(ms/sb) Fernweh ist ein Arschloch. Seit Monaten plagt mich (sb) genau dieses Gefühl, dieser Wunsch, etwas Neues zu sehen. Der Drang, mal wieder aus dem Alltag auszubrechen. Und zwar alleine, ohne Familie - so sehr ich Frau und Sohn auch liebe! Einfach mal wieder den Kopf freibekommen, Sorgen und Pflichten zuhause zu lassen und uneingeschränkt das tun, wozu ich Lust habe. Eigentlich sollte es Mitte Dezember so weit sein, als der Verein meines Herzens im Ruhrpott spielte. Hat leider nicht geklappt und - wenn ich ehrlich bin - knabber ich da immer noch dran. Aber egal, ließ sich nicht ändern, weil im Endeffekt gilt dann halt doch "family first". Jetzt aber! Gestern habe ich Zug und Hotel gebucht. Zwei Tage Hauptstadt, Viktoria Berlin gegen den glorreichen TSV 1860 am Freitag, am Samstag auch nochmal zwei Spiele. Viele langjährige Freunde sind ebenfalls am Start und ich wäre wirklich enttäuscht, wenn ich auf der Hinfahrt nicht spätestens auf Höhe Erfurt ordentlich einen sitzen hätte. Habe ich vorher was von "Fernweh ist ein Arschloch" geschrieben? "Vorfreude ist ein Geschenk des Himmels" klingt doch viel positiver, oder?
Apropos Vorfreude: Wir haben wieder in reichlich neue Alben reingehört und wollen Euch unsere Eindrücke nicht vorenthalten. Es ist Freitag. Wir selektieren. Und das geht so.
Casper
(sb) Skepsis pur! Die letzten Alben von Casper fand ich alles andere als überzeugend, die Kollaboration mit Marteria sogar katastrophal und fast schon unverschämt schlecht. Jetzt also Alles War Schön Und Nichts Tat Weh (VÖ: heute!) und was soll ich sagen? Alles vergeben und vergessen! Was für ein unfassbar intensives Album, was für großartige Texte. Tolle Features (u.a. Provinz, Lena und Tua) und sogar der Track mit Haiyti taugt. Von absoluter Euphorie bis hin zu tiefer Beklemmung - dieses Album ist eine vertonte Manische Depression in Reinkultur. Ich verneige mein Haupt in Ehrfurcht und Demut, denn so ein Meisterwerk hatte ich Mr Griffey beim besten Willen nicht mehr zugetraut. Aber hier passt einfach alles, das Album vereint persönliche Erfahrungen mit politischer Message und viel Gefühl. Das Herz hüpft, der Kloß im Hals drückt, die Tränendrüse wird bemüht und die Endorphime sprudeln. Ich liebe es. Highlights: Billie Jo, Zwiebel & Mett (Die Vergessenen Pt 3) und Fabian.
(sb) Seit knapp 35 Jahren sind die Guitar Gangsters jetzt schon am Start und halten die Fahnen des Rock'n'Rolls und Punkrocks hoch. Meine Befürchtung, nun gleich peinliche alte Männer zu hören, die ihre Jugend nicht loslassen können, wurde ziemlich schnell widerlegt. Alles in allem klingt das ein wenig wie The Clash meet Social Distortion und da gibts wahrlich schlechtere Referenzen. Auf ihrem zehnten Album Fortune Favours The Brave (VÖ: heute!) fröhnen die Briten wieder feinstem Punkrock im 77er-Style und liefern haufenweise Vorfreude auf die bevorstehende Tour, die die Band auch in unsere Breitengrade verschlagen wird.
29/06/2022 D-Köln, EDP
30/06/2022 D-München, Rote Sonne (w/ Giuda)
05/07/2022 D-Dresden, Chemiefabrik
07/07/2022 D-Zwickau, Störfaktor Festival
08/07/2022 D-Einbeck, Backpackers Inn
09/07/2022 D-Karlsruhe, Alte Hackerei
10/07/2022 CH-Bern, Rössli (w/ Giuda)
12/07/2022 D-Dortmund, Subrosa
13/07/2022 D-Düsseldorf, The Tube
14/07/2022 D-Hamburg, Hafenklang
15/07/2022 D-Berlin, Wild at heart
16/07/2022 D-Essen, Freakshow
Keegan
(sb) 2016 überzeugten mich Keegan mit ihrem Album "Famous Last Words", danach habe ich leider sehr lange nichts mehr von den Kölnern gehört. Bis jetzt! Am 11.03. erscheint nämlich Daylight Robbery, das mittlerweile sechste Werk des Quartetts. Auch an Keegan ging die Pandemie natürlich nicht spurlos vorbei und so war der Entstehungsprozess des Albums maßgeblich von Corona geprägt. So saß Sänger Ian Maxwell monatelang in seiner nordirischen Heimat fest und nutzte die Zeit, um rund 50 neue Tracks zu schreiben. Die restlichen Bandmitglieder krallten sich die Song-Skizzen aus der Cloud und arbeiteten ihre Parts heraus. Erst viel später hatten die Vier die Möglichkeit, die ausgewählten elf Lieder gemeinsam zu arrangieren und aufzunehmen. Eine Herausforderung der besonderen Art. Auch wenn es durchaus Jammern auf hohem Niveau ist, aber so ganz nimmt mich Daylight Robbery leider nicht mit. Am Songwriting ist natürlich wenig auszusetzen, aber im Gegensatz zu früheren Alben fehlt mir ein wenig der Wiedererkennungswert, das Einzigartige. Schade eigentlich.
The Jeremy Days
(sb) Tapete Records kennt Ihr (hoffentlich), ne? Dirk Darmstaedter sollte auch ein Begriff sein, oder? Was das alles mit dieser Kurzrezension zu tun hat? Ganz einfach: Darmstaedter hat das Label im Jahr 2003 gegründet und darauf seitdem zahlreichen ganz wunderbaren Künstlerinnen und Künstlern eine Plattform geboten. Als Solokünstler hat er zudem seit 1996 satte 14 Alben veröffentlicht und released nun zum ersten Mal seit 27 (!) Jahren wieder ein Album mit seiner Band The Jeremy Days. Ich hatte ja schon gar nicht mehr damit gerechnet, freue mich aber umso mehr. Insbesondere deren Hit-Single Brand New Toy aus dem Jahr 1988 (Scheiße, bin ich alt...) schwirrt immer wieder durch meinen Kopf und im Radion wird die ja auch regelmäßig gespielt. So, nun also Beauty In Broken (VÖ: 25.03.). Schon damals war diese Mixtur aus Hamburger Schule, britischem Pop und amerikanischem Art-Rock höchst attraktiv und auch heute zieht das Quintett noch - nicht zuletzt aufgrund Darmstaedters herausragender Songwriting-Fähigkeiten. Wobei: Im Gegensatz zur Vergangenheit haben sich diesmal alle Bandmitglieder bei dieser Disziplin eingebracht, was für eine angenehme Vielfältigkeit sorgt. Was bleibt ist die fast schon beiläufige Lässigkeit, die ich schon als Teenager so an den Jeremy Days geschätzt hatte.
