Mittwoch, 13. Mai 2020

Moses Sumney - græ

Foto: Eric Gyamfi
(ms) Sprechen wir über außerordentlich lange Alben. Wo natürlich die Frage gestattet sein muss, ab wann man denn von einem sehr langen Album spricht? Gibt es da eine Grenze oder ist das eher so ein Gefühl? Wahrscheinlich hängt es ganz enorm vom Genre und den leitenden Gedanken dahinter ab? Sind alle Geschichten nach 30 Minuten erzählt? Oder doch eher nach einer Dreiviertelstunde? Was ist den Hörenden noch zuzumuten? Wann schaltet man unwillkürlich ab? 50 Minuten sind da so eine verankerte Zeit aus der Pädagogik. Man erinnert sich an endlose Stunden in der Schule, Gedichtinterpretationen, Vokabelnpauken in Latein oder stinklangweilige Versuche in Physik. Da waren fünfundvierzig Minuten mitunter die Hölle.
Punkrock geht schnell. Da ist eine halbe Stunde mitunter die ideale Zeit. Schnelle Stücke voller Aggression und Dynamik. Nach der halben Stunde ist man auch k.o.
Eine Compilation kann man schon länger hören, gleicht sie einer Playlist mit Höhen und Tiefen und durch die naturgemäß unterschiedlichen Interpreten entsteht viel Abwechslung.
Für mich persönlich gibt es so einen Knackpunkt, den nur wenige Künstler bislang gut ausfüllen konnten. Und das ist eine Stunde. 60 Minuten. Das ist in meinen Ohren schon viel für ein Album. Zuverlässig überzeugt hat mich bislang Get Well Soon. Sowohl The Horror als auch Vexations waren Alben, die solch eine Spielzeit hatten und komplett überzeugen konnten!
Nun. Bislang. Denn an diesem Freitag (15. Mai) erscheint das neue Album von Moses Sumney, den ich bis dato auch nicht kannte, aber die Wege des Herrn sind ja bekanntlich unergründlich. græ heißt das Werk. Klein geschrieben und mit diesem lustigen Buchstaben. Und logischerweise beträgt die Spielzeit knapp über eine Stunde. Die hat sicherlich ihre Schwächen. Doch die Stärken sind schier unglaublich. Fangen wir vorne an!



Childish Gambino wurde ja nur so bekannt, weil das Video für so einen großen Aufschrei gesorgt hat. Wäre der (gute) Text mit einem etwas weniger sensationserhaschenden Video erschienen, wäre das sicher alles so nicht gekommen.
Musikalisch wesentlich breiter und mit einem - für meinen Geschmack - ästhetisch wesentlich anspruchsvolleren Video kommt besagter Moses Sumney daher. Das gilt für Virile - der bereits letztes Jahr ausgekoppelten Single des neuen Albums. Wie kommt man denn auf diese Idee?! Es ist zugleich abartig, widerlich und beeindruckend, faszinierend dass man kaum weggucken mag! Dazu noch diese außergewöhnliche Musik! Da wehrt sich jemand mit Händen und Füßen in eine Schublade gesteckt zu werden. Rockelemente und R'n'B plus soulige Stimme erstrecken den künstlerischen Anspruch des Videos in die Musik. Bloß nicht festlegen, bloß nicht.
Das scheint die Parole der Stunde zu sein. Denn dieses Album mit seinen 20 Stücken kommt dem Titel nah. Graubereiche werden abgetastet. Des Zumutbaren. Der Genres. Der Erzählweise. Ziehen wir die fünf Interludes ab, sind es immer noch 15 Tracks.
Und mit was für einer Wucht von Musik wird diese Platte denn bitte eröffnet?! Cut me. Soulig, groovy, catchy, Gospel! Direkt zu Beginn dieses Albums beweist Sumney, welche Gewalt in seiner Stimme steckt. Gern tastet er die höheren Ebenen ab, ohne sich darin zu verlieren. Man fragt sich nebenbei, ob Whoopi Goldberg noch lebt (ja, sie ist erst 65). Ein irrer Track, der Lässigkeit neu definiert (s.u. in einer tollen Studio-Version)! Er leitet ein Album ein, dass im Grunde genommen sehr ruhig ist, doch dieser Ruhe wohnt viel Dramatik und Zerbrechlichkeit inne.



Dieser aus North Carolina stammende Künstler - klar, er spielt mit seiner Extravaganz. Völlig legitim. Gutes Mittel im Showbusiness. Hier geht es sogar auch auf und plätschert nicht an der Oberfläche entlang. Schauen wir uns noch zwei, drei andere herausstechende Songs der Platte an. Da ist zu Einen Conveyor. Startet der Track mit einem irren Technobeat, bricht dieser nie ganz aus. Doch das Maschinelle, Ohnmächtige bleibt, erzeugt immer wieder eine eindringliche Spannung. Das Thema Pop wird hier in jedem Fall zu Ende gespielt. Ich weiß gar nicht, in welche Stimmung dieses Album passt. Aufregend? Unterhaltsam? Entspannend? Alles und nichts zugleich.
Beim Lied Gagarin muss ich sofort an die Band Someone Still Loves You Boris Yeltsin denken. Die Frage ist hier tatsächlich: Raumfahrt oder Wodka-Kater? Oder doch Soulnischen? Im sehr dramatischen, fast sechs Minuten langen Song, der mit einigen Stimmverzerrungen spielt, begleitet den Hörer bis zum Schluss durch allerhand Effekte ein entspanntes Jazzklavier als roter Faden. Stark!
Zuletzt sei noch Lucky Me angesprochen! Ein Muss! Hier begeistert ein versprenkeltes, einhüllendes Klavierspiel, das die Melancholie des Textes - das Zerbrechen einer Beziehung kann auch seine Vorteile haben - perfekt untermalt. Gibt etwas wie traurige Entspannung? Wenn, dann ist sie hier zu finden!

Haben wir uns bislang eher mit dem Sound der Platte auseinandergesetzt, muss die Frage noch beantwortet werden, worum es denn im Wesentlichen geht? Zugegeben eine Frage, die ich mir bei englischsprachigen Alben nur selten stelle (ich gelobe Besserung)!
Am besten lassen sich die thematischen Graubereiche aus den fünf Zwischenstücken herausfiltern. Sie sind je maximal gut zwei Minuten lang und darin wird zum Hörer gesprochen. Es geht um Isolation, was nichts anderes als Verinselung heißt. Und sehr viel um Denkschemata von und gegenüber People of Colour: I truly believe that people who define you control you. Puh, da muss man erstmal drüber nachdenken. Zwischen den Zeilen ploppt immer wieder Black Lives Matter auf. Gut so! Laut so! Auch fließende (vorhandene?) Grenzen zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit werden infrage gestellt. Graubereiche. Die erstrecken sich von innen nach außen. Von Selbst- zu Fremdwahrnehmung. Breit gefächert. Gut auf den Punkt gebracht.

Moses Sumney ist hier ein irres Werk gelungen. Es will oft nicht zugänglich sein. Es will trotz aller musikalischen Raffinesse und Groove aufrütteln. Dabei überzeugt es klanglich immer wieder; inhaltlich sowieso!

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