Freitag, 17. April 2020

KW 16, 2020: Die luserlounge selektiert


Bild: http://6iee.com
(ms/sb) Rezeption von Kunst. Sie kann so unheimlich unterschiedlich sein. Und für mich persönlich gibt es einen riesigen Unterschied zwischen Buch und Musik. Wenn mir ein Album nicht gefällt, höre ich nach ein paar Songs auf, es zu hören. Erst herrscht der gute Wille und der vermeidliche Gedanke, dass es doch nicht kacke ist, dann kommt die Überzeugung. Bei Literatur ist es gänzlich anders, da ziehe ich das durch. Das habe ich in den letzten Wochen leidvoll durchexerziert. Der Griff zu diesem Buch war mehr als spontan. Stern 111 von Lutz Seiler lag prominent präsentiert bei der wunderbaren Buchhandlung meines Vertrauens und ich dachte mir: Wieso nicht. Immerhin auch Buchpreisgewinner. Da muss ja was dran sein. Was dann folgte, war eine reine Qual. 520 Seiten lang. Ab Seite 200 kam schon der Wunsch auf, dass das bitte ganz schnell rum geht. Mit der Sprache konnte ich mich nicht arrangieren. Und auch nicht mit dem beinahe nicht vorhandenen Plot. Es lief auf fast gar nichts hinaus. An sich ist das kein Problem, aber das kann man doch besser schildern. Wäre ich Jurymitglied, hätte ich mein Veto eingelegt. Hatte die Hausbesetzerszene um die Wende in Berlin nichts Besseres, Erzählenswerteres zu bieten? Als Panorama wird es beschrieben. Ja, das schon. Aber extrem dünn, blutleer und ohne Anhaltspunkte, dass man wissen will, wie es weiter geht. Ich mag dem hinzufügen, dass ich kein literarischer Banause bin. Aber nun gut. Ein Glück ist das rum. Braucht es wer?!

Ein noch größeres Glück, dass es hier um Musik geht. Luserlounge. Freitag. Selektiert. Abfahrt:

Kalthauser
(sb) Was bringt man mit Chemnitz in Verbindung? Also so ganz spontan mein ich... Klar, hieß mal Karl-Marx-Stadt, Kraftklub, Kummer, den CFC und seine politisch sehr zweifelhaften Fans, die Ausschreitungen im Sommer 2018, eventuell noch die Band Blond und zukünftig womöglich auch Kalthauser. Ob das gelingt, steht natürlich in den Sternen, eine gewisse Massentauglichkeit ist dem Quartett jedoch keinesfalls abzusprechen, obwohl es sicher nicht so ist, als würde die Band auf Teufel komm raus gefallen wollen. Im Gegenteil: Textlich präsentieren sich Kalthauser sehr persönlich und mitunter auch verletzlich, doch von den Melodien und der instrumentalen Begleitung her ist die Abgrenzung zum Mainstream recht fließend. Ich persönlich stehe dem selbstbetitelten Debütalbum (VÖ: 08.05.) sehr zwiegespalten gegenüber: Einerseits imponiert mir die Gradlinigkeit der Band, dieses bedingungslose Verfolgen der eigenen Philosophie, andererseits ist mir das Ganze insgesamt zu poppig und glatt, sodass mir weitestgehend die direkten Berührungspunkte fehlen. Nichtsdestotrotz solltet Ihr mal reinhören und Euch ein eigenes Urteil bilden.


