(sb/ms) Die Geduld ist am Ende. So sieht es aus. Ich habe einfach keinen Bock mehr auf diese schier zermürbende Situation. Und das geht mir insbesondere beim wundervollen Kulturbetrieb vollkommen gegen den Strich. Dass in manchen Gegenden alles abgesagt wird, kann ich verstehen. Letztes Wochenende wäre ich bei Anna von Hausswolff in Leipzig gewesen. Ich checkte vorher die Inzidenzien und da waren sie schon bei alarmierenden 1000! Dann wurde das Konzert in Tag und Ort verlegt, sodass es unmöglich für mich war, es wahrzunehmen. Und das bei einer Ausnahmekünstlerin, deren Liveauftritt derart nicht so schnell nachzuholen ist. Das hat mich echt geknickt. Weil mir diese Momente den inneren Motor ölen. Nun wohne ich in Niedersachsen, einem Bundesland, in dem es verhältnismäßig ruhig zugeht derzeit. Doch die politischen Akteure haben sich eine wirklich dämliche Handhabung ausgedacht mit der der kulturelle Betrieb, so wie ich ihn wahrnehme, weitestgehend wieder lahm gelegt wird. 2G ist eine super Sache, auch 2G+ ist eine super Sache, die ein möglichst sicheres Ergebnis, bei dem Menschen dicht gedrängt Spaß haben, ermöglicht. Nun heißt es hier aber 2G+Maske! Was soll das denn bitte?! Ich soll also innen, geimpft und getestet, zusätzlich Maske tragen?! Das verhagelt doch den ganzen Zauber. Ja, ich will den Rausch, atmosphärisch und gerne auch mit den passenden Getränken. Wie soll das dann funktionieren?! Tanzen und schwer durch FFP2 atmen?! Nein, danke! Hat sich auch Juse Ju gedacht. Den hätte ich gern am Samstag gesehen, er entschied sich aus diesen Gründen erneut (!) Konzerte abzusagen. Die Frage bleibt: Was kann ich noch planen? Worauf kann ich mich noch freuen? Ganz ehrlich und aus lauter Trotz und Unverständnis allen Nicht-Geimpften: Dann mach den ganzen Laden wieder dicht! Argh!
Doch wir sind ja auch für gute Laune verantwortlich. In Form von Musik. Luserlounge. Selektiert!
Koljah
(ms) Was für eine liebe Einladung. Da fühlen sich alle willkommen! Der Tisch ist reich gedeckt, der Gastgeber bester Laune und alles deutet darauf hin, dass es ein rauschendes Fest wird, wenn Koljah mit Nazis Rein die Gästeliste klar charakterisiert. Ein Track, der nicht nur die eigene Diskographie kritisch beäugt, sondern auch deutlich macht, wo wir hier sind: In einer Gesellschaft, die absolut nichts dagegen hat, wenn Faschos durch Kleinstädte marschieren oder als Abgeordnete in diversen politischen Ämtern sitzen und denen unter anderem eine klare Verbindung ins militant-rechte Milieu nachgewiesen werden kann. Alle her damit! Denn es ändert sich ja nichts. Hat Koljah also kapituliert? Nein, das würde ich nicht sagen, sondern auf gewohnt böse Antilopen-Weise geäußert, was ist. So sieht es nun mal aus, die traurige Wahrheit. Genau deshalb, weil er sie anspricht und keine Parolen schwingt, ist dies ein starker, wichtiger Song. Und wer im Video dazu Bernd Begemann als erstes erkennt, bekommt Applaus.
Nazis Rein wird auf dem Antilopen Geldwäsche Sampler 1 erscheinen, der freundlicherweise am 24. Dezember erscheinen wird.
HFMN Crew - 20 Years Sampler
(sb) Aufgemerkt, es wird großartig! Vor 20 Jahren beschlossen ein paar Musikverrückte aus Manresa in Katalonien, zusammen Konzerte zu veranstalten. Daraus wurde bald ein Unternehmen namens HFMN, das sich im Laufe der Zeit zu einer Institution im Bereich Hardcore und Punk mausern sollte. Und da sind wir, zwei Dekaden und sehr viele Releases später. Zeit, Bilanz zu ziehen, nach vorne zu blicken und die Welt mit einer klasse Compilation zu beglücken. Ich persönlich stehe ja sehr auf Musik abseits der deutschen oder englischen Sprache und da fahren wir mit dem HFMN Crew - 20 Years Sampler (VÖ: 17.12.) hervorragend. Überragend: Patrimoni Mundial von Crim aus Tarragona - was für ein geiler Track! Nicht zu unterschätzen aber auch die Songs von Talco, Anal Hard, Deadyard (siehe Beastie Boys-Cover als Live-Video), La Inquisición und Lion's Law.
Zehn der zwölf vertretenen Beiträge sind aktuell noch unveröffentlicht; ein Grund mehr, sich das Album zu holen. Die Zusammenstellung ist durch die Anordnung sogar noch abwechslungsreich gestaltet, sodass sogar der einzige Tiefpunkt (The Baboon Show) ausgeglichen werden kann. Schwerste Begeisterung - und die Aufforderung, sich genauer mit den einzelnen Bands auseinanderzusetzen. Jetzt vorbestellen und sich dann unter dem Christbaum gepflegt einen hinter die Binde kippen und abgehen!
Michael Rother & Vittoria Maccabruni
(ms) Dass die zwei Schreiberlinge hier sich in dem damaligen Forum der Sportfreunde Stiller kennengelernt haben, ist eigentlich eine eigene Geschichte. Dort las ich (damals noch wirklich jung) den Satz, dass man für bestimmte Musik halt ein wenig älter sein muss, um sie zu verstehen. Anhand meiner eigenen Hörbiographie stimme ich dem bedingungslos zu. Erst vor gut fünf, sechs Jahren begann ich mich für das komplexe Thema Krautrock zu interessieren, was meines Erachtens viel besser mit experimenteller elektronischer Musik zu beschreiben ist, weil so ungeheuer vielseitig. Viele dieser Menschen sind seit Jahrzehnten musikalisch aktiv und kreativ und anscheinend endet das nie. Hans-Joachim Roedelius bringt mit Anfang 80 kommendes Jahr noch eine neue Platte raus. Michael Rother ist 71, ein wahrer Jungspund also, und Weggefährte Roedelius'. Mit seiner Lebensgefährtin Vittoria Maccabruni veröffentlicht er am 21. Januar das Album As Long As The Light. Das ist nicht nur eine musikhistorische Meldung, sondern vor allem eine klangliche. Denn beide verfolgen unterschiedliche Ansätze. Maccabruni bastelt mit elektronischen Moasiken, Rother nimmt gern die Gitarre in die Hand. Das Ergebnis ist ein wundervoller, extrem facettenreicher Mix aus Ambient und Wucht. Besser erleb- als beschreibbar. Das erste Stück Edgy Smiles ist bereits zu hören. Obendrauf gibt es noch einen nerdigen Fakt: Diese Platte ist vielleicht die erste seit sehr, sehr langer Zeit, die Rother nicht in Bevern - mitten im menschenverlassenen Weserbergland (ich weiß, wovon ich spreche) -, sondern der Liebe wegen in Pisa aufgenommen hat.