(ms) Es gibt eine eiserne Regel. Also für mich ganz privat. Wenn wir freitags hier unsere Selektion veröffentlichen, kommt mir manchmal eine gute Idee für die Einleitung, oft sind es kleine Skizzen aus dem Alltag oder skurrile Begegnungen oder sonst ein Quatsch. Doch ich versuche möglichst nicht über das Wetter zu schreiben. Das finde ich ein bisschen zu billig. Ein wenig zu ideenlos, unkreativ und platt. Und sicher verlange ich von mir als Hobbyschreiber ein wenig mehr als das.
Dabei ist das doch irgendwie so eine gute Idee. Es treibt und alle immer um. Wir sind dem schutzlos ausgeliefert und es begleitet und 24/7. Oma hat immer gesagt, dass es gut ist, dass wir Menschen das Wetter nicht ändern können. Omas haben halt immer Recht. Doch es ist nicht nur die Allgegenwärtigkeit von Hoch- und Tiefdruck, Niederschlag, Temperatur und Co. Es ist doch das beste Smalltalk-Thema überhaupt. Beim Einkaufen, beim Friseur, zwischen Tür und Angel bei der Arbeit, bei den seltenen Telefonaten mit Oma. Es ist auch der Zauber. Und das bewegt mich seit langer Zeit. Ist es nicht völlig verrückt, dass der Frühling mit den steigenden Temperaturen und den ersten blühenden Pflanzen immer wieder berauschend ist? Ist es nicht völlig verrückt, dass der Sommer immer wieder überragend und nass zugleich ist? Ist es nicht völlig verrückt, dass der Herbst jedes Jahr aufs Neue golden leuchtet und wunderbar strahlt? Ist es nicht völlig verrückt, dass wir jedes Jahr aufs Neue hoffen, dass es endlich schneit?
Ja, ist es.
Und das ist sehr gut so.
Also ist das Thema Wetter zu all den unterschiedlichen Jahreszeiten gar nicht mal so schlecht. Es ist naheliegend und berührt, betrifft uns alle. Vielleicht war das der Stein des Anstoßes für Gregor McEwan, in zwei Jahren vier EPs für alle Jahreszeiten zu veröffentlichen. Vielleicht hat er auch ganz andere Gründe. Sich so intensiv damit auseinanderzusetzen erfordert Geschick, Zeit und Gefühl. All das hat er vier Mal auf beeindruckende Weise bewiesen. Wir berichteten hier, hier, hier und hier. Daher soll es dieses Mal gar nicht so um die Musik gehen, sondern um das Konzept. Das ging jedes Mal sehr gut auf. Es waren vier EPs mit jeweils vier Liedern und vier Videos. Was da an Arbeit drin steckt. Was da an Leidenschaft drin steckt. Was da an Wille drin steckt! Irre! Im Grunde genommen macht Gregor McEwan, der bürgerlich selbstredend anders heißt, Folkpop. Manchmal geht es mir ein bisschen zu sehr in Richtung Mumford & Sons (redaktionsintern: Manfred und Hans), aber die Richtung passt sehr gut. Denn er bleibt nie dabei stehen. Die Akzente, die er immer wieder setzt, sind extrem geschickt. Jede EP ist ein rauschendes Fest der Überraschungen. Es ist nur logisch, dass nun alle in einer großen Veröffentlichung kulminieren. Four Seasons erscheint am Freitag, den 25. Februar. Und es gibt noch den gleichnamigen Track oben aufs Dach. Manch einer könnte behaupten, dass das billig und platt sei. Mitnichten! Es ist das runde, sehr gelungene Ende eines tollen Zyklus'. Erst auf Albumlänge entfaltet seine Gesamtidee nochmal mehr an Sinnhaftigkeit und Zauber. Die Gefühle der Jahreszeiten kommen so noch dichter auf den Punkt, die Reise durch die zwölf Monate schwingt von ganz allein. Es ist ein doppeltes Best Of. Seiner vorherigen Veröffentlichungen und vieler Gefühle, die immer wieder frohlocken!
(ms/sb) Den Kotzreiz konnte ich letztens beim Gang durch die Stadt kaum unterdrücken. Plakatwerbung ist ja eine heikle Angelegenheit. Sie kann geschickt, dämlich oder ekelhaft sein. In die letzte Kategorie stolperte ich in der jüngsten Vergangenheit öfter. Da wurde mir ein Lebensgefühl suggeriert, das ich mit dem Besuch eines Fitnessstudios erlangen könnte. Das ist an sich ja schon komplett bescheuert. Ich habe nichts gegen Sport, ich fahre gerne Rennrad (wenn es heile ist) und kann dem eine Menge abgewinnen. Doch von den großen Plakaten blickten von oben herab schöne und extrem durchtrainierte junge Menschen auf mich hinab. Sie lächelten nicht mal. Um Spaß kann es dabei also kaum gehen. Es wird noch viel perfider. Mit einer Hantel in der Hand und der zur Schau gestellten Bauchmuskulatur riefen sie mir von den Häuserwänden hinab: Be proud! Boxen würde ich sie dafür. Einem Körperkult hinterher zu eifern soll mich also stolz machen, ja? Völlig gleichförmig durch die Welt huschen? In großen Hallen mit anderen Gehirngewaschenen schwitzen soll mich stolz machen? Natürlich kann es froh machen, ein paar Kilo runter trainiert zu haben, aber so möchte ich nicht aussehen. Und stolz sein? Auf gute Freundschaften bin ich das. Ende.
Hier ist die Lebensberatung in Fragen guter Musik, die luserlounge. Wir garantieren guten Geschmack:
Bipolar Feminin
(ms) Ha! Es hat den Anschein, als ob McFit in Österreich die selbe Werbung schalten würde. Es wäre ein Indiz für den neuen Track von Bipolar Feminin. Nicht nur diese Werbung stieß mir letztens bitter auf, sondern auch ein kleiner Text von Andreas Altmann. Ich verehre ihn für seine bedingungslose Sucht nach purem Leben, auch wenn er provokant und aneckend ist. Doch seine Einstellung, den Körper mit allen Mitteln zu triezen um bloß nicht anzudicken, fand ich schändlich. Fett. So heißt das neue Lied des Quartetts. Nach Süß Lächelnd kommt der nächste aussagestarke Song daher, der eine ungeheure Lust auf ihre EP in mir generiert. Piccolo Family erscheint am 1. April und könnte super stark werden! Ich glaube, mich selten so auf eine EP gefreut zu haben. Fett also. Es geht nicht nur um Body Positivity, sondern auch darum, sich gern zu haben. So einfach kann es auch sein. Glücklich sein und sich von all den selbstoptimierenden Vollidioten gar nichts vorschreiben lassen! Basta!