Laut Fragen
(ms) Kein Vergeben. Kein Vergessen. Das muss oberste Maxime unserer Gesellschaft sein und bleiben. Es kann nur mit klarer antifaschistischer Linie gehen. Auch in der selbsterklärten Mitte eben jener Gesellschaft. Die rechte Szene ist äußerst aktiv, hortet Waffen, dringt in politische Kreise oder sogar Gewerkschaften ein. Tagtäglich müssen wir uns vor Augen halten, was passiert ist und unsere Lehren draus ziehen. Antifa heißt jeden Tag das Ganze hinterfragen!
So ist es. Das Duo Laut Fragen hat sich genau das zur Aufgabe gemacht. Und noch viel mehr. Ich persönlich kenne mich null mit der innerösterreichischen Aufarbeitung des Dritten Reiches aus; komme halt aus NRW. Maren Rahmann und Didi Disko haben sich dies jedoch auf die Fahnen geschrieben, sammeln Texte aus dem österreichischen Widerstand gegen die Nazis und vertonen diese. Sie agieren als Musik- und Performancegruppe und legen mit 6434 einen beeindruckenden musikalischen Beweis ans Tageslicht, was man daraus machen kann. Der Text zum Lied stammt von Gösta Duchham (Hans Schlesinger), der fast vier Jahre in Buchenwald leiden musste. 1945 hat er einen kleinen Gedichtband herausgebracht unter dem Titel Ich Hasse Nicht: Dichtungen aus Buchenwald. Allein darin steht große Menschlichkeit. Laut Fragen haben sich den Text 6463 zur Vertonung ausgewählt; seine Häftlingsnummer. Mit einem Mix aus dem Sound von DAF, Die Krupps und Egotronic versehen, bekommt das ein durchaus aggressives Gewandt. Stark. Hut ab.



The Streets
(sb) Wahnsinn, jetzt ist es auch schon wieder zwei Jahre her, dass ich die luserlounge auf Betriebsausflug nach London begeben hat, um The Streets in der Brixton Academy zu sehen. Seitdem hat sich bei uns einiges getan, nur Mike Skinner macht noch immer das, was er am Besten kann: lässig sein und es, wenn er denn mal nen neuen Track rausbringt, auf den Punkt bringen. Auch mit seinem neuesten Streich trifft er textlich mal wieder den Nagel auf den Kopf und stellt eine ganze Generation bloß. Die bedeutungsschwangere Zeile "You'd worry less about what they thought if you knew how little they did." ist zwar lediglich die Abwandlung eines Zitats des amerikanischen Schriftstellers David Foster Wallace ("You’ll Worry Less About What People Think of You When You Realize How Seldom They Do."), doch spätestens mit "You know I'd give you my kidney. Just don't ever take my charger." entlarven The Streets all die Möchtegern-Wichtigen dieser Welt, die ohne Likes und Klicks nicht leben können. Special Guest auf Call My Phone Thinking I'm Doing Nothing Better sind übrigens Tame Impala und das darf durchaus als bemerkenswert bezeichnet werden, da sich die Australier bislang jeglicher Kollaboration verwehrt hatten. So und jetzt schauen wir mal, ob und wann The Streets doch nochmal ein neues Album veröffentlichen...



Ira Atari
(ms) Bestellungen direkt an der Quelle oder in deren Dunstkreis sind nicht nur aktuell eine gute Maßnahme, um das Geld direkt an die richtigen Menschen zu bringen, sondern immer. Zum Beispiel bei Audiolith. Da kann man bedenkenlos einkaufen gehen. Irgendwann bekam ich mal Post von denen - paar Jahre her - und nicht nur der bestellte Artikel war dabei, sondern auch das Album Shift von Ira Atari. Das war natürlich supergut. Also das Geschenk und selbstredend auch die Platte. Ein bisschen giftig, extrem basslastig, elektronisch, tanzbar. Auf Moment wurde Ira Göbel, so ihr bürgerlicher Name, etwas poppiger, aber nicht weniger catchy.
Heute legt sie mit Berlin Berlin nach. Ein Beat, der wie der Punkt bei Karaoke keine Pause macht und direkt in die Beine geht. Der Song ist nicht nur eine Hymne auf die Hauptstadt, sondern auch Verarbeitung der Trennung von Freund und nun Ex-Bandmitglied. Berlin, Berlin, you make me feel like a queen! A pretty fucked up queen, but a queen is a queen. So liest sich das. Im besten Sinne eingängig. Alter, warum sind denn jetzt die Clubs geschlossen...?! Dann tanzen wir halt zu Haus dazu! Versprochen!



