Dienstag, 26. Mai 2020

Hania Rani - Home

Foto: Marta Kacprzak
(ms) Wie sich Charakter entwickelt, weiß ich nicht. Aber manch Idee bleibt ja umso verwunschener, wenn man sie nicht mit harten, wissenschaftlichen Fakten anfüllt. Sondern ihr stets etwas Mystriöses, Nebulöses umgibt. Das wiederum hat dann Potential, dass das Staunen so richtig eindrucksvoll wird. Natürlich kann ich einen Vollmond betrachten und dabei sagen: Das ist jetzt nur so hell, weil er von der Sonne angeschienen wird. Soweit korrekt und nüchtern. Sich aber bewusst machen, dass da ein Himmelskörper um unseren Planeten schwebt, der von abertausenden Kilometern aus angeleuchtet wird und mir dann durchs Fenster scheint... das ist eine ganz andere Seite der Medaille.
So viel zu Idee der Faszination.
Zurück zum Charakter.
Ein Kind aufwachsen zu sehen, ist faszinierend. Die kleinen Schritte. Sitzen. Greifen. Laufen. Sprechen. Jeden Tag etwas Neues dazu lernen. Und dabei einen Charakter entwickeln, eine eigene Handschrift an den Tag legen. Größer werden. Markanter werden. Abgrenzen, Wege finden. Das ist hochspannend.
Und nicht nur bei Kindern.
Das geht in der Musik genauso. Eine Band, eine MusikerIn zu begleiten, die Entwicklungsschritte zu sehen, zu hören, zu verinnerlichen: Das ist auch faszinierend. Denn als Hörender weiß man nie, wohin die Reise geht. Man bekommt nur das Ergebnis des kreativen Prozesses präsentiert und kann dann Rückschlüsse ziehen und sich begeistern lassen. Da ist das Beispiel von Hania Rani sehr beeindruckend. Letztes Jahr erst hat die junge Polin ihren Erstling ans Tageslicht gelegt. Esja war ruhig, filigran, beinahe zerbrechlich. Diese Woche (VÖ: 29. Mai) erscheint mit Home der direkte Nachfolger. Und höre da: Hania Rani hat innerhalb kürzester Zeit einen hörbaren, markanten Charakter entwickelt, sich abgegrenzt, den eigenen Weg gefunden.



Home heißt die Platte. Der erste Gedanke bezüglich des Titels war unkonkret. Denn: Bei instrumentaler Musik, kann es ja mehr oder weniger nach allem klingen. Auch nach zu Hause, Heimat. Ist Interpretationssache.
Diese Spekulation hat sich hier relativ schnell, direkt mit den ersten Takten jedoch erledigt. Wie das? Hania Rani hat weitere Instrumente auf ihrem neuen Album untergebracht, die ein ganz neues, viel klareres, gewissermaßen reiferes Bild der Musikerin zeichnen. Und eine der schönsten Hinzufügungen ist ihre eigene Stimme. Auf fünf der insgesamt 13 Lieder singt sie. Und das klar, aber zurückhaltend. Im Fokus bleibt das Klavier, die Töne der Instrumente. Der erste Track also, Leaving, behandelt das Thema: Gehen - doch weiß ich wirklich, dass es woanders besser ist?! Das Lied ist so zart, so filigran wie ein langsam beginnender Morgen. Ab und an hört man sogar die leicht mechanischen Klänge des Klaviers und im Refrain entsteht ein schöner Schwindel durch den übereinander geloopten Gesang. Dazu gesellen sich dezente elektronische Töne. Eine Revolution im Hause Rani!
Direkt zu Bginn ist klar zu behaupten: Sie ist mit diesem Album ganz schnell raus aus einem diffusen Dickicht aus Neo-Klassik und hat ihren eigenen Charakter gesucht - und hiermit vielleicht gefunden.

Buka klingt in seiner mechanischen Machart ein wenig wie Hauschka und es entsteht eine wuselige Spannung, wo dennoch Ordnung herrscht. Wie ein Ameisenhaufen. Es entwickelt sich ein erhabener Sound, als ob die Königin zutage tritt, nebenbei fällt leichter Regen im Sonnenschein, sie hält eine hoffnungsvolle Rede und tritt wieder ab. Nest geht direkt aus diesem Lied hervor, doch mit ganz anderem Akzent. Der anrührende Gesang hier ähnelt Agnes Obel, aber ihr Klavierspiel ist nicht miteinander vergleichbar. Im Lied ein wunderschöner kleiner Text, dass sich die Protagonistin entschlossen hat, allein zu leben und vollkommen glücklich damit ist.
Auf den Liedern von Home sind unterschiedlichste kleine Geräusche zu entdecken. Hört man auf Letter To Glass eine Schreibmaschine oder das Ticken einer Uhr?
Der Titeltrack wiederum ist beinahe art-poppig und entfernt sich weit von der Neo-Klassik. Sogar Percussion ist darauf enthalten - hier findet jemand seine Rolle im großen, undurchsichtigen Musikbusiness. Dabei erscheinen dann solch wunderbare Zeilen: There is a place so close and far / extremely warm when cold outside.
Und noch mehr Überraschungen und Neuerungen! Zero Hour ist ein Kohlstedt'scher Electro-Track, beinahe tanzbar; in diesem Song und Sound kann man sich verlieren. Atem-Geräusche zum Ende hin verdichten die ohnehin intensive Atmosphäre.



F Major (siehe/höre oben) ist ein Track, einfach mal nach der Tonart benannt. Wieso nicht?! Natürlich ist das Video dazu sehr harmonisch, die Bilder aus Island beeindruckend. Doch andere Lieder (s.o.) hätten sich aus meiner bescheidenen Warte eher geeignet als Single ausgekoppelt zu werden, weil raffinierter, eindringlicher, charakteristischer, ja, besser.
Dazu noch zweieinhalb Beispiele, dieser - hoffentlich ist das bis hier klar geworden - herausragenden Platte. Auf Summer erklingt Vogelgezwitscher, das Klavier setzt erst nach fast zwanzig Sekunden ein. Für mich klingt es nicht nach Sommer, dann wäre es ein zerbrechlicher. Eher wie das sanfte, behütete und frühe Aufwachen auf einer spärlich bewohnten Insel und man steht früh allein am Strand.
Tennen überzeugt noch mal richtig zum Ende hin! Der erste klare Ton erklingt nach 1:24 Minuten, bis dahin erstreckt sich eine elektronische Klangfläche gepaart mit Streichertönen, vergleichbar mit der von uns sehr geschätzten Anne Müller. Der Text schlussendlich von Come Back Home schwingt zurück zum Thema des Albums und schließt es unheimlich harmonisch und sehr bedacht ab.

Wow! 57 Minuten Hörgenuss. Purer Eskapismus. Hörbar stark, wie Hania Rani dieses Album darlegt. Sie hat experimentiert, aber ohne auszubrechen. Ist groß geworden. Erkennbar. Abzugrenzen. Auf eigenen Beinen. Zu Hause. Home.

Hoffen wir, dass dies ganz bald in sicherer Umgebung live zu genießen ist.
Und irgendwann zieht man nicht mehr einschlägige Namen des Genres zu, wie in diesem Text. Sondern den von Hania Rani!

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