Korn
(ms) Letztens fand ich mich in einem sehr guten Gespräch wieder. Es ging darum, welche Musik einen denn geprägt habe. Natürlich ist es viel Indierock, doch so richtig im Britpop war ich nie eingetaucht. Viele Bands (The Strokes, The Wombats, Oasis, Maximo Park, ...) habe ich nie gehört. Nicht aus Ablehnung, sondern aus Zeitgründen. Es gab immer viel daneben. Viel Rap, eine wilde Zeit des Mittelalterrock oder halt Hardrock und Metal. Korn zum Beispiel. Höre ich seit Jahren sehr, sehr gern. Wie Jonathan Davis singt, ist beeindruckend. Ich mag ihren Bass und den teils krank-genialen Sound der frühen Alben. Leider kann man der Band seit ein paar Jahren dabei beobachten, wie sie versucht entweder etwas ganz Neues zu schaffen oder sich wieder auf ihre Wurzeln zu besinnen. Beides geht nur so halb auf. Völlig überrascht war ich, dass sie vor Kurzem ein neues Album namens Requiem veröffentlicht haben. Nichts von mitbekommen. Aber halt auch echt nichts verpasst. Natürlich: Es gibt immer noch beeindruckende Texte aus Davis' Innenleben, aber der Sound stagniert komplett. Ich kann das Album kaum zu Ende hören, weil sie mich langweilt. Schade. Dann lieber Follow The Leader!
Juli Gilde
(ms) Wirklich gute deutschsprachige Popmusik ist ein rares Gut. Leider ist der Markt seit vielen Jahren durch fürs Radio aufgepustete SängerInnen geflutet, die Texte vorgesetzt bekommen, die sie dann trällern und damit Erfolg garantieren. Für die Perlen sind oft die Augenwinkel nicht scharf genug eingestellt. Wenn wir mit unserem kleinen Blog da einen Beitrag leisten können, ist viel gewonnen. Wenn heute die 4-Lieder-EP French Bookwood erscheint, sollten alle Ohren weit aufgehen. Und wenn die Ohren mit dem Herzen verbunden sind, sollte es Juli Gilde ganz leicht haben, dort zu bleiben. Alter sollte bei Musik ja keine Rolle spielen, aber sie ist erst 19 und schreibt irre Texte voller Weitsicht, Tiefe, Empathie mit musikalisch-spielerischem Witz und Leichtigkeit. Was hab ich denn mit 19 gemacht?! Puh, da will ich gar nicht im Gedächtnis kramen. Kein Wunder, dass sie im letzten Jahr bereits Vorprogramm von Die Höchste Eisenbahn war. Ihre wahre Stärke beruht darin Bilder zu schaffen, die sehr nahbar sind. Bei vielen KünstlerInnen ist es sperrig, Juli Gilde macht es im besten Sinne ganz leicht. Wer knapp eine Viertelstunde hörenden Urlaub buchen möchte, ist hier an genau der richtigen Adresse! Große Empfehlung!
Yasmo & Die Klangkantine
(ms) Lesend neue Musik entdecken. Und das nicht mal in einem Musikmagazin, auf einem Blog (haha) oder in sozialen Medien. Sondern in einem Buch. Mit der Zeit merke ich erst, wie stark Awesome HipHop Humans bei mir nachhallt. Den Text, der mich darin direkt am stärksten angesprochen hat, hat Yasmo geschrieben. Über ihren bedingungslosen und harten Weg von der Schule über Poetry Slams hin zur Musik. Nicht nur ihr Beitrag war super gut geschrieben, sondern sie hält dieses enorme Niveau auch in ihrer Musik. Die augenöffnend und unterhaltsam sein kann. Kritisch und feiernd. Und nun gibt es wieder Neues zu hören, yeah! Mit ihrer Band Die Klangkantine schrieb sie viel Brass-Sound, das neue Stück Alle ist nun ziemlich feiner, schnörkelloser Rap - stark! Am meisten mag ich ihre deutliche (nicht überdeutliche) Aussprache. Nicht gewöhnlich im Rap. Dadurch wird (mir) klar: Ihr ist ihre Aussage wirklich wichtig! Wirklich! Wenn man dann genau hinhört, ist sofort klar, wie weitsichtig sie textet. Nicht umsonst ist sie eine der umtriebigsten Protagonistinnen der österreichischen Musiklandschaft. Ich drücke ihr die Daumen, dass ihre Strahlkraft weit, weit leuchtet. Dieser Song dürfte für sich stehen:
Assasun
(ms) Ein Jahr müssen Plattenfirmen und Bands derzeit darauf warten, dass ihr Auftrag in einer Vinyl-Fabrik bearbeitet und ausgeliefert werden kann. Irre Wartezeiten. Klar, es gibt kaum neue Geräte, die diesen Stau entlasten können. Auf der anderen Seite finde ich die Meldung aber auch gut: offensichtlich boomt der Vinyl-Markt! Einen viel direkteren Weg an die Hörenden eröffnet sich, wenn man Band und Label in einer Person ist. Alex Donat ist das. Und super umtriebig. Keine Ahnung, wie viele Projekte aktuell bei ihm laufen. Mit Assasun ist nun ein Neues hinzugekommen. Ich frage mich dann vorher immer: Wieso? Höre ich die Musik, weiß ich Bescheid. Es passt halt nicht zu Vlimmer, Fir Cone Children, Whole oder Distance Dealer. Hier geht es wesentlich elektronischer zur Sache. Irgendwo zwischen Gameboy-Sounds und 80er Dark Wave und experimenteller Popmusik bewegt er sich dieses Mal. Ein Element bleibt jedoch gleich: Die verzerrte Stimme ist vielleicht so etwas wie sein Leitmotiv. Vier Tracks sind auf der EP The World I Will Leave zu hören. Insbesondere The Art of Ignorance bleibt durch den Druck, das Tempo und die tanzbare Düsternis haften. Super starkes Ding! Eine musikalische Reise zurück in die Zukunft gewissermaßen! Ab geht's:
(ms) Für den mobilen oder mit Bluetooth verbundenen Musikgenuss nutze ich keinen Streamingdienst, sondern ich packe (immer noch) mp3-Dateien aufs Telefon, die dann abgespielt werden. Das muss selbstredend regelmäßig aktualisiert werden, damit es nicht langweilig wird. Vor einigen Monaten habe ich aus irgendeiner Laune The English Riviera von Metronomy drauf gepackt. Ich muss sagen, dass das eine ziemlich gute Idee gewesen ist. Was ist das nur für eine überragende Band? Ich hatte sie schlicht und einfach lange, lange nicht auf dem Schirm gehabt und nur mit The Look assoziiert. Was für ein weitreichender Fehler! Seit Wochen tanze ich regelmäßig zu Corinne durch meine Bude und bekomme einfach nicht zu viel von diesem überragenden Track! Da steckt so viel Raffinesse, musikalisches Know-How und Groove drin. Das ist unverschämt. Und genial!
