Freitag, 4. Dezember 2020

KW 49, 2020: Die luserlounge selektiert

Quelle: wikimedia.org
(sb/ms) Weihnachtsbeleuchtung - ein heikles Thema. Wenn ich morgens durch die Straßen radele, war es bis vor Kurzem noch stockfinster in der Frühe. Doch dann ging es langsam los. Hier und da waren die Straßen schon erleuchtet mit schönen, sanften Lichtern in adventlichen Formen voller Heimeligkeit. 
Ja, kurz nach dem Aufwachen ist das eine herrliche Atmosphäre. Es ist sowieso alles still und müde und noch etwas träge, die Gedanken noch gar nicht fokussiert. Da ist so ein kleiner optischer Effekt genau an der richtigen Stelle.
Aber!
Nun gibt es in der Nachbarschaft ja auch einige Häuser und Wohnungen, die bereits in weihnachtlicher Illumination erstrahlen. Einige Fenster sind geschmackvoll und dezent geschmückt, sodass man sich drinnen bestimmt unendlich wohlfühlt. Doch dann - und das kennt wohl jedeR - gibt es diese Fenster, die wie ein Roller Coaster aufblinken, blitzen, ballern. Da bekommt man im Vorbeigehen ja schon Augenkrebs. Jedoch! Da muss ja auch jemand drin sein, also in der Wohnung mit der Idee: "Wir machen es uns hier jetzt richtig schön gemütlich" - und dann kommt ein gruselige, kirmesähnliche Ballerei dabei heraus. Damit ist bewiesen, dass Geschmack nicht objektiv ist. Oh weh...

Hier wird aber gelauscht, gelust, selektiert! Wir - die Adventslounge - präsentieren: Die Selektion!

Dope Lemon
(ms) In den letzten tagen wurde es zunehmend dröge, wenn man aus dem Fenster schaut, durch die Gegend spaziert oder auf dem Rad fährt. Nichts aus graue Wände am Himmel, eine nicht näher zu definierende Einschätzung des Wetters. Als ob es selbst nicht weiß, ob jetzt Winter oder noch Herbst ist. Was wir uns alle zurück wünschen ist klar: Draußen mit Freunden ganz gemütlich abhängen, die Zeit und das Leben genießen, während alles andere mal warten kann. Muße, Gelassenheit, Genuss. Dieses Gefühl immerhin bringt jetzt Angus Stone aka Dope Lemon zu uns zurück. Mitten in der dunkel werdenden Jahreszeit beschenkt uns der immer entspannte Sänger einen extrem gelassenen Sommerhit, der das Verliebtsein preist. Wie schön! Ja, diesen Kitsch kann man auch einfach mal zugeben und zeigen. Dazu passt das ebenso unaufgeregte Video. Schwierig ist natürlich, dass nur gut aussehende, junge, weiße Menschen darin zu sehen sind; ohne Makel, alle sportlich dünn und sexy. Da kann man dran arbeiten, lieber Angus Stone! Klar, Kids Fallin' In Love ist keine musikalische Meisterleistung, muss es ja auch nicht immer sein. Ein kurzweiliger Track voller guter Gefühle hat ebenso seine sehr gute Berechtigung.

 

Sophie Hunger, Faber & Dino Brandão
(sb) Samstag Abend und das Bier schmeckt gerade ganz gut. Aktuell fließt das Pale Ale einer Dornbirner Brauerei mit doofem Namen meine Kehle runter und ich bin alles andere als gut gelaunt. Fußball-Frust, überarbeitet, gestresst, zu wenig Schlaf. Kind im Bett, Frau unterwegs, Gott sei Dank gibt es Musik. Und Ich Liebe Dich ist doch das Beste, was man sich vorstellen kann, um auf positivere Gedanken zu kommen und sich die restlichen Stunden bis zum Schlaf angenehm zu gestalten, oder? Genau diesen Titel trägt das Album von Dino Brandão, Sophie Hunger und Faber, das am 11.12. veröffentlicht werden wird und die drei Künstler*innen von einer bislang zumeist unbekannten Seite zeigt. Die Songs werden in Mundart zelebriert, was mich als Bewohner der Grenzregion zur Schweiz und häufiger Besucher des Nachbarlands nur bedingt vor unlösbare Aufgaben stellt, aber der Durchschnittsdeutsche dürfte Probleme bekommen. Wie dem auch sei: Die drei legen eine bezaubernde Scheibe vor, die das Herz anspricht und große Gefühle transportiert. Ihr Ziel, der Kälte und Distanz unserer Zeit, Wärme und Geborgenheit entgegenzusetzen, erreichen die drei spielend. Das tut gut, gerade jetzt, gerade heute, gerade derzeit. Leider gibts hierzu kein Video.
 