JD Eicher
(sb) Er ist ein wahrer Entertainer, der JD Eicher - und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Der Mittdreißiger aus Ohio hat sich auf die Fahnen geschrieben, sein Publikum zu unterhalten, es abzuholen, zum Lachen und Weinen zu bringen und dann wieder sicher im Heimathafen abzuliefern. Und was live bestens funktioniert, bringt der Amerikaner auch bestens auf Platte, wie man auf seiner neuen EP Court Street (VÖ: 09.04.) bestens vor Augen geführt bekommt. Irgendwo zwischen Pop und tanzbarem Soul hat Eicher seine Nische gefunden und hat damit durchaus (und zurecht!) Erfolg, wie Touren mit Coldplay, der Dave Matthews Band, Rod Stewart oder Bryan Adams beweisen. Okay, ich gebe ja zu, dass das eher abschreckend klingt, aber lasst Euch davon nicht irritieren: JD Eicher zaubert die ein oder andere Pop-Perle aus dem Ärmel und kann Stimmungen nicht nur bestens einfangen, sondern diese auch gefühlvoll in seinen Songs transferieren. So sollte Radiomusik klingen!


Lorenzo Senni
(ms) Alitalia - und nach den Alpen nur das Glück. Ja, Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys haben da einen Meilenstein an Musik hingeblättert. Doch es gibt zur Beruhigung aller auch eine gänzlich andere Musikkultur zwischen Venedig und Palermo. Eine Tanzbare, Eigenwillige, in der man sich verlieren kann, die irgendwie aneckt und dennoch kurzweilig ist. Die nach Sommer und Lounge klingt. Die nach Zukunft und Retro schmeckt. Nach Eisessen morgens um sechs, wenn man den Club verlässt und in der Dämmerung auf dem Rad volltrunken vor Zufriedenheit nach Hause düst. All das lässt sich auf dem neuesten Werk von Lorenzo Senni finden. Heute in einer Woche (VÖ: 24.04.) veröffentlicht er sein fünftes Album, das auf den Namen Scacco Matto hört: Schachmatt! Minimalistischer, verspielter Electro. So könnte man vielleicht sagen. Der Mailänder hat schon sowohl für zahlreiche Kulturorte Musik geschrieben, als auch für Filme. Wenn man in das Album eingestiegen ist, kann man das mehr als verstehen. So ganz ohne Gesang, erscheinen vor dem inneren Auge ganz automatisch die abenteuerlichsten Landschaften. Gut für Zeiten, in denen jeglicher Urlaub in weite Ferne rückt!



Eivør
(ms) Ab und an braucht es gar nicht so viel, um mich soundtechnisch in den Bann zu ziehen. Mitunter bin ich leicht verführbar. Beispielsweise wenn die isländische Sprache aufploppt. Dann werde ich hellhörig und neige schnell dazu, das gut zu finden. Selbst mit etwas Abstand betrachtet, ist es das dann oft tatsächlich noch. Erstaunlich! Bestes neues Beispiel: Eivør. Okay, sie singt auch auf Färöisch. Oder Englisch. Aber. Diese nordischen Sprachen haben einen ganz eigenen Zauber. Die 36-Jährige bedient kein klares Genre. Klassik, Folk, Jazz; Hauptsache irgendwie mystisch und in den Bann ziehend. Das kann sie. Ihr neues Album Segl erscheint am 18. September und anschließend geht sie auf Tour. Derzeit sieht es ja so aus, als ob das im Herbst stattfinden wird. Drücken wir ihr die Daumen. Denn wenn man sich ein bisschen reinhört und verzaubern lässt, schleicht sich direkt eine enorme Lust heran, sie schnell live zu sehen. Die Auswahl der Locations zeigt, dass sie gerne an speziellen Orten spielt. Hin da! Denn so klingt sie:

12.10.2020 Leipzig, Täubchenthal
13.10.2020 Berlin, Passionskirche
14.10.2020 Hamburg, Mojo Club
16.10.2020 Köln, Kulturkirche
17.10.2020 Aschaffenburg, Colos-Saal
18.10.2020 Nürnberg, Z-Bau
19.10.2020 Ludwigsburg, Scala
29.10.2020 Bochum, Zeche
08.11.2020 Lübeck, St.Petrikirche