Vor elf Jahren erschien dieses Album. Vier weitere folgten plus ein paar kreative Projekte nebenher. Nun sind Joseph Mount, Oscar Cash, Anna Prior, Gbenga Adelekan und Michael Lovett wieder am Start und veröffentlichen mit Small World am 18. Februar ihr achtes Studioalbum! Seitdem ich diese Platte hören kann, ist sie auf meinem Telefon und wird mindestens ein Mal am Tag abgespielt. Denn: Es ist schier frech, wie gut das ist! Dafür gibt es zwei wesentliche Gründe. Der erste liegt bei mir selbst. Musikhören ist immer eine Auseinandersetzung mit den Liedern und dem eigenen Selbst. Ich hatte kaum Erwartungen - im allerbesten Sinne - und ließ mich einfach überraschen. Und diesen leeren Raum hat das Quintett voll ausgenutzt! Bei Alt-J war das kürzlich ganz anders. Meine Erwartungen waren schon recht hoch und wurden dann enttäuscht... So kann es auch gehen.
Der zweite Grund liegt natürlich in der Musik selbst. Denn diesbezüglich ist der Band ein Meisterstück gelungen. Und damit übertreibe ich nicht. Dieses Album ist eine Demonstration von Lässigkeit. Lässigkeit ohne Langeweile - das zu schaffen bedarf wahrer Geniegeist. Dope Lemon hat letztens das Gegenteil gezeigt. Lässig, aber super öde. Metronomy liefern auf Small World keine großen Dancefloor-Hits wie vor zehn Jahren. Müssen sie ja auch nicht. Die große Indie-Zeit der 00er Jahre ist ja auch passé. Also hinein in neue Gefilde und dem Rest zeigen, wie clevere Popmusik mit Groove und Tanzbarkeit funktioniert.
Der Opener Life And Death ist noch ruhig und macht Appetit. Eine Klaviermelodie spielt sich in den Vordergrund, der Bass ist sanft, Percussion zurückhaltend. Alles zusammen kündigt aber bereist Großes an. Es kommt wie ein dreiminütiges Intro daher, bis Things Will Be Fine ertönt und mich in Schwung setzt. Die geschickt eingesetzten Kleinigkeiten machen die Lässigkeit aus und vertreiben jegliche Ödnis. Die Bongos im Hintergrund, der Mix aus E- und Akustikgitarre. All das hält die Maschinerie sehr, sehr gut am Laufen. Dazu ein enorm toller Text, der schnell ins Ohr geht. Ein Crescendo an der richtigen Stelle setzt dem den Hut auf. Das ist schlichtweg ein genial gemachtes Lied, das in seiner scheinbaren Einfachheit überzeugt. Danach darf bitte getanzt werden. It's Good To Be Back ist dann doch die Hitsingle der Platte! Dieses mal sind es die Synthies, die die Abwechslung bringen. Ein ordentliches Tempo und eine verträumte Verspieltheit regeln den Rest. Sommer, hier bin ich! Dieses Lied möchte ich laut hören, während ich mit kurzen Hosen, Sonnenbrille und einem Eis durch den Urlaub ziehe. Yes! Es ist zudem wichtig zu erwähnen, dass das Gesamtkonzept voll aufgeht. Das Album hat eine Spielzeit von 35 Minuten! Perfekt! Es ist nicht zu kurz und keine Minute zu lang. Es ist einfach toll gemacht. Joseph Mount weiß ganz genau, was er hier tut. Das ist ausgeklügelt, sicher auch geplant und umso besser, wenn dieser Plan aufgeht! Und bei einem weniger aufregenden Track wie Loneliness On The Run knallt wenigstens der Bass ordentlich! Warum mir Love Factory nicht aus dem Ohr geht... darüber rätsle ich seit mehreren Tagen. Sind es die Klatscher? Die Orgel? Der Text? Die langsam steigenden Hintergrundgesänge an den richtigen Stellen? Ich kann es nicht benennen und nehme die einfachste Lösung: Alles zusammen erzwingt den Zauber! Auf I Lost My Mind ist es dann eine Pfeif-Hook, die sich mit dem Klavier zusammen packt und im Kopf bleibt. Diese vielen, kleinen, feinen Elemente bilden ein hervorragendes Ganzes! Für Right On Time fehlen mir schlicht die Worte. Das ist vielleicht das eindrücklichste Beispiel an Frechheit gepaart mit Lässigkeit. Dieses Mal: Streicher, erneut Synthies und eine super entspannte Rhythmusgitarre!
Liebe Lesende: Hold Me Tonight ist der nächste Kracher einer fulminanten Platte! Sie macht mich süchtig. Ähnlich wie bei Unendlicher Spaß will ich sie immer und immer wieder hören (das Schicksal des Protagonisten dort bleibt mir aber bislang zum Glück erspart). Dieses Album ist so ausgewogen, stark arrangiert, klug durchdacht, voller Leichtigkeit und Groove. Das habe ich noch nicht gehört. Auch nicht live. Und hoffentlich bieten sich hier bald die Chancen:
08 März 2022, Les Docks - Lausanne 10 März 2022, Kaufleuten - Zürich 11 März 2022, Neue Theaterfabrik - München 14 März 2022, Gasometer - Wien 17 März 2022, Reithalle Strasse E - Dresden 23 März 2022, Columbiahalle - Berlin 25 März 2022, Markthalle - Hamburg 26 März 2022, Carlswerk Victoria - Köln 28 März 2022, Alte Feuerwache - Mannheim
(sb/ms) Wie kann es sein, dass nun wieder Herbst ist? Wer hat an der Uhr gedreht, Fatoni und Edgar Wasser? Hm? Sechs Grad und Nieselregeln. Schönen Dank auch. Am Mittwoch bin ich durch dieses Wetter heim gedüst, Kapuze tief ins Gesicht, schneller in die Pedale getreten, um zügiger anzukommen. Ist ja auch ungemütlich. Auf dem Rad ist man schnell, zu Fuß kann es unangenehm werden. Doch dann sah ich auf der anderen Straßenseite MacGyver und wäre fast in die Böschung gefallen. Diese Person hat das Problem auf so abgefahren coole Weise gelöst, dass ich immer noch ganz baff bin. Dass da vorher noch keiner drauf gekommen ist. Bei Regen bietet sich die Nutzung eines Schirmes an. Klar. Doch dann können die Pfoten abfrieren, manchmal helfen da auch Handschuhe nicht weiter und mit so einer dämlichen Schirm-auf-der Mütze-Konstruktion will man ja auch nicht rumlaufen. MacGyver weiß sich ja immer mit den naheliegendsten Dingen zu helfen. Und das tat er auch bei Schietwettter. Der Kerl auf der anderen Straßenseite hat einfach den Schirm in seinen Rucksack gesteckt und war trocken inklusiver warmer Hände. Was für ein Genie! Ich bin immer noch Baff!