Admiral Fallow
(sb) Sie haben in Glastonbury gespielt und waren vor 70.000 Zuschauern, Headliner auf dem T in the Park-Festival. Zudem waren Admiral Fallow zusammen mit Paolo Nutini, Frightened Rabbit, den Futureheads und Belle and Sebastian auf Tour. Dennoch sind Admiral Fallow hierzulande nahezu unbekannt, obwohl die Band seit Jahren mit anspruchsvollen Pop, melodischem Rock und hymnischen Refrains überzeugt. Diesem Muster folgt auch The Idea Of You (VÖ: heute!), das neue Album der Schotten. Da es zu weiten Teilen bereits 2019 geschrieben wurde, klingt es deutlich optimistischer und weniger sorgenvoll als es die derzeitige Situation erahnen ließe. So enthält die Scheibe der Glasgower neun schwung- und niveauvolle Songs, die nun hoffentlich auch in Deutschland gehört werden.
Sportfreunde Stiller
(ms) Hier gibt es gar nichts zu hören, aber etwas Großes zu verkünden! Es ist tatsächlich wahr. Und es klingt irgendwie ein wenig aus der Zeit gefallen. Ja: so liest es sich: Die Sportfreunde Stiller gehen wieder auf Tour (s.u.) im kommenden Jahr. Zwar erst im September, aber das ist weise voraus geplant (s.o.). Man munkelte schon oft, dass die Band sich im Stillen aufgelöst habe, aber weit gefehlt. Peter, Rüde und Flo sind am Start und man darf sehr, sehr gespannt sein. Vor fünf Jahren erschien ihr letztes Album Sturm & Stille und wir müssen auch ganz ehrlich sein: So richtig vermisst hat sie sicherlich keiner. Lange hielten sie sich extrem gut mit einem Mix aus sanftem Liebeslied und irrer Blödelei. Die Frage stellt sich: Braucht es das heute noch? Klar, ein gutes Liebeslied kommt immer zur rechten Zeit. Aber Lieder à la Ich, Roque sollten wirklich in den Mottenkisten der Musikgeschichte verschwinden und dort bleiben. Nun sind sie wieder im Sport-Outfit zu sehen, puh! Hart! Die kleinen Videobotschaften langjähriger WeggefährtInnen auf ihren sozialen Medien sind ein schöner Spaß, aber ich blicke doch eher zweifelnd drein, was das geben wird. Sicher kommt bald die Albumankündigung und die erste Single, so läuft das ja nun mal. Aber ganz klammheimlich freue ich mich auch ein bisschen drauf, wenn sie in Bremen spielen. Und wenn es nur der Nostalgie wegen ist...
16.09.22 – Ludwigsburg, Scala 17.09.22 – Karlsruhe, Substage 19.09.22 – Frankfurt – Zoom 20.09.22 – Dortmund, FZW 22.09.22 – Potsdam, Waschhaus Arena 23.09.22 – Rostock, Mau Club 24.09.22 – Bremen, Modernes 26.09.22 – Dresden, Alter Schlachthof 27.09.22 – Erfurt, Club Central 28.09.22 – Erlange, E-Werk
Slow Leaves
(ms) Ja, wir kommen nicht mehr umhin. Weihnachten steht vor der Tür. Warum einige Städte jedoch schon seit zwei Wochen entsprechend geschmückt sind, entzieht sich vollkommen meinem Verständnis! Okay, an diesem Wochenende steigt der erste Advent. Dafür habe ich dann schon Verständnis.
Worauf ich hinaus will: Weihnachtsstimmung. Kommt bei mir nicht mit Lichterketten und Baumschmuck zustande. Sondern zu einem großen Teil durch die passende Musik und natürlich ist Last Christmas ein überirdischer Hit! Ich brauche diese Lieder, auch die klassischen, die in der Kirche gesungen werden, um diesen Zauber zu erfahren. Da dürfen auch gerne Oldies immer wieder neu interpretiert werden, ich finde es super, wenn es gut gemacht ist. Slow Leaves haben es da sehr gut gemacht mit Have Yourself A Merry Little Christmas. Wobei der letzte Satz eher im Singular stehen müsste. Hinter dem Namen steckt der Kanadier Grant Davidson, der auch auf seinen eigenen Liedern gerne etwas melancholisch und nachdenklich ist und keine Scheu vor großen Melodien hat. Also: Einen schönen ersten Advent allerseits...
Sea Wolf
(ms) Wirklich gute neue Musik zu finden, ist genau die Suche der Nadel im berühmten, alten Heuhaufen. Der Heuhaufen ist unser E-Mail-Fach und die Nadel, auf die uns freundlich hingewiesen wurde, heißt Sea Wolf. Und die Band um Alex Brown Church ist sicherlich genauso genervt von C. wie ich. Denn sie haben auch allen guten Grund dazu. Letztes Jahr erschien ihr neues Album Through A Dark Wood und im Laufe der Pandemie, der Absagen, der Unmöglichkeiten von Tourneen, Promo etc. ging das ganze schlicht und einfach unter. Das ist doch echt die Definition von Schicksal, oder? Da die Platte aber wirklich gut ist und auch die Band von der eigenen Qualität sehr überzeugt ist, gaben sie der Scheibe eine zweite Chance und veröffentlichten sie als erweiterte Version letzte Woche erneut. Was mich am Sound der Band so fasziniert, ist, dass er auf eigentümliche Weise einen sanften Klang der besten Coldplay-Zeiten und filigranen Alt-J-Arrangements vereint. Davon darf man sich auch im kommenden Jahr live überzeugen. Eine Tour soll stattfinden, die genauen Termine werden wir selbstredend nachreichen, wenn sie feststehen! Bis dahin sollte dieses tolle Stück auf Repeat stehen:
(ms) Kleine Konfrontation aus Kärnten. Und dieses Mal gar nicht literarisch, sondern aus der Musik. Denn: Seit vielen, vielen Jahren bin ich vom Werk Josef Winklers auf schauderliche Weise begeistert. Er schreibt in all seinen Büchern eigentlich immer über die selben drei, vier Themen. Und dennoch bleibt es aufgrund seines gewaltigen Schreibstils immer wieder lesens-, nein, verschlingenswert. Er kommt aus Kärnten. Herwig Zamernik ist mit Kärnten auch tief verbandelt. Doch er bejaht das Leben, statt es wie Winkler immer und immer wieder an seine aushaltbaren Grenzen zu drängen. Bekannt wurde Zamernik mit Naked Lunch. Doch seit vielen Jahren macht er auch als Fuzzman Musik. Und betritt dabei ganz andere Sphären und Themen. Das durchaus Schwere und Melancholische von Naked Lunch hat auf seinen Solo-Platten nicht viel Raum. Das ist gut.
Am 12. November ist sein neues Album Endlich Vernunft erschienen. Und plötzlich sah ich mich mit einem alten Thema konfrontiert: das Genre. Immer wieder versuche ich mich davon frei zu machen, immer wieder versuche ich das zu begründen, immer wieder sehe ich mich genau da gefangen, dass der Mensch Schubladen braucht. Und dieses Mal hilft sie mir echt weiter. Denn das Wort 'Schlager' ließ irgendwie nicht lange auf sich warten. Fuzzmans Musik ist so heiter, pathetisch, teils gemütlich und leicht, dass es auf mich schlageresk wirkt. Weit gefehlt mit dieser spontanen emotionalen Übersprungshandlung! Und zum Glück hörte ich letztens von Sven Regener einen sehr guten, sinnigen Einwand zum Genre. Schlager ist nur Schlager, wenn er ökonomisch floriert. Sonst ist es Schrott. Schlager dient einzig der wirtschaftlich erfolgreichen Funktion. Mehr will dieses Genre gar nicht. Dabei verwies Regener auf Reinhard Mey. Genau. Der hat nämlich Folgendes gesagt: „Ein Schlager ist nur gut, wenn er sich gut verkauft. Ein Chanson kann ein Meisterwerk sein, auch wenn es nur drei Menschen findet.“ Ha! Was für ein unverschämt guter Satz! Den lassen wir hier mal genau so stehen und betrachten Endlich Vernunft als poppigen Chanson mit österreichischem Charme!
