Mittwoch, 2. Februar 2022

Alt-J - The Dream

Quelle: facebook.com/altj.band
(ms) Auf ein Mal waren sie da. So ziemlich aus dem Nichts tauchte eine Band mit seltsamen Namen auf und verwüstete alles, was sie hinterließen. Die große Zeit des (britischen) Indiepop war 2012 eigentlich schon längst vorbei, da nehmen Alt-J ihre Instrumente in die Hand und lassen alle Hörenden ratlos zurück. Was zur Hölle ist das denn bitte?! Wie kommt man nur auf so einen Sound? Wie kann man nur so singen? Wie kann man Lieder derart arrangieren? Wie schafft man es, tausend Ideen in einen einzigen Song zu packen? Und wie um alles in der Welt ist es möglich, dass das genau so klingt? So neu. So frisch. So unvergleichlich. Das Trio hat es geschafft, einen vollkommen eigenen Klang zu generieren. Das gab es vorher nicht. An Awesome Wave ist ein Album, das wirklich einschlug. Und ich bin mir bis heute sehr, sehr sicher, dass es ein Album für die Ewigkeit sein wird. Wenn es das nicht schon längst ist. Die großen Charakteristika sind Joe Newmans Gesang, ihre filigranen Arrangements und der extrem furchtlose Einsatz von Bass, der alle Fenster erzittern lässt. Ja, alt-J haben es geschafft, sich mit ein, zwei Alben ziemlich weit nach oben zu spielen. Und so weit oben gibt es natürlich auch Probleme. Und die meisten kommen in Form von Erwartungshaltungen daher. Mit Relaxer, dem dritten Album, habe ich sie irgendwie verloren, ihre Musik war nicht mehr so präsent und ich kann überhaupt nicht sagen, wieso.

Nun steht mit The Dream ab dem 11. Februar ihre neue Platte in den Regalen. Ich habe mich sehr darauf gefreut, dass sie mich erneut vollkommen umhauen. An vielen Stellen dieses Werkes gelingt es den Briten auch. Doch dies sind kurze Peaks, die mich am Ball halten, weil ich sonst eventuell schnell weggeklickt hätte. Hören wir uns das mal genauer an und ich versuche meinen Eindruck zu untermauern.

Als erstes von zwölf Stücken erklingt Bane. Und hier die nächste wichtige Info: Bei alt-J höre ich überhaupt nicht auf den Text. Es ist mir vollkommen egal, was Newman singt. Er könnte auch die Bedienungsanleitung einer Mikrowelle einsingen. Völlig unerheblich. Bei dieser Band achte ich - pardon an dieser Stelle - ausschließlich auf den Sound. Bane also. Werbestimmen. Gezupfte Gitarren. Paukenschläge. Und ab 54 Sekunden ein typischer, geiler Chor, der mich sofort packt. Herrlich! So habe ich mir das vorgestellt. Eine Minute später beginnt auf dem gleichen Track quasi ein neues Lied. Wieso? Das war bis dahin so voller Spannung. Sie musste nur noch explodieren. Ist sie aber nicht. Richtiger Rhythmus erst nach drei Minuten. Ist natürlich auch gut gemacht, inklusive alt-J-typischem Bass und Querflöte. Ein Track wie ein gutes Crescendo. Aber es kommt nicht an. Als ob nach siebzig Prozent einfach Schluss ist. Ratlosigkeit macht sich breit.
Die anhält bei der ersten Single U&ME. Ein ganz feiner Popsong, der aber recht belanglos aus den Boxen wabert. Natürlich, ich wippe auch irgendwie mit und der Groove dringt schon durch, aber irgendwie so halbgar. Klar, ich will nicht nochmal das gleiche Album wie vor zehn Jahren hören. Aber ich erwarte mehr Pfiffigkeit. 
Doch Aufatmen ist drin: Hard Drive Gold knallt ziemlich gut rein. Da steckt echt viel Drive drin, das macht schon sehr viel Spaß. Da ist er wieder, der typische Gesang, ein extrem satter Bass (geilgeilgeil), unterschiedliche Tempi und ganz viel musikalisches Geschick. Yeah! Ganz viel Leichtigkeit und Raffinesse steckt in diesem Lied. Das ist deren großes Talent!
Happier When You're Gone ist für mich recht repräsentativ für die ganze Platte. Immer wieder gibt es mit den Chor-Parts, den tollen Gitarren und dem Groove viele gute Elemente, die ziehen. Doch insgesamt überzeugt es mich leider nicht. Da steckt doch viel mehr in dieser Band! Oder? Und auch wenn in The Actor öfter nach Eiscreme gerufen wird, zieht es sich zusehends wie Kaugummi: anfangs immer wieder lecker, aber bei ständigem kauen doch eher dröge. Dass der durchaus liebevolle Song Get Better mitten auf der Platte ertönt, verstehe ich nicht. Das Wiegenlied-ähnliche Stück nimmt reichlich Fahrt aus der Platte, die sich in meinen Ohren auch noch gar nicht so sehr entfaltet hat.
Es ist wirklich ein reines Auf und Ab. Chicago startet schwach und nichtssagend und entwickelt sich dann rasch in eine dunkel wummernde Techno-Nummer. Super geil! Also richtig, richtig stark. Mit dem einzigen Nachteil: Es knallt nicht. Es verpufft erneut. Ich verstehe es einfach nicht. Warum hören sie oft so nah vor dem Peak auf?!
Philadelphia anschließend ist wieder ein super Ding! Herausragende Entwicklung, starke Elemente, die sich abwechseln. Super arrangiert und eingespielt. Das gilt es zu genießen. Toller Track! Insbesondere der umfangreiche Einsatz der Streicher ist zu erwähnen. Das geht super auf!
Gegen ruhige Stücke habe ich gar nichts einzuwenden. Doch dann müssen sie mich durch ihre Atmosphäre auch irgendwie bei der Stange halten. Wenn Walk A Mile sechseinhalb Minuten vor sich hin plätschert, bin ich erneut vollkommen ratlos. Für mich bleibt diese Platte mit ihren Aufs und Abs ganz, ganz schwer zu greifen. Losing My Mind, kurz vor Schluss, ist noch so ein Paradestück. Im wahrsten Sinne. Es hat das ganz, ganz große Potential, so richtig herrlich auszubrechen. Tut es aber einfach nicht. Wieso nur?!

Ach, ich werde einfach nicht schlau aus diesem Album. Immer wieder leuchte es auf. Das einzigartige Verständnis des Trios, Lieder mit ganz eigener Struktur zu erschaffen und erklingen zu lassen. Und so gut wie jedes Mal erstickt es, kurz bevor es leuchten kann. Ich werde nicht schlau draus. Daher bin ich schon stark enttäuscht, da so viele gute Ideen und Ansätze aufhorchen lassen, aber alle verkümmern weitestgehend. Argh, das tut mir richtig leid, das so schreiben zu müssen.

Dafür werden sie live sicher wieder zeigen, wozu sie bestimmt sind. Sie sind sogar so frech und gehen in den USA mit niemand geringerem als Portugal. The Man auf Tour. Hammerhart!
Am 12. Juni spielen sie beim Tempelhof Sounds in Berlin.


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