Clevere Musiktipps reichen wir hiermit nach. Herzlich willkommen und ab dafür:
Lena Stoehrfaktor (ms) 1. Letztens ist Max Eberl, der Manager von Borussia Mönchengladbach zurückgetreten. Er führte in einer extrem emotionalen Pressekonferenz gesundheitliche Gründe an. Und wenn man diesen Menschen dann so sieht in diesem kranken Fußballbusiness, ist es einfach nachvollziehbar. Dass er die Stärke bewies seine Lage zu offenbaren, erntete viel Respekt! Zurecht. 2. Auf Lena Stoehrfaktor bin ich erst durch dieses Buch gestoßen. Finde ich gut. Lesend Musik entdecken. Schöne Verzahnung kultureller Ausdrucksformen. Sie ist schon ganz lange dabei und auf ihrem aktuellen Song Sonnenallee zeigt sie auch, woher sie kommt und wie ihre Rapgeschichte aussieht. Sehr sympathisch, auch wenn mich der Song nicht so wegbläst. Er sollte ursprünglich auf einer neuen EP veröffentlicht werden. 3. Das wird vorerst nicht passieren. Denn gesundheitliche Schwierigkeiten verhindern das. Gute und baldige Besserung an dieser Stelle. Das ist natürlich heftig und schlimm. Aber das Zeichen finde ich gut, dass Gesundheit immer noch wichtiger ist als jedes einzelne Lied. Alles Gute, Lena Stoehrfaktor.
Pöbel MC
(ms) Richtig gut. Das ist die Quintessenz. Und damit habe ich ehrlich nicht gerechnet. Nach den letzten Releases von Pöbel MC bin ich ein wenig skepisch geworden, es hat mich nicht mehr sooo begeistert. Zu kompliziert und gewollt und auch irgendwie gestelzt schien es mir. Klar, es ist sein Markenzeichen, möglichst sperrige Wortgebilde zu kreieren. Aber in meinen Ohren muss es auch zugänglich sein. Mit seiner heute erschienenen EP Backpfeife Auf Endlosschleife hat er mich wieder voll im Griff. Die Beats super austariert und die Texte (wieder) viel klarer. Der maskierte Rostocker, mittlerweile auch in Berlin bewahlheimatet, schlägt erneut zu und zeigt auf beeindruckende Weise, wie klug, umsichtig und dennoch/trotzdem sympathisch asi Rap sein kann. Ob es Battlerap ist der eine neue Bestandsaufnahme der Realität, Pöbel kann das alles. Super gut. Ich drücke ihm die Daumen, dass die folgenden Konzerte stattfinden können:
(sb) Erst vor drei Wochen hatte ich Euch das wunderbare neue Werk von Ludovico Einaudi vorgestellt. Das läuft bei mir zuhause noch immer rauf und runter. Und doch ist es schon an der Zeit, Euch das nächste Piano-Album ans Herz zu legen. Bugge Wesseltoft stammt eigentlich aus dem Jazz, beweist aber auf Be Am (VÖ: 25.02.), dass ihm auch im klassischen Bereich keiner etwas vormacht. Zwar agiert der Norweger dabei extrem minimalistisch, jedoch zu keiner Zeit langweilig oder eintönig. Ganz im Gegenteil! Durch die in aller Stiller präsentierte Vielfalt gelingt es dem Künstler, eine Tiefenentspannung hervorzurufen, wie es nur die Klassik vermag. Wenn ich noch im Home office wäre, wäre das mein Soundtrack. Ganz, ganz großartig!
Jack Pott
(sb) Kennt von Euch noch jemand die Wohlstandskinder? Nein? Egal, aber die habe ich Ende der 90er echt geliebt! Auf jeden Fall aber waren die meine erste Assoziation, als ich in Bomben über Disneyland (VÖ: 18.03.) reingehört habe. Gut, der Eindruck verflog mit zunehmender Albumdauer, aber Jack Pott haben mir sehr eindrücklich vor Augen geführt, warum ich diesen deutschsprachigen Pop-Punk damals so gerne gehört habe. Catchy Melodien, ein eiskaltes Bier in der Hand und glückliche, feiernde Menschen um einen rum - und das Ganze in einem Club, in dem sogar die Wände schwitzen. Danke für die geile Zeitreise, ich fühlte mich nochmal gut 20 Jahre jünger.
Ach ja: Der damalige Sänger der Wohlstandskinder schreibt heute Hits für Wolfgang Petry, Udo Lindenberg, Christina Stürmer und Helene Fischer. Jackpot. Und da schließt sich der Kreis. Irgendwie.
Everything Everything
(ms) Auf wie vielen Partys war ich wohl schon? Puh, das ist sehr schwer zu überblicken. Und ich meine die, wo man gezielt in einen Club gegangen ist. Wobei... bei der kommenden Thematik kann auch ein Ereignis im Privaten gar nicht so ausgeschlossen sein. Ruft man sich Statistiken von sexuellen Übergriffen vor Augen, war ich sicher schon auf mehr Partys, auf denen sie stattgefunden haben, als mir lieb ist. Wer wird wo bedrängt? Wer wird vielleicht auch wo gegen den eigenen Willen festgehalten oder belästigt mit dämlichen Sprüchen oder auf dem Weg nach Hause verfolgt? Sicher traurigerweise mehr als genug. Genau darum geht es auf der neuen Single von Everything Everything. Auf Bad Friday schildern sie genau solch ein Ereignis der Übergriffigkeit. Schlimmer noch: Wie diese Vorfälle dann auch aus Opferseite bagatellisiert werden. Soweit darf es doch gar nicht kommen. Aber was habe ich als weißer, privilegierter Typ schon zu urteilen? Die Band aus Manchester kündigt mit diesem verhältnismäßig ruhigen aber krassen Song ihr neues Album Raw Data Feel an, das am 20. Mai erscheinen wird. Das könnte überragend werden!
Robert Glasper
(sb) Woohoo, das ist ja mal mega smooth! Zugegebenermaßen sind weder amerikanischer Hip Hop noch R'n'B oder Jazz meine bevorzugten Genres, aber diese unwiderstehliche Kombination auf Black Radio III (VÖ: 25.02.) hat mich von Beginn an überzeugt. Extrem entspannt (und entspannend), obwohl Robert Glasper wirklich was zu erzählen hat. Der Texaner macht das aber auf eine derart unaufgeregte Art und Weise, dass man sich gerne die Zeit nimmt und die Konzentration auf ihn richtet. So werden die Inhalte einprägsam und doch unterhaltsam transportiert - ideal. Auch die Auswahl seiner musikalischen Gäste (z.B. Gregory Porter, India Arie und Meshell Ndegeocello) ist absolut auf den Punkt. Ich hätte ja nicht gedacht, dass mich das Album so anspricht, aber das ist wirklich mal eine extrem positive Überraschung.
