Donnerstag, 22. Februar 2018

Thorsten Nagelschmidt - Der Abfall der Herzen

(ms) Außenstehenden das Wesen und den Charakter der Stadt Rheine zu erklären, ist nicht ganz einfach. An der Grenze zu Niedersachsen, zwischen Osnabrück und Münster liegt diese mittelgroße Stadt mit heute gut 70.000 Einwohnern. Ja, zwischen Domstadt und Domstadt ist das weder Fisch noch Fleisch. Mit dem Auto kommt man selten dran vorbei. Mit dem Zug fährt man durch auf der IC-Strecke Amsterdam - Berlin oder wenn man an die rauschende Nordsee Richtung Emden möchte.
Ja, Rheine hat einen relativ unschönen Bahnhof, okay die eine Seite wurde in den letzten Jahren modernisiert. Die Innenstadt kann mit nicht viel bieten: C&AH&MEinEuropShopsKaufhäuserBuchläden. Wie überall halt. Doch ein paar schöne Ecken sind herauszuheben, unter anderem die schöne und prächtig herausstehende Basilika; hier dürfen auch Protestanten staunen.

In diesen Gefilden der absoluten Normalität und Langeweile wuchs Thorsten Nagelschmidt auf. Den Gitarrenliebhabern unter uns ist er als Nagel und damit ehemaliger Texteschreiber und Sänger der großartigen Muff Potter bekannt. Die Band hat sich vor Jahren leider aufgelöst, Nagelschmidt ist der Kunst und den kreativen Prozessen zum Glück treu geblieben und legt nun mit Der Abfall der Herzen seinen dritten Roman vor. Er erscheint heute im S.Fischer-Verlag.
Zwei weitere Bücher und einen Kunstband hat er vorher schon veröffentlicht, ist also schon etabliert auf dem Literaturmarkt. Keine ungewöhnliche Karriere, wenn man daran denkt, was Sven Regener, PeterLicht, Markus Berges oder Frank Spilker alles geschrieben haben.

Foto: Harald Hoffmann
Worum geht es nun in Der Abfall der Herzen, diesem ungeheuer lesenswerten Roman?
Es ist eine Lesereise, die die Realität auf gewisse Art und Weise sprengt. Denn es geht - so wird es dem Leser zumindest verkauft - autobiographisch zu. Angesetzt ist die Geschichte im nördlichen Westfalen im Jahre 1999. Zwei Alben haben Muff Potter zu dieser Zeit auf dem Markt und sie spielen zwischen Quakenbrück und anderen Weltstädten. Es geht um Nagelschmidt selbst, er schreibt in der Ich-Perspektive. Und das auf angenehm einnehmende Weise direkt, persönlich und unverstellt. Man glaubt ihm jedes Wort, wenn er den furchtbaren Zustand seiner damaligen WG beschreibt, seine verkorkste Beziehung in Worte windet und mit Liebe zum Detail und sehr viel Menschenkenntnis all die Personen aus seinem Umfeld dem Leser so nahe bringt, dass sie im Geist Gestalt annehmen. Hauptsächlich sein Freundeskreis aber auch die Arbeitskollegen. Mit Lagerarbeiten hält er sich über Wasser, ist vorsichtshalber - für die Eltern und das Semesterticket - an der Uni Münster eingeschrieben, schon im x-ten Semester, hat aber noch keinen Seminarraum von innen gesehen.
In diesem Setting wird man mit auf die Reise genommen, die irgendwie nicht so ganz geradeaus geht, sondern einige Kurven einschlägt, einschlagen muss. Die Situation in der WG und mit dem Vermieter ist ungewiss, die der Band auch und die Liebe ein großes Thema. Nicht kitschig, sondern so hart, wie sie jeden einmal erwischt, der richtig verliebt war. Dagegen - und sonst auch zu einigen Gelegenheiten - wird viel getrunken. Schnaps und Wein beim Protagonisten, Schnaps und Bier beim Rest.
Es soll nichts vorweggenommen werden von diesem als Roadtrip anmutenden Roman. Denn jede Seite, die sich so herrlich leichtfüßig und genussvoll lesen lässt, ist es wert, in Nagelschmidts Leben und Kosmos einzutreten. Und hier gelingt ihm ein wirklich gelungener Kniff, der dem Buch ein schönes Alleinstellungsmerkmal gibt. Denn er erzählt nicht nur einfach die Ereignisse von vor neunzehn Jahren, sondern auch den Schreibprozess des Buches an sich. Immer wieder wird man von 1999 nach 2016 katapultiert und erfährt, was leicht und schwer fällt beim Schreiben und was überhaupt der Grund war, die alten Tagebücher herauszuholen und in neuem Licht zu bewerten.

Anders als seine oben genannten Kollegen im Geiste, macht Thorsten Nagelschmidt keine Musik mehr, ist reiner Autor. Das liest man ihm an. Es steckt Leidenschaft, Witz und handwerkliches Geschick in der Art und Weise seines Schreibstils. Das macht Freude.

Davon kann man sich auch bald live überzeugen, wenn er auf Lesereise geht:

22.02.18 Berlin, Festsaal Kreuzberg
02.03.18 Mannheim, Alte Feuerwache
03.03.18 Enkirch/Mosel, Weingut Immich
04.04.18 Bremen, Lagerhaus
05.04.18 Lüneburg, Ritterakademie
06.04.18 Magdeburg, Moritzhof
07.04.18 Dortmund, Dortmunder U
08.04.18 Köln, Gloria Theater
11.04.18 Paderborn, Deelenhaus
12.04.18 Düsseldorf, zakk
13.04.18 Osnabrück, Lagerhalle
14.04.18 Lingen, Centralkino
15.04.18 Münster, Pension Schmidt
16.04.18 Hamburg, Uebel & Gefährlich
17.04.18 Kiel, Studio
20.04.18 Erfurt, Franz Mehlhose
21.04.18 Kassel, GoldGrube
22.04.18 Wiesbaden, Schlachthof
25.04.18 München, Volkstheater
26.04.18 Stuttgart, Merlin
27.04.18 Saarbrücken, Camera Zwo
28.04.18 Trier, Exhaus
02.05.18 Bielefeld, Heimat+Hafen
03.05.18 Nienburg, Kulturwerk
04.05.18 Nürnberg, Z-Bau
06.05.18 Frankfurt, Brotfabrik
08.05.18 Leipzig, Werk 2

Das Buch ist als Hardcover und als ungekürzte Hörbuchversion ab heute überall zu haben. Holt es euch, schließt euer Zimmer ab und lest!
Hier gibt's neben dem Trailer auch eine Leseprobe vom Verlag.

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