Christine & The Queens
(ms) Für mich ist sie ein Phantom. Öfter mal was drüber gelesen aber nicht wirklich rein gehört: Christine & The Queens. In Frankreich ist sie ein großer Star. Wobei es schwierig ist, für diese Person diesen letzten Satz zu schreiben. Denn sowohl "sie" ist vielleicht nicht das richtige Pronomen und "Star" auch nicht ganz korrekt im Genus. Héloïse Letissier, so der bürgerliche Name, entzieht sich jeglicher Zuschreibung von Geschlechterrollen. So auch in ihrem Auftreten und ihrer Musik. Kein Wunder, dass ihre aktuelle Single 3SEX heißt. Zusammen mit Indochine, Giganten am französischen Pophimmel, erschien nun dieses Lied, in dem die Schwierigkeit der Zuschreibung von Geschlecht besungen wird. Wie alles in ihrer/seiner Kunst ist auch dieser Track in einen größeren Zusammenhang gebettet. Letzte Woche war der Tag gegen Gewalt an Frauen. Ein tragisches Gedenken. Denn gezielte Gewalt gegen Frauen zieht sich leider so breit durch unsere Gesellschaft. In jeder Bahn, in der wir sitzen, auf jedem Konzert, wo wir stehen, bei der Arbeit, beim Einkaufen, beim Arzt. Überall begegnen wir Frauen, die betroffen sind. Schützen wir sie!



Less Than Jake
(sb) Es gibt ja so Bands, bei denen weiß man einfach, was man bekommt. Es wird keine Überraschungen geben, weder negativ noch positiv. Less Than Jake sind so eine Truppe, die sich seit knapp 30 Jahren treu bleiben, ihr Ding durchziehen und dabei gar nicht groß probieren, neue Wege zu beschreiten oder mal nen Ausreißer zu wagen. Im Fall der Band aus Florida ist das insofern okay, als sie halt seit jeher zu gefallen wissen, allerdings bleibt der Kaufreiz bei Silver Linings (VÖ: 11.12.) etwas auf der Strecke, da man halt auch eins der bisherigen Alben zurückgreifen könnte. Lediglich der Umstand, dass der letzte Longplayer bereits sieben Jahre zurückliegt, macht das gute Stück spannend. Und wie gesagt: Mit dem Quintett aus Gainesville macht man nichts falsch und wer Lust auf Qualitäts-Ska-Punk hat, der liegt hier genau richtig. Der Langzeitspaß wird mangels Vaariabilität aber a bisserl auf der Strecke bleiben.
 
 
Sfera Ebbasta
(sb) In seiner Heimat Italien ist Sfera Ebbasta ein absoluter Megastar. Klingt übertrieben? Dann gebt Euch mal das: In der Woche der Veröffentlichung seines neuen Albums Famoso belegten die darauf enthaltenen 13 Tracks die Plätze 1 bis 13 der Single-Charts - die Miteinberechnung von Downloads für die Hitparade machts möglich. Aber woher kommt dieser Hype? Der Künstler gilt als König des Trap, einem Musikgenre, dem ich per se so gar nichts abgewinnen kann. Auch Autotune wird auf Famoso inflationär eingesetzt - weiterer ganz fetter Minuspunkt! Dazu noch die Attitüde, die Sfera Ebbasta transportiert - man könnte meinen, der Kerl hat bei mir komplett verschissen, aber weit gefehlt: Irgendwie ist das Gesamtbild so stimmig, dass es selbst mich überzeugt. Man kann Famoso alles in allem wirklich gut durchhören und dass man zu der Musik im Club und mit reichlich Alkohol bestens abgehen kann, glaub ich aufs Wort. Klar, ich bin da mit 40+ nicht die primäre Zielgruppe, aber das geht schon nachhaltig ins Ohr und Italienisch ist für diese Art Musik auch eine überaus geeignete Sprache. Positive Überraschung!