An Baum für die Nacht ist das erste Stück und hier wird vorweggriffen auf den Schluss - ja, es ist eine Coda - das Album endet mit der gleichen Melodie wie es startet. Die acht Stücke sind also bestens eingebettet. Und fangen mit Kärntner Dialekt an. Doch das ist auch für einen Wahlnorddeutschen wie mich gut verständlich (liebe Grüße an Voodoo Jürgens an dieser Stelle). Hochromantisch ist der Gedanke, eines Tages mit den Krähen zu fliegen, die einen Baum für die Nacht suchen und die jetzt erstmal nur durchs Fenster zu beobachten sind, während das Herz schwer ist: Eskapismus jetzt!
Gib Mir Mehr danach ist Aufbruch. 'Mir fehlt der Glauben an den Glauben.' Das sind Zeilen, die bleiben und hoffnungsvoll fatalistisch dreinblicken lässt. Die Bilder, die Zamernik darin schafft, sind tief verwurzelt in seiner ehemaligen Wahlheimat zwischen Menschen und Landschaft - ein Motiv, das immer wieder aufkommt. Die Frage vom Anfang steckt auch im nächsten Track: Weil Ein Schlager Vergeht. Da steckt die Krux ja schon im Titel. Das hier bleibt halt, weil es so rund ist und der Pathos aus dem Herzen und nicht aus einem Auftragsschreiberstudio kommt. Im Lied hängt schon der österreichische Hang zum Tod, der mit einem trotzig fröhlichen Blick auf ach-so-schöne Leben aufgebrochen wird. Das funktioniert gut, weil auch die Instrumentalisierung dieses Liedes so leicht ist. Ebenso locker, beinahe kindlich-naiv geht es mit Und Ich Träume Vom Meer weiter. Warum immer alles so schwer machen, alles zerdenken, zermalmen, wenn auch ein einfacher Traum von etwas sehr Schönem möglich ist?! Eben! Danke an diese Einstellung an dieser Stelle. Das Thema Heimat kommt logischerweise auf dem Track Ein Heimatfilm erneut auf. Und die Assoziation, dass hier vielen anderen Songs die Ehre erweisen wird, nimmt nicht ab. Textlich bei Karat und musikalisch in der Bridge später bei Madsen. Kann natürlich geplant sein oder nur in meinem wirren Kopf so erstehen. Heimat kann alles sein - Pornofilm oder Witz auf Ketamin. Das ist das schöne. Insbesondere dann, wenn dieser Begriff von EkelhAfDen besetzt wird. Holen wir ihn uns zurück.
Verhältnismäßig derber geht es auf Da Ist Doch Nichts Verkehrt zu. Die Bläser kommen hier herausragend zur Geltung, sorgen auf einem eh abwechslungsreichen und hörenswerten Album für noch mehr Facetten. Kurz vor Schluss gibt es mit Vom Ende noch etwas melancholische Schwere auf die Ohren. Sehr mutig, eines der acht Lieder gar als Instrumental erscheinen zu lassen. Doch es passt so, so, so gut ins Gesamtbild, stört in keinem Takt und macht das Album noch breiter, ehe es dort endet, wo es begann.
Rund, harmonisch, einfach nur schön. Weit entfernt vom Schlager, nah am Herzen, der Heimat, dem Saloppen zwischendurch. Endlich Vernunft ist emotional statt rational. Genau daher ist es so gut!
(ms/sb) Nenne mir eine Person, die morgens vor der Arbeit schon bei klarem Verstand ist, und du nennst mir einen Lügner. So ungefähr. Immer schön von sich auf andere projizieren. So kommen wir weiter. Flapsigkeit beiseite. Ich glaube wirklich, regelmäßig eine Person zu sehen, die morgens, wir sprechen über den Zeitpunkt kurz vor sieben Uhr, recht klar ist.
Durch die Stadt, in der ich arbeite, fahre ich morgens durch die FußgänerInnenzone, da dort noch heilsame Stille herrscht. Dabei passiere ich die Redaktionsräume der lokalen Zeitung. Das finde ich gut als ehemaliger freier Mitarbeiter eines vergleichbaren Blattes. Hat immer Spaß gemacht. Echt. Ob Männergesangsverein oder Jahreshauptversammlung vom Zieglerverein. Die Artikel waren dann auch immer an einem ähnlichen Ort zu sehen, wie ich ihn morgens fahrend passiere. Im Eingang zur Redaktion sind an einer Seite mehrere gläserne, flache Schaukästen. Darin sind die Seiten mit den lokalen Nachrichten zu sehen. Wie schön altmodisch und analog. Ich bin großer Freund davon. Romantisch ist es, gewissermaßen. Oft steht morgens eine Dame lesend davor. Wie toll! Sie weiß morgens schon den neuen heißen Scheiß, um ihn dann auf der Arbeit in die Runde zu bringen. Sie scheint mir zudem - aus dem Augenwinkel betrachtet - ehrlich interessiert an dem, was in ihrer Stadt so passiert. Und ich frage mich, wann ich das letzte Mal eine Printzeitung in der Hand hatte...
Digital ist besser. Was natürlich seit jeher Quatsch ist. Wer heut' noch was auf sich hält, liebt ein analoges Mädchen in einer digitalen Welt. So ist es. Danke, Fortuna Ehrenfeld. Ab geht's:
Frost und Frust (MC Sampler)
(sb) 22 Tracks zwischen Rock, Punk, Indie, Hardcore, Rap, Pop und Emo - gute Bandbreite, oder? Viele der Songs waren bisher physisch nicht erhältlich oder gar gänzlich unveröffentlicht. Für Sammler also durchaus eine lohnenswerte Geschichte. Der Tape-Sampler Frost und Frust (VÖ: 17.11.) aus dem Hause Uncle M versammelt Bands und Künstler wie die Blackout Problems, The Intersphere, Nathan Gray oder Van Holzen (siehe Video). Mein persönliches Highlight liefert Shitney Beers (Peaches Style) und der Soundalike Casper-Award des Jahres geht unangefochten an Sperling und ihren Track Schnee. Super Sache, um neue Bands kennenzulernen und 77 Minuten ordentliche Unterhaltung.
Delta Sleep
(sb) Bereits letzten Freitag veröffentlichten Delta Sleep ihr neues Album Spring Island. Das wiederum lässt mich irgendwie ratlos zurück, weil ich es phasenweise richtig geil finde, dann aber auch Passagen entdecke, bei denen ich einfach nur skippen möchte. Ein Hauch von Jekyll & Hyde auf CD gepresst. Sehr seltsam, das Ganze. Aber genau deswegen auch sehr faszinierend und hörenswert, wenn man bereit ist, sich dieser Herausforderung zu stellen. Dabei ist die musikalische Gestaltung noch nicht mal sonderlich experimentell, sondern folgt weitestgehend geläufigen Indie-Mustern.
