus und Käptn Peng-Kostüme im Video! Gefällt sehr!



Velvet Volume
(ms) Man kennt diese Geschwister-Klassiker im Musik-Business. Beispielsweise Angus und Julia Stone oder CocoRosie. Bei den White Stripes hat das nie gestimmt! Aber eine Band, die aus drei Schwestern besteht, kenne ich aus dem Stehgreif nicht. Das ändert sich nun mit Velvet Volume. Sie heißen Noa, Naomi und Nataja. Oh man. Die Hölle für alle Bezugspersonen, das ständig auseinander halten zu müssen. Ich spreche aus Erfahrung, doch dazu wann anders.
Die drei im dänischen Ahaus wohnenden Damen machen schön schrammelige Rockmusik. Keine Kompromisse. Gitarre. Bass. Schlagzeug. Gesang. Ob Geschwister auf mysteriöse Art und Weise musikalisch besser harmonieren?! Keine Ahnung. Die Hörproben belegen das zumindest. So ist Carry nicht nur ein solider Rocksong, sondern der stimmliche Wechsel im Refrain kommt besonders gut. Ebenso wie das durchaus ästhetische Video dazu! Voll umfänglich kann man sich ab dem 29. Mai davon berauschen lassen, dann erscheint ihr zweites, neues Album Ego's Need. Spannender Titel, spannende Musik!



Charlie Cunningham
(sb) So wirklich viel ist über Charlie Cunningham nicht bekannt, noch gilt er als Geheimtipp. Doch nicht zuletzt sein 2019er-Album Permanent Way setzte ihn nachhaltig auf die Pop-Landkarte und mit seiner neuen Pieces EP (VÖ: 15.05.) manifestiert der Singer/Songwriter seine Ambitionen. Vier leise, mitunter zerbrechlich wirkende Stücke versammelt er auf der EP, darunter mit All This sogar ein Instrumental, das von einer zarten Pianomelodie getragen wird. Mich berührt vor allem der Auftaktsong Pieces, dessen melancholischer Grundton ansteckend wirkt und einen erstmal schlucken lässt. Das ist Gefühlspop erster Klasse und wartet nur auf den Durchbruch!


Bibio
(ms) Und dann einfach mal zurück lehnen. Aus dem Fenster schauen. Die Maschine anhalten. Durchatmen. Sich über die tollen, kleinen Dinge freuen. Jemandem einfach so ein Lächeln schenken. Ein bisschen frisches Obst essen. Sich selbst etwas Gutes tun. Sich mal wieder bei den Eltern melden. Vielleicht eine Postkarte schreiben? Den Ort ändern. Vom Sofa zur Küche. Schauen, wie es ist.
Dabei Bibio hören. So sanft, so behütet, so ruhig und dennoch auf zarte Weise kräftig nimmt sein Klang einen mit. Es ist eine bestimmte, aber lockere Reise. Mal die Augen schließen. Der gezupften Gitarre und gestrichenen Fiddle lauschen. Dazu die hoffnungsvolle, leicht zerbrechliche Stimme von Stephen Wilkinson hören, sich mitnehmen lassen. Beim zweiten Mal Hören in jedem Fall das tolle Video zu Sleep On The Wing schauen. Allein der Name des Liedes ist ja schon klasse. Ein Wiegenlied? Gut möglich, dass es dazu gedacht ist. Der Vogel nimmt uns in jedem Fall mit hinaus aus dem Alltag. Gut so. Ein kleiner Flug durchs Freie, Ungewisse ist schön.
Und auf der 10-Track-EP (man könnte auch Album dazu sagen), die den gleichen Namen wie die Single trägt, gibt es noch mehr davon. Es ist ein Anknüpfungspunkt an das letzte Album Ribbons aus dem letzten Jahr und setzt dessen Klanggestalt fort. Schönes Konzept. Wunderbar einhüllende Musik!



