Donnerstag, 12. Oktober 2017

Kettcar - "Ich vs. Wir"

Man trinkt jetzt Wasser: Kettcar. Foto: Andreas Hornoff

(ms) Alle haben im Vorfeld geschrieben, dass Kettcar endlich wieder da seien. Das ist ja grob falsch. Manch einer hatte sogar die Befürchtung, dass sie nach ihrer Pause nicht wieder kommen würden. Das konnte ich mir erst recht nicht vorstellen. Eine Band wie Kettcar legt keinen schleichenden Abgang hin, sondern ein fulminantes Album mit dem Titel Ich vs. Wir, das diesen Freitag auf dem Haus- und Hof-Label Grand Hotel van Cleef erscheinen wird.
Es ist das Album, dass fünfeinhalb Jahre durchdacht wurde.
Was ist in der Zwischenzeit passiert?!

Marcus hat sein Solo-Album geschrieben, eingespielt und ist damit auf Tour gegangen. Reimer hat sich um das Label gekümmert und Lars Aal geräuchert. Doch Kettcar war immer präsent, sie haben in Bremen und Hamburg Konzerte gegeben, bei denen Marcus auch mal den Text vergessen hat. Was darf man von dem neuen Album also erwarten?
Mindestens drei Faktoren erfüllen sich hier:

1.) Wie sich Marcus auf Konfetti ausprobiert hat, schlägt sich auch auf der neuen Platte wieder.
2.) Die Songs sind wesentlich gesellschaftspolitischer als vorher. Zwischen den Runden war ein herausragendes Album in bester Kettcar-Manier mit Geschichten, die für jeden greifbar waren, Rettung vielleicht bis dato das beste Beziehungslied, das man zu hören bekam. Durch globale Entwicklungen (Russland, Türkei, USA, Großbritannien und auch AfD) sahen sich Marcus und Reimer sicher angestachelt, darauf einzugehen. Achja: Gleich ruft jemand ...but Alive, doch das ist Quatsch. Weil:
3.) Das Album ist wesentlich gitarrenlastiger als der Vorgänger. In irgendeinem Nachrichtenbeitrag wurde zu Zwischen den Runden ernsthaft behauptet, dass Kettcar im Schlager angekommen seien. Dieser derben Beleidigung musste man natürlich entgegnen. Es ist feinster Indierock mit mehr E- als Akustikgitarre als zuvor, aber kein 90er Politpunk, was ja auch ernsthaft keiner mehr möchte. Dafür ist man zu reflektiert, zu gut informiert, braucht keine Pauschalisierungen, kann besser argumentieren, ansonsten ist man halt bei Egotronic oder Feine Sahne Fischfilet.