Im neuen Jahr auch live:
29.05.: Hamburg, Hafenklang
30.05.: Köln, Bumann & Sohn
01.06.: Mainz, Schon Schon
02.06.: Karlsruhe, Jubez
07.06.: München, Kranhalle
10.06.: Berlin, Cassiopeia
11.06.: Leipzig, Naumanns
Broilers
(sb) Ja, ich mag die Broilers! Eigentlich. Entsprechend gefeiert habe ich auch ihr Album Puro Amor, das mich absolut überzeugt hat. Musikalisch ist auch an ihrem neuen Werk Santa Claus (VÖ: 12.11.) wenig auszusetzen. Ich hatte das Schlimmste befürchtet, aber die Scheibe ist überraschenderweise bei weitem nicht so peinlich wie erwartet. Es folgt das große Aber! Ernsthaft: Brauchts das? Ein Weihnachtsalbum? Das hat schon einen ganzen faden Beigeschmack und wenn ich ehrlich bin, dann nervt es mich gewaltig, dass die Düsseldorfer auf diesen Zug aufgesprungen sind. Das lässt sie in meiner Achtung doch gewaltig sinken. Klar: Ihnen wird das selbstredend ziemlich egal sein...
Roedelius & Story (ms) Verneigen wir uns mal eben. Vor einer Lebensleistung. Der Mensch heißt Hans-Joachim Roedelius und ist 87 Jahre jung! Am 28. Januar wird er zusammen mit Tim Story ein neues Album veröffentlichen! Das ist Wahnsinn! Ein Wunder, dass er noch lebt. So hat Roedelius in den 60er Jahren den Zodiak-Club in Berlin mitgegründet. Sicher eine Zeit, in der manch Mittelchen unterwegs gewesen ist. Den Club gab es nicht lange, aber für die Entwicklung experimenteller Musik war er von entscheidender Bedeutung! Selbst spielte Roedelius mit Harmonia und Cluster. Die Zusammenarbeit mit Brian Eno brachte ihn in ganz neue Sphären. Ein Leben der Musik gewidmet. Unaufhörlich, voller Ideen und Leidenschaft und brennender Energie. Nun arbeitete er für die Platte 4 Hands mit dem amerikanischen Komponisten Tim Story zusammen. Das Beeindruckende hier: Der Name ist Programm! Dieses Werk wurde nacheinander am gleichen Instrument eingespielt und ist Dokument einer Konversation zweier Menschen über das selbe (nicht nur das gleiche!) Instrument. In dieser Herangehensweise steckt so viel Zauber, Magie und Anmut, dass es mich jetzt schon verzückt. Das Experimentelle also in der Herangehensweise und nicht im Klang. Da ist es reduziertes Klavier, das auf dem ersten Stück Spirit Clock zerbrechlich, melancholisch, fein klingt. Der Januar kann kommen. Dann wird sich erneut verneigt!
Fishbach
(ms) Was ist eine kluge Veröffentlichungsstrategie? Das frage ich mich schon ziemlich lange und würde gerne mal in den Räumen von Labels und Werbeagenturen sitzen, um deren Pläne zu lauschen, wie sie sich denn die Vermarktung des kommenden Albums von XY vorgestellt haben. Da stellt sich unter anderem die Frage, wann man mit wie vielen Liedern auf das Album aufmerksam machen will. Oft sind im Vorhinein schon zahlreiche Stücke zu hören. Da bietet ein Album als Gesamtkunstwerk kaum noch Überraschungen. Ob sich Fishbach etwas dabei gedacht hat, weiß ich nicht. Aber ich vermute mal. Die Französin veröffentlicht im Februar ein neues Werk. Name unbekannt. Datum unbekannt. Super, das gefällt mir. Es gibt aber schon was zu hören. Einen Teaser. Hervorragend. Eine Minute und dreizehn Sekunden. Mehr nicht. Das ist alles, was an Information bereit steht. Das finde ich klug und pfiffig. Logisch, da wird noch mehr kommen. Aber wozu jetzt derart viel Material auskoppeln? Téléportation heißt das Stück, in das wir reinlauschen können und es verrät herrlich wenig. Breite Synthie-Flächen, ihre kräftige Stimme und eine mystische Zerbrechlichkeit samt großer Gitarren! So wird Spannung erzeugt!
Edit: Hier gibt es nun den gesamten Track zu hören.
Pöbel MC (ms) Auf der Suche nach einem Ventil. Denn der Druck steigt. In mir. Auf der einen Seite ist das ja momentan eine wahnsinnig verzwickte Angelegenheit. Im Frühjahr habe ich mich selbst angesteckt und ich habe keine Ahnung, wo. Es war auch echt nicht geil. Auf der anderen Seite habe ich null Verständnis mehr für all die Verweigerer. Ausgeliefertsein und Zorn! Meinen kathartischen Moment dieser Tage hatte ich erneut bei Pöbel MC, um diesen Druck mal wieder rauszulassen. Wie geil, quasi live mitzuerleben, wie er immer besser wird. Er ist einfach herausragend darin, geschmackvoll und überzogen prollig auszuteilen. Genauso gut kann er auf einer enormen intellektuellen Ebene analysieren und einordnen. Wahnsinniges künstlerisches Zusammenspiel in dieser einen Person! Und er geht in die nächste Runde. Im Frühjahr wird seine neue EP Backpfeife Auf Endlosschleife erscheinen. Haha, super Anknüpfungspunkt in der eigenen Diskographie. Mit Rollkragenschläger ist der erste Hit draußen samt extrem reifer Schauspielleistung im Video. Ventil gefunden!
(ms) Podcasts sind überhaupt nicht mein Ding. Wenn ich etwas höre, muss ich etwas nebenher machen. Beim aufmerksamen Musikhören ist es entweder eine Runde Tetris oder ich schreibe händisch auf, was mir zu Klang oder Text einfällt, während ich Kopfhörer trage. Dann ist es ein sehr konzentrierter Vorgang. Doch vielleicht öffnet sich das Podcast-Hören nun mit ganz kleinen Schritten. Den ersten habe ich dieser Tage unternommen bei Küchentätigkeiten. Ich war zu faul einen toll klingenden Artikel zu lesen. Doch dann sah ich die Funktion, ihn mir vorlesen zu lassen! Wie genial ist das denn bitte?! Nicht nur für Faule, sondern auch Menschen, die Probleme mit dem Sehen oder Lesen haben. Super Sache! Im doppelten Sinne wurde ich hellhörig. Denn bei dem Artikel ging es um Jan Delays Schuhe. Ne, was der trägt, ist mir egal. Ein Rechercheteam hat Folgendes ausprobiert: Große Modeketten werben damit, alte Schuhe zu recyceln. Das scheint in einigen Fällen eine riesige Nebelkerze zu sein! Wie diese Recherchen zeigen, wo auch Schuhe von Kevin Kühnert oder Fynn Kliemann abgegeben worden sind, wurden Schuhe, die bei Zara in eine Recycling-Box abgegeben worden sind, direkt zu einem Schrott- und Müllverarbeitungsbetrieb gefahren, obwohl sie zum Kilo-Shop des DRK gehen sollten. Spannend wie ein Krimi, echt! Nicht nur Zara, sondern auch leider das Deutsche Rote Kreuz stehen diesbezüglich unter großer Erklärungsnot. Extrem lesenswert! Oder vorlesenswert! Mehr zum Thema Podcast: Bald!
Hörenswert sind wir auch! Klar! Es geht ja um Musik. Logisch. Binsenweisheit. Luserlounge. Start:
El Mariachi
(sb) Kann man so machen: Nach schlappen 17 Jahren hauen El Mariachi mal wieder ein Album raus und klingen dabei so geschmeidig, als hätten sie die Zwischenzeit mit einer ausgedehnten Frischzellenkur überbrückt. Crux heißt das gute Stück, erscheint am 19.11. und knallt ganz wunderbar. Textlich top mit eindeutiger politischer Positionierung, geiler melodischer Punkrock zum Abgehen. Das Thema "Solidarität" wird bereits ganz zu Beginn in den Fokus gerückt und zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze Album. An dieser Stelle komm ich nicht umhin, den Pressetext zu zitieren: "Es ist die letzte Patrone für die
Zärtlichkeit der Völker und gegen Christian Lindner." Sehr schön, sehr (Achtung Wortspiel:) treffend - Göttingens Finest haben wieder zugeschlagen und sind hoffentlich gekommen, um zu bleiben.
