Freitag, 27. März 2020

KW 13, 2020: Die luserlounge selektiert

Quelle: mentalfloss.com
(ms/sb) Das will ja in unserer Branche niemand so richtig wahrhaben oder aussprechen, aber ich wage mal die These: Die gesamte Festival-Saison wird flach fallen. Denn - aus meiner Warte betrachtet - ist es äußerst unwahrscheinlich, dass sich in drei Monaten 50.000 Menschen unter freiem Himmel, extrem dicht an dicht (Zeltplatz, vor den Bühnen, im Zelt) aneinander drängen, um sich unter der wunderbaren Sommersonne eine schöne Zeit zu genehmigen. Und das ist fatal. Klar, aus hedonistischer Sicht ist das ein Luxusproblem. Für die ganzen Organisatoren, Firmen, Gerüstbauer, Essbuden, Bands undundund ist es ein reales, mitunter existenzgefährdendes Problem. Viele MusikerInnen setzen auf die Einnahmen im Sommer. Und eine Verschiebung auf später im Jahr ist sicherlich nicht machbar.
Kleine, unabhängige Festivals wie dem Traumzeit, Orange Blossom Special, Immergut, Appletree Garden werden wesentlich stärker darunter leiden, als Rock am Ring oder alles von FKP Scorpio, wo große Unternehmen hinter stehen, die auch sonst Tourneen organisieren. Da werden einige Festivals pleite gehen. Das klingt hart, aber wie anders ist es vorstellbar? Es ist und bleibt eine heillos unsichere, unplanbare Situation. Schlimm, aber irgendwie bekommen wir das hin.

Ablenkung tut gut. Musik tut gut. Dafür sind wir auch da. Luserlounge. Freitag. Selektiert. Ab!

A Choir Of Ghosts
(sb) Bereits seit einem guten Jahr begleitet uns die Musik von James Auger, immer wieder kam ein Lebenszeichen des in Schweden lebenden Briten, doch der Release seines Debütalbums verzögerte sich immer weiter. Doch jetzt ist es endlich so weit: A Choir Of Ghosts veröffentlichen am 03.04. ihr langersehntes Erstlingswerk An Ounce Of Gold. Und ja, es ist rundum gelungen und übertrifft sogar meine Erwartungen. So toll die einzelnen Songs per se schon sind - ihr komplettes Potential schöpfen sie erst als Ensemble aus und zeichnen ein überaus stimmiges Bild eines Mannes, der es ernst meint und der sein Innerstes mit aller Konsequenz nach außen kehrt. Man mag von Folk-Musik ja halten, was man mag, zu diesem Album sollte es jedoch keine zwei Meinungen geben: A Choir Of Ghosts legen ein großartiges, sehnsuchtsvolles, sensibles und doch energisches Album vor, dass ohne Schwächephase auskommt und den Hörer elf Songs lang (inkl. Intro) fesselt. Ganz, ganz stark!


Josh Kumra
(sb) Krasse Story: 2011 zog Josh Kumra mit 19 aus der englischen Provinz nach London, traf dort nach wenigen Tagen auf den Rapper Wretch 32 und nicht mal einen Monat später standen die beiden mit der Single Don't Go auf Platz 1 der Charts. Kurze Zeit später hatte er einen Major Deal in der Tasche - und verspürte plötzlich auch ganz viel Druck, es allen und jedem recht machen zu müssen. Statt sich behutsam auf seine Karriere und das bevorstehende Debütalbum konzentrieren zu können, sollte der junge Mann die Gunst der Stunde nutzen und nur so schnell wie möglich was nachschießen. Dass das zwangsläufig zu einem unbefriedigenden Ergebnis führen musste, liegt auf der Hand. Das hatte sich der Künstler natürlich anders vorgestellt, brach mit dem Business, kehrte aufs Land zurück und ließ sie Musik Jahre lang Musik sein. Sechs Jahre lang ließ Kumra nichts von sich hören, jetzt wagt er sein Comeback und auch wenn seine EP Pull Me Back In nur vier Songs beinhaltet, so merkt man doch vom ersten Augenblick an, mit welch außergewöhnlichem Talent und welch grandioser Stimme der inzwischen 28-Jährige gesegnet ist. Bleibt die Hoffnung, dass er sich diesmal nicht so verheizen lässt, der nächste Release aber trotzdem bald folgen möge.