Still Talk
(ms) Machen wir eine kleine Zeitreise. Sagen wir in die Zeit des Musikfernsehens. Das war abenteuerlich. Meine Schwester und ich saßen echt sonntags bei ihr zusammen im Zimmer und haben VIVA Top 100 geguckt. Komplett. Wie verrückt ist das denn bitte? Was macht Mola eigentlich? Es war auch eine Zeit, in der Pop und Punk oft ineinanderfloss. Das machen Still Talk aus Köln jetzt auch. Was aufs erste Hören nicht direkt bei mir ankam, entwickelte sich zusehends. Nun erschien ihre erste EP mit dem griffigen Titel A Short Collection Of Songs About How Easily I'm Distracted. Das Quartett formiert sich um Sängerin und Texterin Tanja Kührer, die aus Österreich kommend am Rhein gestrandet ist. Die sechseinhalb Stücke sind mal ruhiger, mal komplett nach vorne dreschend, mal andächtig, mal wild. Sehr gut, sehr austariert, sehr Bock machend das mal live zu sehen. Auch textlich komplett überzeugend. Als bekennender Katzen-und-Haustier-Ablehner habe ich wenig Verständnis für das Video (andere Angelegenheit...), doch die Thematisierung von der Zerstörungskraft von psychischen Krankheiten ist wichtig. Oft werden sie leider unter den Tisch gekehrt, mit neunmalklugen Plattitüden weggewischt. Gefährlich. Gut, dass das hier aufgegriffen wird. Vorfreude auf Livetermine!
Fortuna Ehrenfeld
(ms) Vor einigen Jahren war ich bei einem Gesprächsabend mit Marcus Wiebusch in Essen. Es ging um sein Songwriting und die Wirkung seiner Lieder, solo und für/bei Kettcar. Nach seiner Art zu schreiben wurde gefragt. Wiebusch erklärte Bruce Springsteen zu seinem Vorbild, er würde ein Storytelling an den Tag legen, das Wiebusch im deutschsprachigen Musikraum vermisst. Sowas gäbe es vorher hier nicht. Dann schallte ein Protest durch den Raum mit den Worten "Was ist mit Fortuna Ehrenfeld?" Wiebusch meinte ungefähr: "Zum Glück gab es die zu dem Zeitpunkt noch nicht." Recht hat er. Denn was Martin Bechler in den letzten Jahren an Texten und Musik uns geschenkt hat, ist kaum auszuhalten. So bescheuert. So nah am Herz. So unpathetisch. So ergreifend. So unterhaltsam. So direkt. Und da ja immer noch Pandemie ist und Konzerte mal wieder verschoben wurden, aber Ideen sprudeln, kommt nun ein Solo-Album unter gleichem Namen mit dem sinnigen Titel Solo I. Klar, das wird großartig. Und ich freue mich insbesondere, da bei mir das letzte Fortuna-Album nicht soo gezündet hat. Brüsseler Platz ist der erste Vorgeschmack und haut komplett rein. Da ist das Charakteristikum der Band kulminiert in einem Lied. Das weiche Klavier. Der rauchige Gesang. Die unvergleichlichen Texte und das Gefühl, das dadurch heraufbeschworen wird. Enorm. "Komm, wir treten der Zeit in den Arsch und halten sie an." Da lasse ich lieber Bechler sprechen als mir was zusammenzustammeln:
(sb/ms) Um viertel nach sechs morgens das Haus verlassen und sich auf den Weg zur Arbeit machen. Da kann niemand erwarten, komplett Herr über alle Sinne zu sein. Der starke Kaffee arbeitet noch und der Nahverkehr steht bereit. Es ist eher eine Zeit des Funktionierens. Ja, angekommen im Zug lese ich stets. Doch kurz davor ist es wuselig und hell. Danach auch. Während eines 'Danach' sah ich heute morgen einen Mann und kam aus dem Staunen nicht mehr raus. Unten im Bahnhof, an den Stufen, die hoch zum Gleis und in die Hektik führen, bleib er stehen. Ich vermute, dass er eben erst angekommen ist. Sicherlich auch auf dem Weg zur Arbeit wie der Großteil auch. Während die Masse - ich mittendrin - raus in den Morgen oder hoch zum Zug will, bleib er stehen, öffnet seinen Rucksack, holt einen kleinen Teppich heraus, schaut wohin er ihn ausrichten muss. Er breitet ihn aus, hält inne und fängt an zu beten. Die Kinnlade bekam ich gar nicht mehr hoch. Wie unglaublich viel Ruhe in dieser Person liegt (und jetzt komm mir nicht mit religiösen Riten und so). Wie viel Hingabe und Muße. Wie viel Ergebenheit und Hoffnung und Disziplin. Die absolute Versunkenheit an einem Unort zu einer Unzeit hat mich stark beeindruckt! Ich nehme mir ihn zum Vorbild.
Und während es draußen (zumindest im Norden) ein Grau in Grau gibt, haben wir selektiert:
Calexico (ms) Enttäuschte Erwartungen sind immer besonders bitter, insbesondere, wenn klar ist, was die Band sonst alles kann. So ging es mir vor etwas über einem Jahr mit der Platte Seasonal Shift von Calexico. Ein Jahreszeitenalbum für den Winter und Weihnachten und Silvester. Doch es zog so gar nicht bei mir. Das hatte den traurigen Effekt, dass ihre gesamte Musik nicht mehr so häufig hier lief. Das ändert sich nun glücklicherweise wieder, denn die Band aus der amerikanisch-mexikanischen Grenzregion wird ein neues Album veröffentlichen. El Mirador erscheint am 8. April und könnte wieder gewohnte Qualität annehmen. Der titelgebende Track ist seit dieser Woche draußen und lässt den ersten Vorgeschmack raus. Graphisch kommen sie im Video mit viel Frische daher, das weiß sofort zu gefallen! Passend zum cineastisch-dramatischen Bebilderung kommt auch die Cowboygeschichte daher. Endlich wieder schwermütige Trompeten und spanisch-englischer Gesang! Ich hab Bock!
