Mittwoch, 18. Oktober 2023

Leselounge: Simon Reynolds - Futuromania

(Ms) Das nur zu Erspürende in Worte zu fassen. Das ist Aufgabe und Herausforderung von Menschen, die über Musik schreiben. Wir versuchen uns auch daran, aber es gibt Menschen, die das halt wesentlich besser können und vor denen man halt auch den Hut ziehen muss. Dazu gehört Simon Reynolds, der seit vielen, vielen Jahren für unterschiedliche Magazine und Zeitungen schreibt. Zugegebenermaßen sagte mir sein Name bis vor Kurzem nichts, dann hatte ich sein Buch Futuromania in der Hand und las es begeistert durch.
Das Buch ist eine Sammlung an unterschiedlichen langen Texten und Essays über Musik, die zu ihrer Entstehungszeit neu war und unbekanntes Terrain betrat. Reynolds bezieht sich bei seinen Beobachtungen und Schilderungen auf elektronische (Tanz-)Musik. Dabei ist das Cover des Buches etwas in die Irre führend. Denn das abgewandelte Autobahnschild lässt zu sehr an Kraftwerk denken. Um die geht es aber gar nicht so sehr. Nur ein kurzes Kapitel behandelt die Arbeit von Florian Schneider. Doch diese auffallende Graphik ist natürlich ein Hingucker!

Mit elektronischer Musik an sich habe ich recht wenig am Hut. Doch Reynolds schreibt so frech genial und gut und begeistert darüber, dass mit jedem Kapitel die Neugier wächst. Die Texte sind chronologisch geordnet, also der Erscheinung der Musik nach. Direkt zu Beginn fiel mir sein bestechender Schreibstil auf. Ja, ich bin im Laufe des Lesens ganz schön neidisch geworden. Wie gut, präzise, manchmal vulgär, aber immer super gut recherchiert er über Musik schreibt. Alles, was er über Donna Summer und Giorgio Moroder schreibt, ist faszinierend. Nicht nur das Wegweisende ihrer gemeinsamen Musik schildert er packend, sondern auch wie zum Beispiel I Feel Love entstanden ist. Das macht richtig Freude! Vom frühen Disco und den neuen Klängen des Krautrock arbeitet er sich vor. Gewissenhaft, detailverliebt und in Sphären, die mir völlig fremd waren. Es ist ein großes Vergnügen, wie er die verschiedenen Spielarten der elektronischen Musik voneinander unterscheiden kann. Hier spielen Begrifflichkeiten für Genres eine ganz wichtige Rolle, sie sind notwendig, um die Entwicklung von dieser Musik zu verstehen. Was genau 2-Step oder Jungle ist. Das wusste ich vorher nicht. Hardstep, Grime. Keine Ahnung. Nach der Lektüre umso mehr. Auch wenn mir 95% der Musikerinnen und Künstler in diesem Buch überhaupt nichts sagten, schafft es Simon Reynolds mit seiner eigenen großen Begeisterung und Überzeugung, dass elektronische Tanzmusik ein ganz eigener, faszinierender, erlebenswerter Kosmos ist, dass die Freude beim Lesen nie abreißt, auch wenn ich die Musik, um die es geht, gar nicht höre. Mit aufgerissenen Augen las ich über seine genaue Recherche über Drogenkonsum und das Wesen des Raggae. Am meisten hat er mich mitgerissen, wenn er fast 30 Seiten über Auto-Tune schreibt. Wie genau, passioniert, begeistert und überzeugt muss man sein, wenn man das so genau beschreiben kann wie Reynolds?! Das schwappt aus jeder Seite über und schwächt viele Vorurteile ab! Auch sein Plädoyer über elektronische Dance Music hat es mir wahnsinnig angetan, auch wenn ich eher ein Freund der Gitarrenmusik bin. Mit dem Wissen, dem Feeling, das er durch seine Texte und seinen energiegeladenen Schreibstil vermittelt, fällt es mir sehr leicht, mich darauf einzulassen!

Genau das wünsche ich auch allen anderen Lesenden bei dieser Lektüre! Die gut 360 dicht beschriebenen Seiten des Buches, das im Ventil Verlag erschien, sind sehr, sehr lohnenswert. Für Freaks, Bekloppte, Neugierige und alle, die am laufenden Band erleben möchten, wie genau man über Musik schreiben kann. Das ist sehr beeindruckend und macht unsagbar viel Spaß - große Empfehlung!!!

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