 
Crucchi Gang
(sb) Hach ja, Italien, ich vermisse Dich. Der Sommerurlaub ist schon so lange her und obwohl (oder weil?) schon das ganze Jahr über Musik aus südlichen Gefilden bei mir läuft, habe ich ein wenig Fernweh. Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys, Los Fastidios, FO-GO, Le Iene und natürlich die Crucchi Gang waren in meinen Ohren schon sehr präsent und Letztere legen heute einen Bonustrack zu ihrem tollen Album nach. Wieder einmal zeichnet Francesco Wilking (Tele, Die Höchste Eisenbahn) für die Übersetzung des deutschen Originals verantwortlich und singt diesmal auch gleich mit. An seiner Seite: Malika Ayane, deren Releases in Italien bereits mehrfach mit Platin veredelt wurden. Diesmal hat es "Nur ein Wort" von Wir Sind Helden erwischt und wie nicht anders zu erwarten, verpasst die Crucchi Gang dem Song einen neuen, grün-weiß-roten Anstrich, der einem sofort ein Lächeln auf die Lippen zaubert. Meiner Frau gefällt Solo Una Parola auch, aber das wundert mich nicht, denn die hatte das Album schon von Tag 1 an annektiert und hört es seitdem ständig beim Autofahren. Soll mir recht sein, solange sie nicht ihren Fahrstil an die italienischen Klänge aus dem Autoradio anpasst...


Blackmail
(sb) Man sollte viel öfter Blackmail hören. Echt jetzt mal! Nachdem kürzlich die Best Of erschien, hatte ich es mir fest vorgenommen und es auch durchgezogen. Vor zwei Wochen nun wurden auch die großartigen Alben Aerial View (2006) und Tempo Tempo (2008) als Vinyl neu aufgelegt (Danke, Unter Schafen Records!) und sind nicht nur optisch ein absoluter Hingucker (dunkelgrünes bzw. goldenes Vinyl), sondern beamen einen direkt ein paar Jahre zurück in eine Zeit, als Musik noch richtig groß war. Ich gebe zu: Blackmail stehen und fallen für mich mit ihrem ehemaligen Sänger Aydo Abay, der zwar sicher nicht der einfachste Charakter der Musikgeschichte ist, aber durch seine unnachahmliche Stimme und Aura das Wirken der Band nachhaltig geprägt hat und Fußspuren hinterließ, die sein Nachfolger Mathias Reetz nicht ausfüllen konnte.
Die beiden vorliegenden Alben sind der beste Beweis dafür, wie entscheidend Abay für den Erfolg des Quartetts aus Koblenz ist: Das Songwriting seines kongenialen Partners Kurt Ebelhäuser ist schon herausragend, doch so wirklich veredelt werden die Tracks erst durch die perfekt harmonierende Stimme Abays, deren Attitüde (zumindest für mich) so typisch und nachhaltig ist, dass sie ihresgleichen sucht. Auch nach 14 bzw. 12 Jahren haben Aerial View und Tempo Tempo nichts von ihrem Glanz verloren - ganz im Gegenteil!

 
Dexter
(ms) Es ist so: Man gibt bestimmten Künstlern mehr Aufmerksamkeit als anderen. Das ist ja auch irgendwie klar. Man nimmt sich bei manchen auch mehr Geduld, um darüber zu berichten. Oft auch die Zeit, um das Gute zu sehen, um bloß nicht enttäuscht werden zu wollen. Seltsame Erwartungshaltung halt. So auch bei Dexter. Letzten Freitag ist sein zweites Solo-Album Yung Boomer erschienen. Seine Kollaborationen mit Fatoni feier ich ziemlich ab, insbesondere Das Alles Ist Kunst ist ein irres Brett, vielleicht der einzige Rap-Song den ich tatsächlich komplett mitsingen kann. Haare Nice, Socken Fly war ein recht lockeres Debut, das sich um sein entspanntes Leben, Familie und Beruf drehte. Seine Art Rap zu gestalten war damals schon nicht so nach meinem Geschmack, aber es störte halt auch nicht. Ganz anders leider nun auf Yung Boomer. Man muss halt sagen, dass das größtenteils irrer Schrott ist. Die Themen sind die gleichen, die Beats nerven, der Humor knallt null. Das macht halt auf Dauer auch aggressiv, sodass ich diese Platte leider beim ersten Hören abbrechen musste. Das kann ich nicht aushalten, sorry. Auch wenn seine Story immer noch cool ist (Kinderarzt, der nun für Rap den Job geschmissen hat), nerven seine immer gleichen Geschichten bis aufs Mark. Sorry, ist aber leider so. Auch das Fatoni-Feature kann da nichts retten. Vielleicht gefällt es ja wem anders. 


