(ms) Dieses Album ist eine Provokation. Und das direkt auf mehreren Ebenen. Das lässt sich sehr gut erklären, am besten mit Hilfe einer kleinen Reportage, die es in der ZDF Mediathek zu sehen gibt. Darin geht es um Spotify. Dem Streamingdienst stehe ich persönlich ohnehin skeptisch gegenüber - nutze ihn auch nicht. Dennoch fand ich ein paar Aspekte noch mal schön zusammengefasst, beispielsweise das Bezahlmodell oder die Art und Weise wer wie welche Playlisten zusammenstellt. Doch am erschreckendsten fand ich, wie heftig die Macht von Spotify die Herangehensweise ans Musizieren an sich verändert hat. Wie kalkuliert nun Musik erzeugt wird, um die Hörenden mindestens 30 Sekunden am Ball zu halten. Oft geht es ja um mehr gar nicht. Dass Lieder mittlerweile kürzer sind oder direkt mit dem Refrain anfangen, um direkt Aufmerksamkeit zu generieren, halte ich für einen gravierenderen Einschnitt in die Kunstform Musik, als die Beschränkung auf drei bis fünf Minuten durch das Radio früher oder die Spieldauer eines Albums von gut einer Dreiviertelstunde durch die Limitierung der Schallplatte. Anders als in der Doku lapidar mitgeteilt. Ein Lied, das vielleicht durch Improvisation erdacht wurde oder das erstmal eine Minute nur instrumental ist, wäre konträr zum Streaminggedanken, wo es heißt, Menschen schnell am Ball zu behalten. In meinen Augen und Ohren ist das einfach nur enorm kalkuliert, kaum geht es um die Aussage des Liedes, eine Stimmung, die sich vielleicht über fünf, sechs, sieben Minuten aufbaut, eine komplexe Geschichte, die erzählt wird. Es geht darum, nicht ins Hintertreffen zu gelangen. Das ist eine enorm wirtschaftliche Denkweise. Ich frage mich: Wo bleibt die Kunst? Wo bleibt der geniale Gedanke? Wo bleibt die kreative Kraft? Wo bleibt der Mut, an einer ausgefallenen Idee festzuhalten? Ungewohnte Harmonien zu nutzen? Den Takt zu brechen? Gar nicht zu singen? Bei mir bleibt der schale Eindruck, dass offensichtlich den Hörenden gar nichts mehr zugemutet werden kann. Dadurch wird Musik immer beliebiger, langweilig und austauschbar. Man redet gar nicht mehr darüber. Sie ist ein selbstverständliches Hintergrundgeräusch, das nach 30 Sekunden Klick macht und das war‘s. Zudem setzen viele MusikerInnen nicht mehr auf das Albumformat. Auch das für mich eine Bankrotterklärung der Hörerschaft gegenüber. Kann ich es Menschen (nicht mehr?) zumuten, sich ein zusammenhängendes Kunstwerk über 40, 50 Minuten anzuhören? Ist es zu viel verlangt, Motive wiedererkennen zu lassen? Darüber nachzudenken, wann welcher Song am besten passt? Einem Album ein Konzept, ein Thema zu geben, um es am Stück zu hören?
Argh, all das macht mich wahnsinnig traurig. Und ich bin entsetzt. Das hat doch nichts mit Coolness zu tun. Das ist einfach nur ein Abgesang an Aufmerksamkeit, eine Weigerung Kunst zu erfahren und sich Zeit für Kreativität zu nehmen. Gar nicht davon angefangen, dass die digitale Hörweise ein massiver Verlust an Qualität bedeutet.
Das sind alles Gründe, warum das Album Music For Animals von Nils Frahm, das diesen Freitag erscheint, eine massive Provokation ist. Zugegebenermaßen eine sehr leise und sanft schwingende Provokation. Allein diese eine Zahl ist eine satte Ankündigung: Dieses Album dauert drei Stunden und sechs Minuten! 186 Minuten insgesamt. Im Kino müsste man für Überlänge bezahlen, vielleicht wäre sogar eine Pause dabei. Es hätte sogar noch länger gehen können, genug Material dafür ist vorhanden. Ohnehin, warum, wieso und weshalb Nils Frahm dieses Album gemacht hat, lest ihr am besten in diesem sehr guten Interview von Das Filter nach, das muss ich hier nicht abschreiben.
Das kürzeste Lied dauert sieben, das Längste siebenundzwanzig Minuten. Fast eine halbe Stunde für ein Lied, auf dem fast nichts passiert. Sphärische Töne, keine Melodie, Geräusche wie aus dem Weltall, eine andere Daseinsform. Trotz - oder gerade wegen - dieser extremen Unaufgeregtheit, wirkt diese Musik sehr, sehr heilsam. Ja, ich würde ihr medizinische, therapeutische Wirkung attestieren. Es tut ungeheuer gut, sich dieser Reise von Nils Frahm hinzugeben. Denn es geschieht etwas, das beim Streaming sicher nicht so schnell geschieht: Ich als Hörer trete in Verbindung zur Musik. Wir bauen eine Beziehung auf, da passiert etwas. Es entstehen Bilder, Erinnerungen, Wünsche, Gefühle. Da diese Lieder die absolute Ruhe sind und mir wirklich nichts vorgeben, entwickle ich einfach meine eigene Geschichte dazu. 10 Lieder - 10 Geschichten. Mindestens. Diese wundervolle Musik ist nichts anderes als traumhafte Erholung, Durchatmen ohne esoterischen Beipackzettel.
Lassen wir uns also provozieren. Geben wir uns dem hin. Drei Stunden lang. Am besten am Stück. Ich wette, dass wir als andere Menschen wieder zurückkehren.
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