Víkingur Ólafsson
(sb) Klassik! Jawoll! Warum? Weils super ist und einer der besten Vertreter der aktuellen Generation ist der isländische Pianist Víkingur Ólafsson, der uns 2019 bereits mit seinen Bach-Interpreatition begeistern konnte. Nun versucht sich der 36-Jährige aus Reykjavik an den französischen Meistern Claude Debussy und Jean-Philippe Rameau und wie nicht anders zu erwarten, ist Ólafsson erneut ein Meisterwerk gelungen. 
Der Künstler selbst äußert sich wie folgt tu seinem Album: "Ich betrachte Rameau und Debussy als musikalische Brüder, als verwandte Geister, obwohl der eine 180 Jahre älter war als der andere. Sie waren Musiker der Zukunft, die es liebten, die Dinge in Aufruhr zu bringen. Beide waren außerordentlich talentierte Komponisten – progressive und zutiefst originelle musikalische Denker, die in ihrer Musik zutiefst sinnträchtige Bilder heraufbeschwören konnten. Ich möchte Rameau als Futuristen zeigen und herausstellen, wie tief Debussy im französischen Barock und insbesondere in der Musik Rameaus verwurzelt war. Beim Anhören des Albums soll der Zuhörer fast vergessen, wessen Werk gerade erklingt." (Quelle: Deutsche Grammophon)
Das gelingt dem Isländer prächtig, als Hörer taucht man ab den ersten paar Takten bereits ein in die Musik, lässt sich komplett von ihr vereinnahmen, schwelgt, träumt - und ist doch stets konzentriert bei der Sache, um nur ja nichts zu verpassen. Hört Euch Debussy · Rameau (VÖ: heute!) an, lasst Euch einfangen, verzaubern und inspirieren, wie es vielleicht nur mit klassischer Musik möglich ist.


Weserbergland
(ms) Die Wege des Herrn sind unergründlich. Oder oft sehr schleierhaft. Denn die große Frage zu dieser Musik lautet: Wie kommt eine Band aus Norwegen dazu, sich Weserbergland zu nennen?! Ich bin dort aufgewachsen und als ich davon las, klappte mir die Kinnlade runter. Doch wir haben recherchiert und die Band hat uns mit nützlichen Informationen versorgt. Zum Einen ist es eine Hommage an die deutsche Band Harmonia, die aus Legenden der elektronischen Musik besteht: Dieter Moebius, Michael Rother und Hans-Joachim Roedelius, über den wir kürzlich auch geschrieben haben. Dieses Trio hat - long time ago - in Norwegen eine Platte aufgenommen. Zusätzlich fanden es die Bandmitglieder witzig sich einen deutschsprachigen Bandnamen zuzulegen, nachdem sie mal von der Karlsruher Band Hammerfest gehört haben; zugleich eine Kleinstadt im nördlichen Norwegen! So weit so gut. Alles im Kasten.
Wie klingen sie denn so auf ihrem zweiten Album, das dann auch noch Am Ende Der Welt heißt? Nach Traumlandschaft, Industrie, rauem Meer, leicht psychedelischen Zuständen, entrückt von der Wirklichkeit, aufbrausend und beruhigend zugleich. 42 Minuten lang ist die Platte, die am 24. April erscheint und besteht - sage und schreibe - nur aus einem einzigen Track. Was für ein wunderbares Experiment! Klar, die Leitlinie ist, dass sie sich am Werk von Karlheinz Stockhausen orientieren; dadurch mag diese Musik auf's erste Hören nicht ganz zugänglich wirken. Glücklicherweise haben wir ja momentan viel Zeit, auch mal etwas auszuprobieren, was uns sonst eher befremdlich wirkte. Es knarzt und ist oft arhythmisch, doch als ganzes entwickelt es eine irgendwie greifbare Harmonie. Drauf einlassen und die gewohnten Wege verlassen!!!
Dieser sehr kleine Ausschnitt ist nur mäßig repräsentativ für das Album, aber wie bei einem sehr langen Crescendo läuft es irgendwann genau darauf hinaus:


Sam Russo
(sb) Gefühlt ist Sam Russo auch schon ne halbe Ewigkeit aktiv, den tatsächlichen Durchbruch hat er allerdings bislang nicht geschafft - und das ist vielleicht auch ganz gut so, denn auf diese Weise kann sich der Brite seine Authentizität bewahren und weiterhin völlig ungezwungen das abliefern, was er am besten kann: Lieder über Loyalität, Liebe, Angst, Hoffnung, Verzweiflung und deren Überwindung. Back To The Party (VÖ: heute!) ist sein erstes Album seit fünf Jahren, seit drittes insgesamt und ohne Zweifel sein bisher bestes. Wer gerne Nathan Gray, Jesse Barnett oder Matze Rossi hört, der liegt bei Sam Russo goldrichtig und findet ein musikalisches Fotoalbum vor, das nur so strotzt vor Erinnerungen und Gefühlen. Akustischer Pop-Punk, der übers Ohr direkt ins Herz geht.