Audio88 & Yassin
(ms) Was muss das für eine grässliche Zeit sein als kreativer Mensch. Vor zwei Jahren - bitter das so zu schreiben oder schreiben zu müssen - hatte ich noch Glück, Karten für Audio88 & Yassin in Lüneburg bekommen zu haben. Wer hätte damals gedacht, dass es nur der Auftakt einer nervenzerreibenden Serie an Absagen und Verschiebungen von Konzertterminen ist. Es war das erste Konzert für mich, dass pandemiebedingt ausfiel. Wie es wohl den Menschen auf der Bühne geht?! Okay, Audio und Yassin sind jetzt keine Kinder von Traurigkeit. Aber seiner Leidenschaft nicht nachgehen zu können und sicher auch große finanzielle Einbußen hinzunehmen, ist zermürbend. Also kreativ bleiben und ein neues Album machen. Mit Todesliste waren sie noch gar nicht richtig auf Tour, da kommt schon Back Im Game Vol. 1 am 11. März raus. Why not?! Und auch auf Zurück In Dem Spiel Drin zeigen die beiden mal wieder, wie gern sie all die anderen Rapper haben, wie harmonisch, empathisch, sympathisch und lieb man sein kann. Hach, endlich wieder Seelenstreichler auf Platte. Endlich wieder Yoga aus den Boxen. Das wird sanft, romantisch und weich.
Mister X
(sb) Eine Achterbahn der Gefühle schon vor dem ersten Anhören - und darüber hinaus. Ich habe ja ein sehr ausgeprägtes Faible für Punkrock jenseits der englischen und deutschen Sprache. Italienisch, Spanisch, Katalanisch, Baskisch, Niederländisch - alles wunderbar. Als ich dann in der Promo-Mail las, dass Mister X aus Belarus stammen, stimmte mich das sehr zuversichtlich, dass hier mal wieder was richtig schön Exotisches aus den Boxen tönen könnte. Dann die Ernüchterung: Sowohl der Album- als auch die Songtitel waren alle auf Englisch. Menno. Naja, was solls, hör ich mir trotzdem mal an... Und dann: Yippie, (weiß-)russisscher Punkrock und das auch noch sehr geil! Ich verstehe selbstredend natürlich kein Wort, aber das klingt schon richtig gut und laut PR-Maschine ist Mister X eine Koryphäe der antirassistischen Skinhead-Szene in Osteuropa. Der Albumtitel Worst in Ex-USSR since 2003 ist natürlich reines Understatement, in Wahrheit reißt die Band aus Grodno die Bude gewaltig ab. Leicht haben sie es mit ihrer Einstellung im Lukaschenko-Staat sicher nicht. Umso bewundernswerter ist ihre Beharrlichkeit und ihr Mut. Geiles Ding - auch ohne Exoten-Bonus!
Wallis Bird
(ms) Die Eigenschaften und Möglichkeiten des menschlichen Wesens sind immer wieder faszinierend. Am liebsten habe ich das Staunen. Staunen ist in so fern schön, da es nichts erklären muss. Es ist eine reine Momentaufnahme. Man muss auch nichts verstehen, wenn man wieder Sinneseindrücke aufs Gehirn einprasseln. Da ist nur dieses Kribbeln, dieses Krabbeln, das nicht-mehr-los-werden, die Begeisterung, dass da gerade irgendetwas Unerklärliches, ja Mystisches passiert. Dann packt Musik. Dann hat sie den größten Effekt, die sie meines Erachtens haben kann. Wallis Bird muss hier natürlich erwähnt werden. Die irische Powerfrau lebt das. Leider habe ich sie noch nie live gesehen, mir aber sagen lassen, dass es irre sein soll. Nun höre und sehe ich ihren neuen Track What's Wrong With Changing und komme aus dem Baffsein nicht mehr raus. Was ist das für ein mitreißender Beat? Was ist das für ein offener Text? Und was um Himmels Willen ist das für eine geile Choreographie? Das irre Lied wird auf der neuen Platte Hands erscheinen, die am 27. Mai zu haben ist. Sie sagt sinnigerweise: Neuneinhalb Lieder für neuneinhalb Finger. Ihre Rasenmäher-Geschichte sollte bekannt sein, ebenso wie ihr einzigartiges Gitarrenspiel. Das könnte fulminant werden. Oder halt zum Staunen einladen!
Waving The Guns
(ms) "Deine Crew ist eine Bank, denn sie muss den Schein bewahren." Als ich im letzten Sommer in strömendem Regen sah, meinte Milli Dance, dass er sich vorher noch nie so wohl auf der Bühne gefühlt habe wie mit Livedrums und DJ Joaf an den Turntables. Das ist für die ehemaligen Mitglieder natürlich etwas bitter, freut mich aber dennoch, derart leidenschaftliche Künstler zu sehen. Die Gruppe war schon immer und ist nun mehr recht stark auf Milli Dance zugeschnitten, aber es bleiben selbstredend Waving The Guns. Dass es ein neues Album gibt, war schon länger klar, jetzt sind auch die Rahmendaten klar. Titel: Am Käfig Rütteln. Label: Audiolith. Datum: 8. April. Mit Gran Canaria zeigt er mal wieder, was die Quintessenz seines Textens ist: Scheiße labern, gegen andere austeilen - egal ob Rapper oder andere Idioten - und natürlich deutlich dafür einstehen, auf welcher gesellschaftspolitischen Seite man steht. Es ist sicher nicht der aller stärkste WTG-Track, aber ich habe mich dabei erwischt, wie ich langsam aber stetig lauter gedreht habe. Also: Mal wieder alles richtig gemacht.
Get Well Soon
(ms) Musik und Erwartungshaltungen. War oben schon mal Thema. Rührt Konstantin Gropper mal wieder neue Klänge zusammen, erwarte ich nichts anderes als ein Meisterwerk. Seit sicher vierzehn Jahren bin ich seiner Musik komplett verfallen und er konnte mich mit jedem Album überzeugen. Am 25. März erscheint das nunmehr sechste Album von Get Well Soon und die Spannung steigt. Nachdem Mantra mich nicht so packen konnte, sieht es bei One For Your Workout ganz anders aus. Und das war mir mit dem ersten Takt sofort klar. Wenn sich der Song dann zu einem unaufhaltsamen Dauerlauf, wie im Video zu sehen, entwickelt, geht die künstlerische Gesamtidee vollkommen auf. Das Lied konnte für meinen Geschmack und meine Ohren endlos sein. Das Tempo, die Dichte, die kleinen Pausen, die schnell wieder aufgehoben werden. Das ist mal wieder gut arrangiert. Vielleicht eins seiner eingängigsten und leicht zugänglichsten Stücke, aber egal. Wer kann, der kann. AMEN wird sicher wieder eine Platte mit tausend Facetten sein. Genau das beeindruckt mich bei dieser Band seit so langer Zeit!