Sandra Hüller
(ms) Diese Blog-Rubrik entsteht meist über vier, fünf Tage hinweg. Manchmal sogar über einen längeren Zeitraum. Immer wieder entstehen seltsame Zufälle. Zufall diese Woche: Zwei bekannte Gesichter aus anderen Kunstformen treten hier singend auf. Nach dem Schriftsteller Ernst Molden hier die Schauspielerin Sandra Hüller.
Logisch, verdientermaßen ging an Toni Erdmann kein Weg vorbei. Was ein herrlicher Film. Was für eine überragende Schauspielerin. Für mich auch sehr präsent: Ihre umwerfende Rolle in einer Tatortreiniger-Folge, in der es um die Wahl des vermeidlich richtigen Vornamens geht! Wunderbar gespielt. Doch singende Schauspieler sind ein äußerst heikles Thema. Ulrich Tukur - sehr gelungen. Axel Prahl - schon wesentlich schwieriger. Jan Josef Liefers - grauenhaft!
Und jetzt halt Sandra Hüller. Zum Glück auch eine Frau. Zum Glück mit Musik, die so gar nicht gekünstelt, gewollt, aufdringlich daher kommt. Sondern fein, pointiert, voller Sinnlichkeit, Entspannung, dennoch eine gewisse Anspannung. Ihre Stimme über rotzig-grooviger Gitarre und ganz dezentem Percussion. Ganz fein und dennoch kraftvoll. The One macht wirklich viel Freude. Spaß macht das dazugehörige Video. Schön minimalistisch und schräg - ich vermute, so mag es Sandra Hüller. Einfach mal auf oder zwischen zwei Stühlen sitzen, stehen, liegen, rutschen.
Im Sommer soll eine ganze EP mit Musik erscheinen. Wir halten euch definitiv auf dem Laufenden.



PeterLicht
(ms) Ich glaube es war so: Vor vielen Jahren wurde PeterLicht durch ein höchst mysteriöses Erlebnis aus der Wirklichkeit entrückt und schwebt seitdem ein wenig über dem Boden; vielleicht auch manchmal der Tatsachen. Zwischenzeitlich senkt er sich dann wieder zurück auf den Grund und hinterlässt schön-schräge Musik. In der Zwischenzeit geht ein produktiver, sehr verschwurbelter Kreativprozess vonstatten, dessen Ergebnis dann zu hören ist. Sein letztes Album Wenn Wir Alle Anders Sind war so ein Output in LP-Format. Nun gibt es endlich wieder eine neue Single. Hui, elektronisch ist er geworden, der PeterLicht. Aber halt auch irre fröhlich. Grell ja ohnehin schon. ...E-Scooter Deine Liebe ist selbstredend schon ein Titel, der PeterLicht-mäßiger gar nicht sein könnte. Und nur er würde das Wort E-Scooter als Verb benutzen! Doch die Kernaussage, der Sonne hinterher zu laufen anstatt sich der Depression hinzugeben, ist ein guter Rat. Jetzt. Und wann anders auch. Ob sich an diese Single ein Album anschließen wird, ist unklar. Wie so alles bei diesem Künstler aus Köln. Die Hoffnung: Ausgeschlossen ist es nicht!



Trixsi
(ms) Und noch mehr gute Ankündigungen aus dem deutschsprachigen Raum. Denn es gibt Supergroups, die nerven. Und es gibt Supergroups, die super funktionieren. Zu letzterer Kategorie gehören Trixsi. Pfiffiger Name, fetzige Musik. Mitglieder aus folgenden Bands haben sich für diese Musik zusammen geschlossen: Jupiter Jones, Findus, Love A und Herrenmagazin. Es gibt erheblich schlechtere Referenzen hierzulande. Will sagen: Enorm, dass sie sich zusammen getan haben. Jörkk Mechenbiers Stimme ist zwar das Aushängeschild, doch es ist bei weitem nicht Love A, dafür steckt zu viel Indierock drin. Ein großes Glück ist diese Band. Im Gegensatz zu allen anderen Emporkömmlingen, die so gerne mit "Der...", "Die..." oder "Das..." anfangen, machen hier fünf Protagonisten genau das, was sie seit Jahren in bester Manier unter Beweis stellen: Klare Gitarrenmusik ohne Attitüde. Nun ist erstmals Videomaterial zu begutachten. Wannabe ist heute erschienen. Das muss man einfach abspielen lassen, es spricht für dich. Denn solche Zeilen können die Der/Die/Das-Bands halt nicht texten: "Alles für'n Arsch in der Wannabe-Demokratie. Die Jungen sterben online, die Alten sterben nie." Am 26. Juni erscheint dann der Erstling unter diesem Namen bei Glitterhouse: Frau Gott. Richtig Bock!

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