 

Squid
(ms) Bewegung muss sein. Auch in diesen Tagen. Die große Frage lautet nur oft: Wie?! Radfahren und spazieren gehen sind probate Mittel und bei dem herrlichen Wetter der letzten Tage ja auch angebracht. Wer Sportgeräte zu Hause hat, nur zu. Aber was derzeit ausbleibt: Der wilde, kollektive Tanz in einem verrauchten, aber sehr guten Club, in dem das Bier fließt, die Boxen ballern und die Menschen sich hingeben. Das kann man sich auch nach Hause holen. Für den sehr extrovertierten Bewegungsteil sind dann in jedem Falle Squid verantwortlich. Das junge Quintett aus Brighton, weiß wie man aus Schlagzeug, Gitarren, Bass, Keyboard und Gesang eine psychedelisch-rockige Explosion entwickeln kann. Zum Beispiel mit ihrer neuen Single Sludge. Das extrem reduzierte Video wird dem Sound nicht gerecht, aber egal. Schalter ein, Schalter aus. Anfangs klingen sie noch ein wenig wie Art Brut, und dann drehen sie immer weiter auf, dass es knarzt und knackt und kracht. Derzeit befinden sie sich im Studio, um ihre erste Platte aufzunehmen, sie soll noch dieses Jahr erscheinen. Ein paar Live-Auftritte stehen auch fest. Naja. Ihr kennt das. Vorerst...

30.05. - Neustrelitz, Immergut Festival
06.08. - Rees, Haldern-Pop Bar
12.08. - Hamburg, Molotow Skybar



Love Fame Tragedy
(sb) Bereits letzten Herbst hatten wir Euch von Love Fame Tragedy, dem neuen Projekt von Wombats-Sänger Matthew Murphy berichtet und am vergangenen Freitag legte der Liverpudlian seine zweite EP Songs To Briefly Fill The Void nach. Die Songs gehen nicht ganz so schnell ins Ohr wie die der Vorgänger-EP, der tatsächlichen Qualität der Tracks tut dies jedoch keinen Abbruch. Mit Elanor Fletcher (Crystal Fighters), Jack River und Maddi-Jean Waterhouse hat sich Murphy namhafte Gäste ins Boot geholt und nährt mit den fünf Songs die Hoffnung auf ein baldiges Album. Das Video (s.u.) wurde übrigens von einem australischen Fan gezeichnet und animiert - schöne, digitale Welt.


Lonely Spring
(ms) Oh weh! Manchmal kommen Bandname und gesellschaftliche Großereignisse auf ungewöhnliche Art zusammen. Lonely Spring. So sieht es aus. Hätten sich auch Quarantäne nennen können. Doch Spaß beiseite. Wie jedem Lesenden hier eigentlich klar sein sollte, verfolgen wir überhaupt keine musikalische Agenda. Selbst das sehr, sehr grobe Label Indie trifft nicht zu. Einfach das, worauf wir Bock haben. Und manchmal haben wir Bock darauf, uns gepflegt und temporeich anschreien zu lassen. Und das machen die Jungs aus Bayern in sehr druckvoller Art und Weise. Es ist sowas wie Emo-Core, aber gut. Nicht kitschig und nicht allzu depri. Sondern direkt drauf los. Geht auch in die Beine. Heute erscheint ihre 5-Track-EP Lovers & Strangers und sie kickt einen wenigstens in Gedanken mal schnell raus aus diesem Wahnsinn.



Kreator
(ms) Und zum Schluss gibt es noch mutmachende Töne für zwischendurch. Zugegeben kenne ich mich mit dem Werk von Kreator überhaupt nicht aus. Metal-Legenden, das ist klar. Mitunter schockierende Cover ihrer Alben; ich erinnere mich an einen gewissen Aufstand, als die großflächige Plakatierung zum letzten Studioalbum Gods Of Violence für Furore gesorgt hat, da es unter anderem gegenüber von Kindergärten hing. "Nothing can divide us" singen sie auf ihrem sehr kurzfristig erschienenen Song 666 - World Devided, ungewohnte Töne. Doch es ist kein ad-hoc-Corona-Track, der mir-nichts-dir-nichts veröffentlicht wurde, sonst hätte man ein derart komplexes Video wohl nicht produzieren können. Erstaunlich finde ich, dass es den Essenern immer noch gelingt harte Musik mit ausreichend Melodie zu verknüpfen. So lässt sich auch ihr aktuelles Live-Album London Apocalypticon – Live at the Round House, das im Februar erschienen ist, recht gut nebenbei hören.
Um die Nachbarn aus der Schockstarre zu holen oder sie in genau diese zu katapultieren: bitte laut aufdrehen:


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Wenn du auf meinem Blog kommentierst, werden die von dir eingegebenen Formulardaten (und unter Umständen auch weitere personenbezogene Daten, wie z. B. deine IP-Adresse) an Google-Server übermittelt. Mehr Infos dazu findest du in meiner Datenschutzerklärung (siehe Blog-Startseite unten) und in der Datenschutzerklärung von Google.