Schauen wir uns die einzelnen Stücke mal an:
Ankunftshalle: Das Album beginnt mit typischem Kettcar-Sound und ihrem guten, alten Storytelling, dass ein Bahnhof und ein Wiedersehen ein Ort und Gefühl ist, das verbindet, das jeder kennt, wenn man wieder vereint wird und die Menschen für einen Moment Menschen und "für einen Augenblick keine Meute sind". Guter Start!
Wagenburg: Hier macht sich deutlich, dass der Klang ähnlich ist wie auf Sylt: Wuchtiger, manchmal komplizierter, einfach rockiger. Es geht soziologisch, psychologisch zu, Gruppendynamiken, Individualität und die Verbindung zum Albumtitel mit der Eröffnung der politisch-gesellschaftlichen Inhaltsebene: AfD, Pegida, Reichsbürger, Chemtrailer, Populisten, Verschwörungstheoretiker, die sich in ihrer Argumentationen in die Wagenburg zurückziehen, ein militärisches Mittel, das aus der Defensive agiert. Doch der Song ist kein Dagegen, es ist ein Beobachten und Schildern.
Benzin und Kartoffelchips: Es schleicht sich hier der Eindruck ein, dass es ein Song ist, der es vormals nicht so recht auf eine Platte geschafft hat und hier nun den Raum findet. Nein, kein Lückenfüller, aber insgesamt einer der schwächeren.
Sommer '89 (Er schnitt Löcher in den Zaun): Es die vorab gefeierte Single und mit/nach Der Tag wird kommen das schwerwiegendste und wichtigste Lied, das Marcus Wiebusch je geschrieben hat. In Verbindung mit dem Video ist es ein Garant für Gänsehaut, stockenden Atem und Tränen. Ich würde gerne wissen, wie es auf betroffene ehemalige DDR-Bürger wirkt. Klar, die Parallele von '89 zu '15/'16 ist gewagt, fokussiert jedoch offen die Arbeit von Fluchthelfern.
Die Straßen unseres Viertels: Für den "Na na na"-Gesang am Anfang muss es eine Strafe geben, das ist ganz schlimm. Jedoch: Hier wird gnadenlos reflektiert und auf die Filterblase eingegangen, in der wir vegetarischen Akademiker uns befinden. Selbst die ZEIT hat das letztens der Band vorgeworfen, hier ist das musikalische Gegenargument. Ein wichtiges Lied!
Auf den billigen Plätzen: Back to the roots. Ein unumwunden gutes Lied, das jedoch nicht so richtig im Kopf hängen bleibt.
Trostbrücke Süd: Nach Landungsbrücken raus und Schrilles, buntes Hamburg ist es der nächste große Hamburg-Song der Band, dieses Mal aus der Feder von Reimer. Es ist das ruhigste Lied der Platte und so so schön. Hörend findet man sich wieder in einer Bus- oder U/S-Bahnfahrt am frühen Morgen. Hier wurde groß getextet mit einem immensen Gespür für das Zwischenmenschliche, Greifbare und gefühlvoll Nachvollziehbare.
Mannschaftsaufstellung: Uhi. Wird es hier antideutsch?! Der Refrain lässt es erahnen, aber ich vermute es ist keine Meinung der Band, sondern eine weitere gute Story. Es ist ein knallhartes, aufmerksames AfD-Portrait und stellt klar, dass jede ihrer Provokationen geplant, durchdacht, inszeniert sind. Am Ende doch die Frage: Muss dieses Lied sein? Oder ist es am richtigen Ort, um als Diskussionsstoff zu taugen?
Das Gegenteil der Angst: Ein gesellschaftliches und nicht befindlichkeitsfixiertes Mutmacherlied.
Mit der Stimme eines Irren: Dümpelt das Album etwa aus?! Nein, nicht mit einer Zeile wie dieser: "Wenn man Grenzen, die man zieht, von oben immer nur als Linie sieht."
Den Revolver entsichern: Das Lied ist so breit und fein und tief, dass ich nur sagen will, dass das Schlussplädoyer für sich steht. Danke dafür.

Ja, die Erwartungen - insbesondere nach der ersten Single - waren groß. Sie werden erfüllt. Ob sie übertrumpft werden, muss jeder für sich entscheiden. "Den Zeitgeist erkennen" klingt so abgegriffen, doch Kettcar haben genau das geschafft und gemacht.
Insgesamt wird es vielleicht nicht mein Lieblingsalbum der Band, doch die Wichtigkeit dessen ist offensichtlich. Texte im Gitarrenpop sind wieder relevant.

Hier sind Kettcar kommendes Jahr live zu bestaunen (wir sehen uns in Dortmund und Hamburg):

18.01. - Saarbrücken, Garage
19.01. - München, Tonhalle
20.01. - A - Wien, FM4 Geburtstagsfest
21.01. - A - Graz, PPC
22.01. - CH - Schaffhausen, Kammgarn
23.01. - CH - Bern, Bierhübeli
24.01. - Erlangen, E-Werk
25.01. - Stuttgart, Theaterhaus
26.01. - Dortmund, FZW (ausverkauft)
27.01. - Bremen, Schlachthof (ausverkauft)
28.01. - Kiel, Max
30.01. - Magdeburg, Altes Theater
31.01. - Dresden, Schlachthof
01.02. - Leipzig, Haus Auensee
02.02. - Wiesbaden, Schlachthof
03.02. - Köln, Palladium
06.02. - Hamburg, Große Freiheit 36 (ausverkauft)
07.02. - Hamburg, Große Freiheit 36 (ausverkauft)
08.02. - Hannover, Capitol
09.02. - Bielefeld, Ringlokschuppen
10.02. - Berlin, Columbiahalle (verlegt aus Huxleys)
23.03. - Essen, Weststadthalle
24.03. - Bremen, Schlachthof





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