Live hier zu bewundern:
22.01.: Göttingen, JUZI (Releaseparty)
25.02.: Gießen, AK44
26.02.: Solingen, Waldmeister
18.03.: Hamburg, Fabrique
19.03: Rostock, JAZ
22.04.: Braunschweig, Nexus
23.04.: Berlin, Trixxter
26.05.: Frankfurt/Main, Location folgt
27.05.: München, Kafe Marat
28.05.: Nürnberg, Kantine
17.06.: Osnabrück, Location folgt
Mola
(sb) Diese Stimme! Ich gebe zu: Ich war schockverliebt! Dabei fing es so grausam an, als vor ca. einem Jahr der Moderator eines Indie-Internet-Radiosenders die "neue Single von Mola" ankündigte. Beim Gedanken an den ehemaligen VIVA-VJ schwante mir Übles, die Überraschung fiel dann aber umso positiver aus. Heute erscheint nun Schnee im Sommer, das Debüt-Album der Münchnerin. Wie nicht anders zu erwarten ist es großartig, transportiert ganz große Emotionen und ist - na ja - schon ziemlich unique. Und da sind wir wieder bei der Stimme... Wie man gleichzeitig so melancholisch, arrogant und sinnlich klingen kann, ist mir ein absolutes Rätsel. Ehrlich gesagt bin ich mir gar nicht so sicher, ob ich es lösen möchte, denn musikalisch packt mich dieses Mysterium ungemein. Auch die Album-Gäste Hayiti, Fatoni und Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys passen wie die Faust aufs Auge und runden die Scheibe perfekt ab. Los, kaufen!
Placebo (ms) Mir fällt ein Stein vom Herzen! Die Enttäuschung vom Track davor ist verflogen! Bei Beautiful James meinte ich schon, dass Placebo alles dürfen, weil sie nichts mehr beweisen müssen. Sie dürfen auch einen 08/15-Radiohit schreiben, klar. Dem steht nichts im Wege. Was mir dabei fehlte, war der Placebo-typische Druck und die hörbar anders gestimmten Gitarren. Das ändert sich nun mit Surrounded By Spies, das diese Woche erschien. Viereinhalb Monate vor Veröffentlichung von Never Let Me Go also ein wirklich hervorragender Track von Molko und Olsen! Im dazugehörigen Visualizer-Video ist Brian Molko mit langen Haaren und Schnurbart zu sehen. Wie wandelbar kann man sein?! Eben! Dieses neue Stück ist richtig dicht, es schnürt einem beim Hören beinahe die Kehle zu. Tolle Dramatik, die auch im Titel zu finden ist. Ist es eine klangliche Verfolgungsjagd oder eher ein psychischer Druck, der sich bemerkbar macht?! Wie dem auch sei! Das hier ist ein Placebo-Stück, so wie ich es mir erhofft habe! Da warte ich gerne noch bis in den März!
Enfant Sauvage (ms) Welche Musik entspannt? Zur Beantwortung dieser Frage kommt es meines Erachtens auf den Grad der Entspannung an. Wozu muss ich entspannt sein? Wenn ich beispielsweise am Laptop arbeite, höre ich auch Musik, laut. Wichtig: Sie darf nicht deutschsprachig sein, sonst komme ich aus dem Konzept und sie braucht das richtige Maß an Groove, um mich bei Laune zu halten. Genre ist wie immer egal. Als ich dieser Tage am Schreibtisch saß, hörte ich neugierig Enfant Sauvage und das Konzept ist voll aufgegangen. Da ging die Arbeit noch leichter von der Hand! Dahinter steckt Guillaume Alric, der mit seinem Cousin The Blaze ist (Territory zu Recht ein immenser Hit!). Erneut so wahnsinnig ausgefeilte, runde, umsichtige, extrem tanzbare elektronische Musik aus Frankreich. Was schwelt da nur, dass die es immer wieder schaffen, solch tolle KünstlerInnen hervorzubringen?! Der elektronische Pop hat für mich eine Easy Listening-hafte Komponente, weil es so hervorragend nebenher spielen kann und dennoch wirkt. Tanzen am Schreibtisch wäre mit dieser Platte gar kein Problem. Im Club auch nicht. Dass beides geht, zeugt von wirklich guter Musik! Außerdem sprach mich der Albumtitel Petrichor (VÖ: 19.11.) direkt an! Ein Wort, das Erdgeruch nach Sommerregen bedeutet. Oh, du wundersame Poetik! Laut drehen:
Daniel Benyamin (ms) Zeitsprung zurück. Fast zehn Jahre ist es her. Dezember 2011 in Münster. Im wundervollen Amp, das es leiderleiderleider nicht mehr gibt, spielte niemand geringeres als Blackmail! Was für eine Wucht. Es war seltsamerweise nicht soo gut besucht, aber das heißt ja nicht, dass die vier nicht die Wände auf ihre Grundfeste hin erschüttert haben. Massiv! Überraschend die Vorband. Das waren Sea + Air. Das Paar mit dem herrlichen Wortspiel im Namen. Es hätte nicht mehr lange dauern können, dann wären die Zeitpunkte des Auftritts vertauscht, so gut standen ihre Chancen wirklich stark durchzustarten. Es kam mal wieder anders. Nicht nur die Band, auch die Beziehung löste sich auf. Also erstmal Pause. Nun gibt es den Solo-Erstling von Daniel Benyamin! Wie toll, nach so langer Zeit wieder überrascht zu werden! Digital Lovers ist der erste Track, der zu hören ist. Das Album Eral Fun folgt Anfang Februar (wir werden berichten!). Ganz soo weit von dem früheren Bandsound ist er gar nicht entfernt. Zumindest was die Herangehensweise an Musik anbelangt. Das ist wunderschöner, toll komponierter, ausgefuchster Art Pop, ohne dass er zu überschwänglich oder aufdringlich in seiner künstlerischen Gestaltung ist. Lauert da schon ein Anwärter auf das Album des kommenden Jahres?! Wir werden sehen... zum Beispiel hier:
(ms) Zu spät für die richtige Epoche geboren. Das denke ich mir häufig. Gerne wäre ich in den 70/80ern als Musikhörender aufgewachsen. Was muss das für eine irre schnelle, kuriose, komplett überdrehte, vielschichtige Zeit gewesen sein? Krautrock, Postrock, NDW, experimentelle Musik ohne Ende und die, die heute groß sind, sind es da gerade erst geworden. Nun, man kann sich das ja nicht aussuchen und so war mein erstes Konzert halt DJ Bobo. Fand ich damals super und dass ich das heute behaupten kann, finde ich heute gut. Und schweife jetzt ab.
Insbesondere der elektronische Sound der 80er war schon bestechend. Das, was heute Dark Wave genannt wird. Oder auch großer Pop. Teils ganz starr, teils unglaublich bunt und quietschig. Ein paar ProtagonistInnen waren zugleich total lethargisch und dennoch völlig tanzbar. Was für ein kruder Mix, der auf zauberhafte Weise aufgegangen ist. Magisches Medium Musik.