The Opium Cartel
(sb) Wir begeben uns mit The Opium Cartel auf eine Zeitreise in die 80er Jahre, eine Dekade, in der Roxy Music, das Alan Parsons Project und Camel ihre Spuren hinterlassen haben und deren Einfluss sich nun im dritten Album der multinationalen Band widerspiegelt. Valor (VÖ: 05.06.) ist ein Album über mutige, aber naive Träume, den Optimismus, den Kinder und Jugendliche ausstrahlen, weil sie sich der Widrigkeiten der Welt oft noch nicht ausreichend bewusst sind. In ihren Träumen wird alles so kommen, wie sie es sich vorstellen, Zweifel sind ihnen fremd. Umso überraschender werden sie dann durch Rückschläge getroffen, die zwangsläufig erfolgen und das bis dahin so makellose Weltbild erschüttern. Bandleader Jacob Holm-Lupo und seinem internationalen Ensemble gelingt der angesprochene Zeitsprung scheinbar mühelos, teilweise opulente Instrumental- und Synthesizer-Parts bekommen ihren Platz ebenso wie ausgedehnte Gitarrenparts. Um das Gesamtbild abzurunden, wurde das Album-Cover von Glen Wexler gestaltet, der in dieser Funktion in der Vergangenheit auch schon für Größen wie Van Halen oder Rush tätig war.



Gregor McEwan
(ms) Ach Folk-Pop. Mit kaum einem anderen Genre stehe ich seit Jahren so auf Kriegsfuß wie mit dir. Oft klingst du so gähnend beliebig, das macht mich regelrecht aggressiv. Letztens sah ich Will Church live. Das war eine Zumutung. Das ist jedoch - wir bleiben schön differenziert - nur die eine Seite der Medaille. Denn die andere glänzt ganz gewaltig. Da sehe ich Bands wie Honig, bei denen mir das Herz aufgeht. Oder auch Gregor McEwan. Der hat heute (!) seine Spring Forward EP veröffentlicht. Vier Songs sind darauf, die sich so schnell in ein Genre gar nicht fassen lassen. Während I Got U und Fwd: Spring schon eher gitarrenfolkpoppig und gänsehaut-hymnisch sind und die Trompete ab und an glänzt, kommt ₲ΛLΛX¥ dem Schriftbild auch klanglich recht nah. Plötzlich taucht da eine elektronische Tanznummer auf, die vom mäandernden Bass getragen wird. Oh, ich mag so einen Abwechslungsreichtum, bei dem der rote Faden dennoch zu erspüren ist. Auch A 000000 Times kommt anders, getragener, herzschmerziger herüber. Nur vier Lieder und so immens breit gefächert. Das ist Wahnsinn. Das macht ungeheure Laune. Das ist richtig, richtig gut. Das ist eine ganz warme Empfehlung von uns!



Ron Sexsmith
(sb) Wo wir schon bei Folk-Pop sind: Auch der kanadische Ausnahmekünstler Ron Sexsmith war jahrelang in diesem Genre zuhause, ehe er sich musikalisch etwas öffnete und auf seinem sechsten Album im Jahr 2003 plötzlich auch Synthesizern ihren Raum ließ. Auf seiner neuesten Scheibe Hermitage (VÖ: heute!) ist hingegen wieder handgemachte Musik zu hören und der Meister höchstpersönlich hat alle Instrumente mit Ausnahme des Schlagzeugs eingespielt - absolut bewundernswert! Auffällig ist, dass der 56-Jährige die ihm so vertraute Melancholie in Text und Melodie des Öfteren beiseite legt und fast schon fröhlich und lebensbejahend erscheint. Müssen wir uns Sorgen machen? Keinesfalls! Eher sollten wir uns mit Sexsmith freuen, dass er privat in seiner zweiten Ehe offenbar das große Glück gefunden hat und bereit ist, es in seiner Musik mit uns zu teilen. Großes Gefühlskino auf einem richtig starken Album.


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