The Go! Team
(ms) "Moderne" Weihnachtslieder. Man weiß oft nie so genau. Was soll das? Wozu überhaupt, wenn doch Last Christmas das beste Weihnachtslied überhaupt ist (keine Diskussion!)? Selbst die alten Kinder-Weihnachtslieder von Rolf Zuckowski knallen immer noch gut. Es bleibt ein nicht zu lösendes Rätsel, warum dieser Markt so hoffnungslos überschwemmt wird jedes Jahr. Auch das Label Memphis Industries hat seine KünstlerInnen gebeten einen besinnlichen Track für einen Sampler beizusteuern. Lost Christmas heißt er. Mit an Bord sind The Go! Team mit dem Track Look Outside (A New Year's Coming), das locker und sehr unbeschwert daher kommt. Trompete, Schellenkranz, eine eingängige Melodie und fertig ist der indiepoppige Weihnachtssong. Ja, das ist ein schönes Lied, keine Frage! Dazu würde ich mir normalerweise in den Fußgängerzonen den heißen Glühwein schmecken lassen. Doch, ganz ehrlich: Braucht das jemand? Nach dem Fest ist das eh vergessen. Kein Vorwurf an die Band oder an das Label. Das ist ja Usus. Doch genau dieser Usus ist für mich nicht weiter erklärlich.


Make Boys Cry
(ms) Was passiert, wenn man Ólafur Arnalds und die Grandbrothers zusammen tut? Was kommt dabei heraus? Klar, oft sind die Unterschiede in der Neoklassik nur minimal, aber durchaus zu erkennen. Folgendes behaupte ich einfach mal: Dann sind wir bei Make Boys Cry. Die ruhige Dramatik aus Streichern und Klavier ist eindrücklich beim Isländer nachzuhören, die bewussten aber doch immer wieder überraschenden Elektroparts bei den Brüdern. Genau das findet sich auf der ersten Single Skip Me, die seit dieser Woche draußen ist und das Album Glass Cannon (VÖ: 18. Dezember!) ankündigt. Nicht nur der Klang lässt hier innehalten. Auch das Video nimmt die Zusehenden mit. Dieses wunderbare, wunderschöne, duellierende Spiel aus schneller, mysteriöser Mechanik und Industrie gepaart mit so viel naher, extrem naher (das habe ich in einem Video wohl noch nie gesehen) Haut, die nie etwas Sexuelles, sondern reine Ästhetik ausstrahlt, auch Krampf, Kampf, Zärtlichkeit. Die Anonyme hinter der Band hat noch Größeres geschafft: Einen Plattenvertrag bei Audiolith! Ja, genau! Den alten Elektropunkern! Was für ein irres Gesamtpaket. Das Label, bei dem Egotronic, Waving The Guns oder Feinesahne Fischfilet an Bord hat, weist nun auch eine Pianistin auf. Unglaublich gute Wahl - satte, gelungene Überraschung, große Vorfreunde auf das Album!


Get Well Soon & Alex Mayr
(ms) Funktionale Musik. Das klingt beim ersten Lesen erstmal grausam und nach dem kleinen ABC des kapitalistischen Vermarktungsmechanismus'. Doch das muss gar nicht der Fall sein. Funktion und Musik geht wunderbar einher ohne dass der Rubel gewollt rollen muss. Das platteste Beispiel diesbezüglich ist immer Fahrstuhl- oder Einkaufsmusik; lockere Klänge bei denen man sich wohl fühlt, bleiben will und das Geld ausgibt - hallo Weihnachtsgeschäft!
Doch wenn Musik fulminante Bilder im Kopf erschafft, die cineastisches Ausmaß erreichen, kann man durchaus von Funktion sprechen. Dann erzeugen die Töne eine Verbindung im Hirn, die die innere Kurbelkiste zum Glühen bringt. Bestes Beispiel, beste Akteure: Get Well Soon und Alex Mayr. Konstantin Gropper ist eh der unangefochtene King am dramatischen Musikfirmament, der schon etliche Soundtracks entworfen hat (How To Sell Drugs Online (Fast) oder Xanadu). Nun hat er mir Alex Mayr erneut zugeschlagen und zu Detlev Bucks neuem Film Wir Können Nicht Anders (heute via Netflix online) die Musik beigesteuert. We Don't Really Care kommt etwas schwerfällig daher, aber nur auf's erste Hören. Dann entpuppt es sich als tolles Duett und die Haltung des Ausgeliefertseins aus dem Filmtitel und der Egal-Einstellung des Liedtitels spiegelt sich auf famose Weise im Klang. Das ist diese ganz subversive Art von Humor in Groppers Musik.

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