Wandelbares Medium Musik. Das müssen sich auch Deniz Cicek und Robert Heitmann gedacht haben. Zusammen sind sie Krakow Loves Adana. Seine Wurzeln in Polen, ihre in der Türkei, kennengelernt in Bielefeld. So ist das nun mal. Prima! Das Wahlhamburger Duo veröffentlicht am 12. November ihre neue Platte: Follow The Voice. Was für ein ungemein guter Titel, wenn man sich den Sound und den Weg dahin anschaut. Anhört. Auf diesem Album ist die Band so tanzbar, elektronisch, catchy wie noch nie zuvor. Und das in benanntem 80er-Klang! Deniz' Stimme ist so wunderbar weich, warm, kraftvoll, genau. Mit dem neuen elektronischen Sound geht sie ebenso einher, wie mit dem melancholisch-elektronischen Art Pop vorheriger Veröffentlichungen. Der Stimme gefolgt. Die muss geflüstert haben: Macht das, es wird gut!
Das ist es auch!
Der Start gibt die Marschrichtung vor: Synthies und Drums aus der Dose. Direkt zu Beginn strahlt auf All My Life Deniz' Stimme. Und direkt ist das zu hören, was ich mit tanzbarer Lethargie anschnitt. Das Tempo ist gemäßigt und dennoch ist der Klang ganz präzise, zwar durchaus andächtig, aber auch sanft und warm. Für den folgenden Titeltrack gehören die Boxen bitte laut aufgedreht! Das Stück lag schon lange bereit, sollte eigentlich auf dem letzten Album erscheinen, doch es wollte einfach nicht so richtig klappen. Also: Neuer Sound, neues Album. Eine verzerrte Gitarre ist zwar zu hören, aber der rein elektronische Klang dominiert klar. Das war nicht immer so. Mir fällt kein anderer Begriff als Harmonie ein, der dieses Lied genau trifft. Und wie toll der Bass zum Ende hin wummert! Super! Und wenn es möglich ist, würde ich mich gerne in die Stimmlage ganz zu Beginn von Young Again einwickeln. So kräftig und rund und auf gewisse Weise streng. Follow The Voice!
Catchy wird es auf Dream House obendrein! Die Hook von diesem Lied ist so simpel wie genial. Ein paar Töne hoch und wieder runter. Dazu passend eingesetzter Bass, ein einfacher Rhythmus und diese herrliche Synthie-Spielerei. Das mag nach viel klingen, doch der Sound ist ganz reduziert und eben genau dadurch wuchtig und präzise. Wow! Und: Ist Taint My Mind jetzt schon Techno? Je öfter und intensiver ich dieses Album höre, desto mehr zieht es mich in seinen Bann. Ich stelle es immer ein wenig lauter, lasse Melodie, Stimme und Rhythmus immer tiefer in mich eindringen und kann genüsslich die Augen schließen. Der gesprochene Part hier hat gar einen programmatischen Charakter. Das ist schon unglaublich gut gemacht! Hut ab!
Mit What Will Never Be zeigen sie, dass sie auch glasklaren, grandiosen Pop können! Wobei die Formulierung hier nicht ganz stimmt. Zwar tritt die Band (insbesondere live) als Duo auf. Doch es ist Deniz' Projekt. Sie schreibt die Texte, die Musik, produziert alles. Robert kommt dann live hinzu und kümmert sich liebevoll um den Fotos, Video, Organisatorisches. Zum Schluss nochmal das, was im neuen Klang am meisten auffällt: der Rhythmus auf Close The Blinds aus dem Drumcomputer, der noch nicht mal groß abgeändert wird, um irgendwie echt wirken zu wollen. Wozu auch? Passt ja total zum anvisierten 80er-Sound! Das letzte Stück nochmal ein toller Beweis, wie hymnisch große Synthie-Flächen klingen können!
Also: Richtig geboren, um heute eine großartige Platte zu genießen.
(sb/ms) Skepsis. Die erschlich mich diese Woche bei dem selben Thema aus ähnlichen Kreisen direkt doppelt. Skepsis in dem Sinne von: Ist das was? Wird das gut? Kann ich das genießen? Ist das rund und gut lesbar?
Gleich zwei Akteure aus meinem Musikhörkreis haben diese Woche angekündigt, dass bald ein Buch von ihnen erscheinen wird. Puh. Das ist immer ein sehr, sehr schmaler Grat. MusikerInnen, die Bücher schreiben. Wird das tatsächlich gut oder eher gruselig? Sven Regener kann das. Bei Frank Spilker bin ich nicht warm geworden. Heinz Strunk kann das auch. Thees Uhlmann hat mich positiv überrascht. Nun zwei Typen anderen Alters und mit ganz anderen, lebensnahen Themen! Der erste ist Monchi, der andere Testo.
Monchi, der Sänger von Feine Sahne Fischfilet, wird ein Buch namens Niemals Satt bei KiWi veröffentlichen. Es geht wohl zum Großteil darüber, wie er in den letzten Jahren mit seinem Körpergewicht zu kämpfen hatte. Es erscheint im April und ich glaube nicht, dass ich es mir kaufen werde. Es macht mich überhaupt nicht neugierig, auch wenn Monchi selbstredend ein wunderbarer Typ ist. Ehrlich gesagt habe ich auch Sorge, dass es einfach schlecht geschrieben ist. Mein Gefühl. Bei Testo bin ich da wesentlich hoffnungsvoller. Vielleicht liegt es auch am Rap, dass eine andere Art des Textens zugrunde liegt. Der eine Teil von Zugezogen Maskulin, bürgerlich Hendrik Bolz, schreibt übers Großwerden in MeckPomm in den Jahren nach der Wende. Nulllerjahre heißt das Ding passenderweise. Da Bolz nur zwei Jahre älter als ich ist und an einem gänzlich anderen Ort Deutschlands mit gänzlich anderen Problemen konfrontiert war, reizt mich die Lektüre doch sehr stark!
Doch zum Schluss bleibt alles beim gleichen Grundsatz: Alles Geschmackssache. Selektiert. Hier:
Jónsi (ms) Lese ich irgendwo etwas von 'XY veröffentlicht über Nacht überraschendes, neues Album' ist erneut Skepsis angebracht. Was soll die Geheimniskrämerei? Lohnte es sich nicht, die Platte ausgiebig zu promoten? War das dann doch nicht so wichtig? Coldplay haben auch vorsichtshalber mal eine Platte unter anderem Namen veröffentlicht, weil es so mies war. Egal. Anderes Thema. Solch Bekanntmachung fand in der letzten Woche von Jónsi statt. Und ja, bei allem, was diesen Künstler angelangt, bin ich maßlos subjektiv - Sigur Rós über allem! Obsidian heißt das Album, was nun zu hören ist. So bald man es hört, ist auch zu erahnen, warum nicht ganz so viel Gewese darum gemacht wird. So ereignisreich ist es nicht. Teils sind Sounds zu hören, die irgendwie bekannt sind. Einen ähnlichen Klang hat er schon auf vorherigen Remixen und den Liminal-Samplern ausgebreitet. Das ist natürlich alles schön sphärisch und verträumt und fein verwinkelt, teils auch mit Hitpotential (u.a. Pyralone). Doch so richtig packt mich das halt nicht. Dafür reihen sich für meine Hörgewohnheiten zu viele Klangschnipsel aneinander, die in meinen Ohren nur grob ein Ganzes, Genießbares ergeben. Klar, das ist schon schöne Musik, doch seine 'richtige' letzte Platte sprach mich wesentlich stärker an. So wie ich es las, ist dieses Werk die klangliche Begleitung einer Kunstausstellung, die er selbst erschuf - soweit ich das richtig verstehe... In New York lässt sich das bestaunen und ich kann mir gut vorstellen, dass dort dann Licht und Musik sehr, sehr gut in Einklang erlebbar sind.
