Sonntag, 20. September 2020

Sarah Davachi - Cantus Descant

 

(ms) Vor einigen Jahren erzählte mir eine gute Seele von einer Freundin, die eine Ausbildung bei einem Orgelbauer angefangen hat. Das erschütterte das eigene Weltbild natürlich bis ins letzte Mark, als man selbst noch universitäre Seminare und Tutorien besuchte, die - nun endlich im Job angekommen - mehr als nutzlos erscheinen. Stattdessen hätte man um die Welt tingeln können. Nein, nicht in der Freizeit. Sondern als OrgelbauerIn in einem hiesigen Betrieb berufsbedingt. Es klingt zwar dämlich und immer auch ein wenig postkolonial, doch: Made in Germany ist im Bereich des Pfeifeninstruments das allerhöchste Gütesiegel.
Und was ist das bitte auch für ein wahnsinnig imposantes, beinahe einschüchterndes Instrument, das vielerorts so wuchtig in den Kirchen thront?! Ja, die Orgel hat ein wahnsinnig verstaubtes Image. Das liegt - meines Erachtens - aber auch nur daran, dass es halt in den Gotteshäusern steht. Platzbedingt. Wir sprechen hier nicht von einer Hammondorgel oder dem Sound, den man mit ein paar Knöpfen oder Reglern auf jedem x-beliebigen Keyboard generieren kann. Sondern dieses riesige, wunderschöne Ding!
Glücklicherweise gibt es ein paar wenige Akteure, die die Orgel aus dieser Ecke herausholen und in die großen Sphären der weiten, weiten Popmusik hineinholen. Welch große Gabe! Zum Einen ist da der extravagante Cameron Carpenter, der sein irres Können glitzersteinversiert zeigt. Dafür großen Respekt! Dazu gesellt sich - die von mir sehr verehrte - Anna von Hausswolff, die auf mehreren Platten gezeigt hat, welch bedrückende Seite die Orgel in Verbindung mit aufgedrehten Gitarren und schreiendem Gesang zeigen kann.

Nun gesellt sich noch jemand in diese Reihe und sie geht es wesentlich ruhiger an. Also: Wesentlich ruhiger. Kein Anflug von den Neuinterpretationen der Klassik à la Carpenter oder der wuchtigen Apokalypse der jungen Schwedin. 



Nein, Sarah Davachi zeigt auf ihrer Platte Cantus Descant (VÖ: 18. September, Mea Culpa) eine durchaus meditative Seite dieses großen Riesen. Das ist im doppelten Sinne hörbar. Zum Einen singt sie selbst nur auf zweien der insgesamt 17 Tracks! Zum Anderen ist der Sound stets sehr getragen, aber nie bedrückend oder melancholisch. Man wird nicht traurig, wenn man den gut 80 Minuten (!) des Albums lauscht. Viel mehr entwickelt die Platte im Laufe des Hörgenusses einen sehr beruhigenden, leicht einkehrenden Charakter (wer als erstes von Advent oder Herbstdepressionen spricht, hat verloren). Dieses Werk kann man am besten alleine hören. Man sollte die Fenster schließen oder sehr gute Kopfhörer dabei haben. Dann kann man sich von der Welt lösen und in die schönen, breiten, sehr wohlig klingenden Momente von Cantus Descant eintauchen. Am liebsten möchte man auch dort bleiben, denn langsam, leise und sanft hüllen einen diese Lieder ein. Ganz bedacht und unaufgeregt. Was wiederum nicht heißt, dass es hier langweilig wird. Klar, man muss sich drauf einlassen können, sonst wird die Schönheit dieser Musik niemals deutlich. Und schön ist sie immer. Dafür muss kein einzelnes Lied herausgepickt werden, das es detailliert zu analysieren gibt. Cantus Descant funktioniert - in meinen Augen/Ohren - nur als Gesamtwerk so richtig gut. Als Hörer ist es beinahe egal, ob der einzelne Track nun zwei oder fast zehn Minuten lang ist. Die meisten gehen eh mehr oder weniger ineinander über.

 

Sarah Davachi sagt selbst über die Platte, dass es die Unbeständigkeit des Daseins behandelt, indem sich kleine Etüden neben harmonische, längere Lieder gesellen. Entgegengesetzte Themen der Musikalität bestimmen aus Sicht der Organistin dieses Album. Ob das für jeden selbst zu hören ist, bleibt dem einzelnen überlassen. In meinen Ohren hat das Werk eher einen Gesamtcharakter und wenig innere, wenn auch nur kleine, konfliktartige Parts. Oder ich hatte beim Hören immer zu oft das Fenster auf, das kann natürlich auch sein.

Cantus Descant ist schon ein sehr getragenes, ruhiges Werk. Auf keinen Fall etwas für zwischendurch. Man braucht schon eine Stunde und zwanzig Minuten Zeit, um es in Gänze genießen zu können. Doch nicht nur Genuss wird hier groß geschrieben. Es ist auch funktionale Musik. Mich persönlich beruhigt diese Platte auf bestechende Art und Weise. Nur durchs Hören und wirken lassen. Das ist wirklich große Kunst. Der Puls senkt sich, aber Müdigkeit tritt bei weitem nicht auf! Selbstredend zeigt Sarah Davachi ihr Können nicht so wie Carpenter, der immer etwas ausrastet mit Händen und Füßen und an den Registern. Davachis Kunst liegt darin, ihren Sinn für lang anhaltende Harmonien und Töne mutig auf ein Album zu bringen. Das ist auch Kunst. Das ist herrliches Können. Dafür kann/muss man dankbar sein.

Vielleicht beginne ich dann doch noch eine Ausbildung...

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