Mittwoch, 19. Juni 2013

Der Docht soll brennen!


Sigur Rós – Kveikur

(ms) Es ist seit einiger Zeit unter vielen Bands en vouge geworden, dass sie vor der Veröffentlichung eines neuen Albums schon einige Lieder auf verschiedene Wege dem Publikum zur Verfügung stellen. Sei es über exklusive Vorab-Downloads oder Videos etc. Sigur Rós haben das mit drei Liedern gemacht, die auf der neuen Platte „Kveikur“ zu finden sind; drei von neun, immerhin ein Drittel. Das ist recht viel und man darf sich die berechtige Frage stellen, was einen dann noch überraschen soll. Vielleicht wusste das Management der Isländer das und kannten natürlich auch die Antwort darauf: Es gibt noch einiges zu entdecken; und zwar nicht nur auf den übrigen sechs Liedern, sondern bei mehrmaligem Hören auf der gesamten Albumlänge.

Da ist letztes Jahr erst „Valtari“ veröffentlicht worden, ein Album, das sehr sphärisch ist und mir nur schwer ins Ohr ging, da es an gewissen Highlights fehlte. Und schon fahren die drei ein neues Geschütz auf, das sich von seinem Vorgänger stark unterscheidet. Oft wird dieser Tage geschrieben, dass „Kveikur“ wesentlich aggressiver ist; das würde ich so nicht unterschreiben. Es ist lauter und wilder, das in jedem Fall; doch aggressiv ist zu weit gedacht, da ein aggressiver, wütender Sound sicherlich viele Details, Verspieltheiten und Kniffe nicht erlauben würde. Der Eindruck lässt sich durch verzerrte Bässe und Stimmen, viel Percussion und ein klasse Zusammenspiel von Bläsern und Streichern hervorrufen.
Das Album ist in Gänze poppiger geworden, aber nicht komerzieller. Der Kern des typischen Sigur Rós-Sounds ist gleich geblieben.


Nun aber zu den Songs. Es geht sofort mit „Brennisteinn“ recht robust los, zwischendurch kann man etwas verschnaufen, bis Drums und Gitarren wieder Anlauf nehmen und das längste Stück des Albums (7:44 min) zu Ende bringen. Dabei ist schon zu merken, dass Jónsis Falsettstimme unvergleichbar elfenhaft bleibt. Die Lieder gehen angenehm schnell ins Ohr, haben aber auch nach dem x-ten Anhören immer noch einige Überraschungen zu bieten, sodass es nicht langweilig wird. „Kveikur“ ist komplett auf Isländisch getextet, damit tritt die eigens erfundene Sprache Vonlenska und der einmalige Versuch auf Englisch zu singen in den Hintergrund. Klanglich geht die Tendenz zu knarzigen, verzerrten Klangwänden, zum Beispiel bei „Hrafntinna“ und recht großzügig bei „Yfirbord“, wo die dunkle Darth Vader-Stimme zwischendrin und zum Schluss doch einige Rätsel offen lässt. „Ísjaki“ bietet Hitambitionen, geht gut voran, man könnte fast mitsingen, wenn man isländisch könnte und den Text kennen würde; denn leider ist mal wieder beim Album kein Booklet vorhanden. „Stormur“ besticht durch den angenehm nach vorn treibenden Beat, der hin und wieder für den gewollt brüchigen Gesang inne hält. Wie ein Fluss kann man sich in dem Stück treiben lassen. Der Klang von Sigur Rós wird oft mit Landschaftsbildern assoziiert, was die Band auch bei „Valtari“ und „Med sud I eyrum…“ im Cover deutlich macht. Bei „Kviekur“ ist das etwas schwieriger. Die Vorstellungen, die mir zum Beispiel beim Hören in Kopf gehen sind anderer Natur; beim Titelstück sind es beispielsweise Menschenmengen, die in Aufruhr sind. Sigur Rós haben immer schon Musik gemacht, bei der der Hörer Zeit braucht, um sie mit allen Sinnen aufzunehmen, aufzusaugen, zu absorbieren und vielleicht auch zu verstehen. Letzteres ist eine große Herausforderung, da die Texte kaum verständlich sind und die Songs durch ihre großartige, komplizierte und vielschichtige Kompositionen bestechen. „Rafstraumur“ ist in dem insgesamt dunklen und mythischen Album ein kleiner Hoffnungsschimmer, ein Lichtblick, dessen Beat unweigerlich nach vorn treibt, wie ein nahender Sonnenaufgang. Mit dem sehr ruhigen „Var“, wo das Klavier im Vordergrund steht und das auch instrumental bleibt, entlassen die Isländer den Hörer aus ihrem neuen, äußerst gelungenen Werk.

„Kveikur“ bedeutet Kerzendocht. Was also tun damit? Was für eine Kerze können wir uns vorstellen? Ein Teelicht? Eine große, tiefrote Kerze, die es zur Weihnachtszeit gibt? Ich tendiere zu einer großen, weißen Kerze mit einem dicken Docht und diese Kerze will brennen, entflammt werden und zum Schluss des Albums leise von selbst ausgehen. Aber es bleibt in keinem Fall nur ein kleines bisschen Rauch übrig, es bleibt ein wahnsinniger, nicht zu greifen faszinierender Eindruck zurück von einem sehr stimmigen Album, das vorne und hinten passt und indem sich Sigur Rós ein kleines bisschen neu erfunden haben.

Zum Schluss eine kleine Annekdote zu ihrem Klang. Im Februar war ich in München und habe sie zum ersten Mal live gesehen. Vor Konzertbeginn habe ich mich mit einer kleinen Gruppe bestehend aus einer Russin, einer Italienerin, einer Spanierin und einem Amerikaner unterhalten und fragte sie, ob sie die Band schon mal gesehen hätten. Der Ami antwortete mir nur: „Yes, and you’ll gonna cry so badly.“ Und er hatte recht!
Wer Sigur Rós am Wochenende beim Hurricane/Southside nicht sieht, sollte versuchen im November nach Frankfurt oder Düsseldorf zu fahren. Es lohnt sich wirklich, ein atmenberaubendes und einzigartiges Konzerterlebnis.

PS: Wer die Anschaffung der Platte plant, die Doppel-Vinyl Version ist wirklich sehr schön hergemacht!


1 Kommentar:

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