Tristan Brusch (ms) Wo kommt der eigentlich her? Im Sinne von: Plötzlich war Tristan Brusch auf meinem Hörradar und geht da so schnell auch nicht weg. Das liegt vor allem an seinem Album Am Rest, das vergangenen Freitag erschien (mea culpa!). Hier tut sich eine Frage auf, die mir zuletzt bei Alin Coen untergekommen ist: Möchte ich, dass die KünstlerInnen die Texte erlebt haben, die sie schreiben? Wünsche ich mir, dass das eine erlebte Platte ist oder ist es auch okay, wenn es 'einfach' extrem flinkes Songwriting ist? Bei Brusch wird die Frage dahingehend konkret: Möchte ich, dass er der Typ ist, von dem er auf den Liedern singt? Oder genügt mir auch eine Kunstfigur, die über alldem schwebt? Ich bin ganz ehrlich: Ich will so, so sehr, dass er das alles ernst meint. Wenn er sich als Abschaum oder König der Scheiße bezeichnet. Ja, das will ich gerne. Weil es einfach unfassbar direkt und wuchtig ist. Viele Lieder haben genau den autobiographischen Bezugspunkt, die diesen Wunsch plausibel erscheinen lassen. 11 Lieder, die gut eine dreiviertel Stunde erklingen, sind zu hören. Bei weitem spricht mich nicht alles so stark an. Doch wenn Zwei Wunder Am Tag, das unfassbar pathetische und so wunderschöne So Weit Weg, Krone Der Schöpfung (!!!) oder Das Leben Ist So Schön erklingen, dann bin ich voll dabei. Was neben den erlebnisreichen Texten so hörenswert ist, ist der bearbeitete Sound im Mikrophon und die unterschiedliche Instrumentierung. Mal ist es schleppender Rock, dann deftiger Jazz, verträumte Balladen, satter Indiepop. Sehr wandelbar. Sehr ambivalent. Sehr neugierig machend. Tolle Scheibe!
Parcels
(sb) Fünf Australier in Berlin, ein Album, das in eine Tages- und eine Nacht-Hälfte unterteilt ist und satte 19 Tracks beinhaltet. Klingt vielversprechend und ist es auch. Die Parcels transportieren das Gefühl der 70er und 80er in die Neuzeit und bedienen sich dabei diverser Elektro-Pop-Elemente. Aber auch der Folk kommt (vor allem im ersten Teil) keineswegs zu kurz und verleiht Day/Night (VÖ: heute!) ein angenehmes Gesicht. Festzuhalten bleibt, dass meine Vermutung, die Day-Tracks seien eher fröhlich, während die Night-Songs sich von einer düsteren Seite zeigen, nur zum Teil ins Schwarze traf. Manch eine Sequenz des zweiten Parts schreit jedoch geradezu danach, in Horrorfilmen und Psychothrillern gefeatured zu werden. Das war von den Parcels in dieser Form nicht zu erwarten, steht der Band aber gut und macht sie unberechenbarer. So zum Nebenherhören ist das Album nicht zu empfehlen - und das ist ausdrücklich positiv zu verstehen. Nehmt Euch die Zeit, konzentriert Euch auf die Musik und gebt Euch hin.
Elbow
(sb) Sieben Top 10-Alben, drei davon gar auf Platz 1 - im UK sind Elbow eine ganz große Nummer und wurden nicht umsonst auserkoren, um bei den Olympischen Spielen in London (2012) auf der Schlussfeier aufzutreten. Die Band aus Manchester ist seit gut 30 Jahren im Business und präsentiert auch auf ihrem neuen Album Flying Dream 1 (VÖ: 19.11.) das, was sie am besten kann: gefühlvollen und melodischen Pop-Rock, der sofort ins Ohr geht und sich dort festsetzt. Eine Schande, dass Elbow hierzulande nicht mal ansatzweise den Status erobert haben, der ihnen eigentlich zustehen sollte. Natürlich machte die Corona-Pandemie auch vor der Entstehung ihres aktuellen Werkes nicht Halt und so fasst Sänger Guy Garvey zusammen:
"There have been challenges, but through them writing together
remotely was a lifeline. It’s bruised and wistful, nostalgic, and
thankful. We’re so lucky that all our family and friends are safe. It’s
about that love.”
Das hört man und es tut gut - wie so vieles von dieser wunderbaren Band!
Dino Brandão
(sb) Im Dezember veröffentlichte Dino Brandão zusammen mit seinen Kollegen*innen Sophie Hunger und Faber das wunderbare Album Ich liebe Dich auf Schweizerdeutsch. Ein knappes Jahr später meldet sich der Künstler auf Solopfaden zurück und legt eine EP vor. Das Format scheint aktuell wieder schwer angesagt zu sein. Anfang/Mitte der 90er war das ja gang und gäbe. Egal, zurück zum Wesentlichen. Diesmal singt Brandão auf Englisch und auch musikalisch ist ein Vergleich zur Kollaboration kaum möglich. Als Secondo in der Schweiz aufgewachsen, wandelt der Künstler seit jeher zwischen zwei Welten, der Alpenrebublik und Angola. Kontraste, Unterschiede, wie sie kaum größer sein könnten. Dino versucht nicht, ein Puzzle zusammenzusetzen - er tut es einfach! Er faltet die kleine Popmusik-Weltkarte
in schiefen Proportionen auf, hat dabei ein Auge fürs Barocke, das
Ornament, streicht über die Trommeln von damals, spielt die vernebelten
Synthesizer, kickt den Drumcomputer an – genüsslich verstrickt nach
allen Himmelsrichtungen. Das ist wirklich gute Popmusik von einem überaus talentierten Musiker! Seine EP Bouncy Castle erscheint am 12.11. und darf sehr gerne gekauft und geliebt werden.
Kat Frankie (ms) Stimmen mit Wiedererkennungswert. Die bleiben halt haften. Logisch. Das Wort ist selbsterklärend. Doch nicht viele MusikerInnen haben diese Kraft, diesen unverwechselbaren Sound in ihrer Stimme, dass sie sofort, auf Anhieb aus einer größeren Masse heraussticht. Wenn sie dann noch geschickt musikalisch in Szene gesetzt wird, strahlt sie noch hörenswerter heraus. Kat Frankie hat diese Gabe inne und weiß sie sehr gut einzusetzen! Ihr letztes Album Bad Behaviour ist mir in extrem guter Erinnerung, sehr vielschichtig, sehr klug. Nun geht die Reise weiter, ein neues Werk steht in den Startlöchern. Ihre Musik bezeichne ich sehr gerne als Art Pop. Und das ganz wörtlich genommen. Was sie macht ist hörbar als Kunst zu verstehen. Nicht nur Unterhaltung. In ihren Arrangements geht sie entscheidende Schritte weiter. Im ersten Stück der neuen Platte, die irgendwann im Frühjahr herauskommt, beweist sie es erneut. Shiny Things lebt von einer klug produzierten Spannung: Kleine Elemente halten diese aufrecht, sei es die Percussion, die Streicher, der feine Einsatz des Chors und der Mut, dass es das ganz große Crescendo gar nicht gibt. Hinzu kommt, dass sie visuell überrascht. Der Track kommt mit einem sehenswerten Video, nein, Kurzfilm einher. Das gilt es zu erleben. Und die Vorfreude auf die nächste Platte ist entsprechend groß!