(ms) Auf ein Mal waren sie da. So ziemlich aus dem Nichts tauchte eine Band mit seltsamen Namen auf und verwüstete alles, was sie hinterließen. Die große Zeit des (britischen) Indiepop war 2012 eigentlich schon längst vorbei, da nehmen Alt-J ihre Instrumente in die Hand und lassen alle Hörenden ratlos zurück. Was zur Hölle ist das denn bitte?! Wie kommt man nur auf so einen Sound? Wie kann man nur so singen? Wie kann man Lieder derart arrangieren? Wie schafft man es, tausend Ideen in einen einzigen Song zu packen? Und wie um alles in der Welt ist es möglich, dass das genau so klingt? So neu. So frisch. So unvergleichlich. Das Trio hat es geschafft, einen vollkommen eigenen Klang zu generieren. Das gab es vorher nicht. An Awesome Wave ist ein Album, das wirklich einschlug. Und ich bin mir bis heute sehr, sehr sicher, dass es ein Album für die Ewigkeit sein wird. Wenn es das nicht schon längst ist. Die großen Charakteristika sind Joe Newmans Gesang, ihre filigranen Arrangements und der extrem furchtlose Einsatz von Bass, der alle Fenster erzittern lässt. Ja, alt-J haben es geschafft, sich mit ein, zwei Alben ziemlich weit nach oben zu spielen. Und so weit oben gibt es natürlich auch Probleme. Und die meisten kommen in Form von Erwartungshaltungen daher. Mit Relaxer, dem dritten Album, habe ich sie irgendwie verloren, ihre Musik war nicht mehr so präsent und ich kann überhaupt nicht sagen, wieso.
Nun steht mit The Dream ab dem 11. Februar ihre neue Platte in den Regalen. Ich habe mich sehr darauf gefreut, dass sie mich erneut vollkommen umhauen. An vielen Stellen dieses Werkes gelingt es den Briten auch. Doch dies sind kurze Peaks, die mich am Ball halten, weil ich sonst eventuell schnell weggeklickt hätte. Hören wir uns das mal genauer an und ich versuche meinen Eindruck zu untermauern.
Als erstes von zwölf Stücken erklingt Bane. Und hier die nächste wichtige Info: Bei alt-J höre ich überhaupt nicht auf den Text. Es ist mir vollkommen egal, was Newman singt. Er könnte auch die Bedienungsanleitung einer Mikrowelle einsingen. Völlig unerheblich. Bei dieser Band achte ich - pardon an dieser Stelle - ausschließlich auf den Sound. Bane also. Werbestimmen. Gezupfte Gitarren. Paukenschläge. Und ab 54 Sekunden ein typischer, geiler Chor, der mich sofort packt. Herrlich! So habe ich mir das vorgestellt. Eine Minute später beginnt auf dem gleichen Track quasi ein neues Lied. Wieso? Das war bis dahin so voller Spannung. Sie musste nur noch explodieren. Ist sie aber nicht. Richtiger Rhythmus erst nach drei Minuten. Ist natürlich auch gut gemacht, inklusive alt-J-typischem Bass und Querflöte. Ein Track wie ein gutes Crescendo. Aber es kommt nicht an. Als ob nach siebzig Prozent einfach Schluss ist. Ratlosigkeit macht sich breit. Die anhält bei der ersten Single U&ME. Ein ganz feiner Popsong, der aber recht belanglos aus den Boxen wabert. Natürlich, ich wippe auch irgendwie mit und der Groove dringt schon durch, aber irgendwie so halbgar. Klar, ich will nicht nochmal das gleiche Album wie vor zehn Jahren hören. Aber ich erwarte mehr Pfiffigkeit. Doch Aufatmen ist drin: Hard Drive Gold knallt ziemlich gut rein. Da steckt echt viel Drive drin, das macht schon sehr viel Spaß. Da ist er wieder, der typische Gesang, ein extrem satter Bass (geilgeilgeil), unterschiedliche Tempi und ganz viel musikalisches Geschick. Yeah! Ganz viel Leichtigkeit und Raffinesse steckt in diesem Lied. Das ist deren großes Talent! Happier When You're Gone ist für mich recht repräsentativ für die ganze Platte. Immer wieder gibt es mit den Chor-Parts, den tollen Gitarren und dem Groove viele gute Elemente, die ziehen. Doch insgesamt überzeugt es mich leider nicht. Da steckt doch viel mehr in dieser Band! Oder? Und auch wenn in The Actor öfter nach Eiscreme gerufen wird, zieht es sich zusehends wie Kaugummi: anfangs immer wieder lecker, aber bei ständigem kauen doch eher dröge. Dass der durchaus liebevolle Song Get Better mitten auf der Platte ertönt, verstehe ich nicht. Das Wiegenlied-ähnliche Stück nimmt reichlich Fahrt aus der Platte, die sich in meinen Ohren auch noch gar nicht so sehr entfaltet hat.
Es ist wirklich ein reines Auf und Ab. Chicago startet schwach und nichtssagend und entwickelt sich dann rasch in eine dunkel wummernde Techno-Nummer. Super geil! Also richtig, richtig stark. Mit dem einzigen Nachteil: Es knallt nicht. Es verpufft erneut. Ich verstehe es einfach nicht. Warum hören sie oft so nah vor dem Peak auf?! Philadelphia anschließend ist wieder ein super Ding! Herausragende Entwicklung, starke Elemente, die sich abwechseln. Super arrangiert und eingespielt. Das gilt es zu genießen. Toller Track! Insbesondere der umfangreiche Einsatz der Streicher ist zu erwähnen. Das geht super auf!
Gegen ruhige Stücke habe ich gar nichts einzuwenden. Doch dann müssen sie mich durch ihre Atmosphäre auch irgendwie bei der Stange halten. Wenn Walk A Mile sechseinhalb Minuten vor sich hin plätschert, bin ich erneut vollkommen ratlos. Für mich bleibt diese Platte mit ihren Aufs und Abs ganz, ganz schwer zu greifen. Losing My Mind, kurz vor Schluss, ist noch so ein Paradestück. Im wahrsten Sinne. Es hat das ganz, ganz große Potential, so richtig herrlich auszubrechen. Tut es aber einfach nicht. Wieso nur?!
Ach, ich werde einfach nicht schlau aus diesem Album. Immer wieder leuchte es auf. Das einzigartige Verständnis des Trios, Lieder mit ganz eigener Struktur zu erschaffen und erklingen zu lassen. Und so gut wie jedes Mal erstickt es, kurz bevor es leuchten kann. Ich werde nicht schlau draus. Daher bin ich schon stark enttäuscht, da so viele gute Ideen und Ansätze aufhorchen lassen, aber alle verkümmern weitestgehend. Argh, das tut mir richtig leid, das so schreiben zu müssen.
Dafür werden sie live sicher wieder zeigen, wozu sie bestimmt sind. Sie sind sogar so frech und gehen in den USA mit niemand geringerem als Portugal. The Man auf Tour. Hammerhart!
Am 12. Juni spielen sie beim Tempelhof Sounds in Berlin.