(ms) Reisen ist en vogue. In meiner Altersgruppe (Anfang dreißig) ist man beinahe ein Niemand, wenn es nicht schon mal nach Australien, Vietman oder Peru ging. Sicher, alles tolle Orte. Könnte ich momentan mit meiner persönlichen Klimaagenda aber nicht in Einklang bringen. Daher suche ich mir stets Orte, die mit dem Zug gut zu erreichen sind. Wenn an diesen Orten dann zusätzlich noch sehr gute Livemusik geboten wird, hält mich wenig davon ab, diese Reise zu beginnen. Ich nenne es privat gern Konzerttourismus. Andere Städte kennenlernen, andere Clubs oder Veranstaltungsorte, schauen wie das Publikum dort so reagiert, welches Bier es an der Theke gibt und was den Ort so einzigartig macht. Denn nach Rotterdam wäre ich sicherlich nicht einfach so gefahren, besonders schön ist die Stadt gar nicht. Klar, die Maas und ihre Brücken sind sehenswert und auch architektonisch ist diese Stadt sehr mutig und kreativ. Darüber hinaus fiel mir nichts nennenswertes ein - nun gut, es war ja auch nur ein Wochenende.
Das Duo Grandbrothers ist momentan auf All The Unknown-Tour! Um diese Band, um so einen faszinierenden Abend überhaupt zu verstehen, sind Informationen über ihre Art des Musizierens zwingend notwendig. Denn dann lässt es sich noch viel besser staunen. Und wer staunt nicht gerne?! Eben. Erol Sarp und Lukas Vogel haben sich beim Musikstudium kennengelernt. Der eine, Sarp, eher am Piano interessiert, der andere, Vogel, ein unglaublich kreativer Klangtüftler. Sie haben etwas wirklich Einzigartiges, Geniales, Neues geschaffen. Jeder Ton, der von ihnen zu hören ist, kommt aus dem Konzertflügel. Auch live! Das ist wirklich erstaunlich. Vogel hat nämlich mehrere Apparaturen gebaut, die auf den Flügel gesetzt werden, mit denen er dann samt Samplern und viel Technik Töne im Klavier erzeugen kann. Sarp spielt dazu auf klassische Art. Also: Es spielen gleichzeitig zwei Menschen am gleichen Instrument, der eine analog, der andere digital. Das ist ganz, ganz grob das Grundprinzip. Wie innig und tanzbar das werden kann, stellen sie live eindrucksvoll unter Beweis!
Das LantarenVenster ist ein sehr schönes, wenn auch modernes Kino im Zentrum Rotterdams, hinter großen Anlegestellen für Kreuzfahrtschiffe gelegen. Aus dem Foyer blickt man auf die Maas, das Licht erschafft eine heimelige Atmosphäre, sogar essen kann man dort. Der Abend fand in einem der Säle statt, wo man die ersten - grob geschätzt - fünfzehn Reihen quasi einfahren kann, sodass dort eine große Tanzfläche entsteht. Weiter oben ließ sich der Abend auch sitzend verfolgen. Anfangs hatte ich bedenken, dass das Konzert schwach besucht sei. Doch der Großteil der Gäste kam erst kurz vor der Vorband rein - also gut gefüllt. Ein wenig habe ich gehofft, dass die Tontechniker den 360°-Sound des Kinos nutzen. Das war leider nicht der Fall, dennoch war der Klang hervorragend.
Das stellten schon Coma unter beweis, die den Abend kurzweilig begonnen haben. Das Duo hat mit Synthies, Gitarre und Bass sehr atmosphärische elektronische Musik erzeugt, die wirklich gut ausgesucht war für das, was darauf folgte. Denn es war dicht im Sound, aber noch nicht so wuchtig und ausgefeilt im Showelement. Dennoch haben die beiden extrem gute Musik gemacht, zu der es leicht fiel, die Augen zu schließen und sich mitnehmen zu lassen. Kurze Umbaupause und dann stand auf der Bühne nur noch der offene Konzertflügel und ein recht großer Tisch, auf dem Vogels Technikspielereien aufgebaut waren. Zudem war hinter ihnen eine breite, weiße Leinwand aufgezogen, links und rechts standen zudem kleine Lichttürme. Die Lichtshow sollte noch erheblich zur Atmosphäre des Abends beitragen. Denn was in den kommenden eineinhalb Stunden passierte, habe ich noch nicht erlebt. Klanglich vielleicht schon. Aber nicht auf technischer Ebene. Auch wenn man als Zuschauer nicht genau sehen konnte, was Vogel mit den ganzen Knöpfen und Schaltern macht, so war das Wissen darum ausreichend, um wirklich hohes musikalisches Können live zu erleben. Ich fragte mich, wie viel Platz ihnen zur Improvisation bleibt und glaube, dass so gut wie keine dafür da ist. Das war schon sehr abgestimmt, choreographiert, aber das passt schon so. Grandbrothers erzeugen einen Klang, in den ich mich sofort fallen lassen konnte. Vor dem inneren Auge passierte gar nichts mehr, als ich sie geschlossen habe. Ich habe nur noch die Musik und ihre Stimmung gespürt und fühlte mich endlich wieder in einem Stadium, das ich lange vermisst habe: Mit ein, zwei Bier erheitert mich der Musik hingeben, versinken, tanzen, tief einatmen. Wow! Das haben sie wirklich mit spielerischer Leichtigkeit geschafft. Die Lichter waren super eingesetzt, es wurde immer mehr, das Kino wurde in eine bebende Tanzfläche verwandelt.
Am liebsten stünde ich heute Abend immer noch dort und wünschte, nie zu gehen!
(ms) Es gibt Tourankündigungen und lebensverändernde Maßnahmen. Hier geht es um letzteres! Denn: Kettcar spielen im Januar drei Konzerte! Ist das wirklich einen eigenen Beitrag wert? Ja, selbstverständlich. Denn insbesondere vom Eintauchen und Fühlen der Texte geht für mich persönlich wirklich gar nichts über diese Hamburger Band. Seit vielen Jahren sind Marcus, Christian, Erik, Reimer und Lars das Maß aller Dinge für mich, wenn es um deutschsprachige Texte in Gitarrenrockformat geht. Keine andere Gruppe schafft es, Politik und Emotion so unglaublich gut nebeneinander zu stellen, mitunter auch in einem Stück zu vereinen. Wenn Im Taxi Weinen auf Wagenburg folgt! Wenn nach Sommer '89 und dann Balu kommt. Dann passiert etwas in mir. Dann bin ich so tief angesprochen, dass es mir schlichtweg gut tut. Diese Hingabe ist vollkommen irrational. Kaum verständlich, wenn ich lieben Menschen sage, dass ich in zwei Wochen drei Mal bei Kettcar war. Und jeder Abend war herausragend. Wirklich erklären kann ich das auch gar nicht, muss überhaupt nicht sein. Klar, ich überhöhe diese Band auch auf beinahe religiös-fanatische Weise. Doch genauso gehe ich fest davon aus, dass ich damit nicht alleine bin. Denn was Marcus und Reimer lyrisch schaffen, ist so fein und ehrlich und bitter und zart und genau, dass sie sich insbesondere nach dem letzten Album einen Rang erspielt haben, den sie so schnell nicht los werden. Also: Endlich spielen Kettcar wieder live! Es sind drei aufeinander folgende Termine. Ja, zwei von dreien müssen sein. Hamburg, Berlin, Köln! Was für ein Trip! Karten gibt es nach und nach unter www.ghvc-shop.de . Lasst mir Karten für Köln und Hamburg übrig! Ich bin dann der, der vollkommen wahnsinnig mit einem Bier in der Hand mittig links vorne steht. Bis dann!