Freitag, 31. Juli 2020

KW 31, 2020: Die luserlounge selektiert

Bild: https://steamcommunity.com/
(ms/sb) Ein Buch liegt immer auf dem Nachtschrank. Oder auf dem Sofa. Will sagen: Irgendwas lese ich immer. Und regelmäßig flattern Tipps rein oder man liest über Lesenswertes. Das schreibe ich mir auf eine Liste, die stetig wächst und beizeiten wieder in der Buchhandlung meines Vertrauens abgearbeitet wird.
Letztens tauchte dann der Name Alice Munro auf. Kurzgeschichtenschreiberin, Literaturnobelpreisträgerin, Koryphäe. Ich kannte mich mit ihrem Werk nicht aus, informierte mich, kaufte Jupitermonde. Meine Hoffnung und Erwartung: Spannende, kurze Geschichten, die einen vielleicht zum Nachdenken anregen und weiter bringen. Die Realität: Bitte Enttäuschung, eine riesige Qual. Vielleicht habe ich das Buch auch zur falschen Zeit gelesen (viel Trubel im Privaten), aber ich hatte stets den Eindruck, dass die Geschichten auf gar nichts hinaus laufen. Und es tauchen viel zu viele Personen auf für viel zu wenig Zeiten. Langwierig, quälend. Und dabei offenbarte sich eine Schwäche: Ich kann kein Buch einfach so weg legen. Ich muss das zu Ende lesen. Argh, das hat viel zu lang gedauert. Grauenhaft. Doch nun ist es geschafft. Gibt es Tipps für gute, spannende, lesenswerte Sommerlektüre?

Buch aus. Musik an. Luserlounge hier. Selektion. Freitag. Wird gut, versprochen. Abfahrt:

Jonas David
(ms) Vor vielen Jahren las ich, dass die Produktion eines Musikvideos standesgemäß einen niedrigen fünfstelligen Betrag kosten würde. Ich kenne mich in den Hintergrunddaten dabei nicht aus, vermute aber, dass es heute nicht mehr so exorbitante Beträge nach sich zieht. Mit einem guten Handy lässt sich ja mittlerweile ein ansehnliches (Musik-)Video drehen. Was ich sagen will: In den besten Fällen unterstreicht das Video ja die Stimmung oder gar Handlung aus dem Track. Dann entsteht eine wunderbare Symbiose. Und was Jonas David hier geschaffen hat, lässt einen baff zurück. Eigentlich passiert im Video zu all in all in all nicht viel. Doch man wird ziemlich schnell in das Schicksal des Protagonisten hineingezogen und nimmt Anteil an seiner - durchaus ausweglosen - Lage. Am besten selber schauen.
Und diese traurige Stimmung, diese Sackgasse, in der der Typ steckt, wird ideal mit der musikalischen Atmosphäre in Verbindung gebracht. Es ist wie ein Kurzfilm. Das Lied wird auf seinem kommenden Album Goliath vertreten sein. Und wenn dann mal wieder Konzerte vollumfänglich stattfinden dürfen, dann ploppen bei diesem Stück sicher sofort diese Bilder auf. Keine Garantie, dass dann keine Tränen rollen. Aber okay. Jonas Davids Musik hatte immer schon den wunderbaren Sog, dass man sich einfach darin fallen lassen kann. Ganz sanft. Und dann wird man ein Stück aus der Realität entrückt. Film ab:


Rooks
(sb) So, um zur kanadischen Band Rooks zu kommen, muss ich jetzt gaaaaaaaaaaanz weit ausholen! Mein Arbeitgeber richtet jedes Jahr (wobei: 2020 ist alles anders...) in Zusammenarbeit mit einem örtlichen Veranstalter ein kleines Musikfestival aus, auf dem Musiker von Weltruf auftreten und das Publikum begeistern. "Weltruf" ist dabei aber nicht so zu verstehen, dass da die Stones, Pearl Jam oder die Rihanna kämen, sondern Künstler, die in ihren Nischen von Kritikern hochgelobt werden, kommerziell jedoch mäßig erfolgreich sind. Thomas Blug ist da das beste Beispiel - super Typ, super Musiker! Und genau in diese Kerbe schlagen eben auch die Rooks. Die drei Musiker wissen genau, was sie tun, jeder Handgriff stimmt und keine Frage: Leute, die auf die Rockmusik der 70er Jahre abfahren, werden The High Road (VÖ: 06.11.) lieben. Da steckt einfach wahnsinnig viel Qualität drinnen, auch wenn das Rad alles andere als neu erfunden wird. Leider dürfte genau das den Kanadiern zum Verhängnis werden, denn das klingt schon verdammt nach Feuilleton-Liebling, nach einer Band, der großes Talent und bestes Know-How zugeschrieben wird, die es jedoch nicht über den Status des Geheimtipps hinausschaffen wird. So schade es auch ist, aber wenn ich mir die Musik der Rooks anhöre, habe ich unweigerlich das Publikum des oben angesprochenen Open Airs vor Augen: musikbegeisterte Altrocker jenseits der 50, die ihre Jugend wiederaufleben lassen. Sei ihnen gegönnt, aber meins wars halt leider nie so wirklich.



Anna von Hausswolff
(ms) Im luserlounge-Postfach ist Sommerloch. Es läuft ja so: Uns wird eine Menge zugespielt von Agenturen oder auch direkt von Bands, wir schauen, hören, urteilen, selektieren. Doch diese Woche ist da tatsächlich nicht viel los. Leider macht diese Fixierung genau auf diesen Prozess auch ganz schön faul, mal wieder selbst auf die Suche zu gehen. Bei Anna von Hausswolff war es gewissermaßen so. Die Suche hat die junge Schwedin jedoch selbst eingeleitet in den vergangenen Tagen und ihre Online-Präsenzen mit Inhalten gefüllt, die zu Spekulationen führten. Im Musikbusiness kann es dann ja aber meist nur ein Ergebnis geben: Es gibt neuen Stoff. Und das ist auch hier der Fall. Juhu. Endlich wieder! Denn wenn Anna von Hausswolff zuschlägt, dann wird es mächtig, groß, außergewöhnlich, opulent. Ja. All das trifft zu. Unumwunden. Am 25. September erscheint ihr fünftes Album All Thoughts Fly. Und ihre musikalische Entwicklung ist absolut nachvollziehbar. Startete sie noch mit einem Werk, das vom Klavier dominiert wurde, steigerte sie sich immer tiefer in die großen, düsteren Orgelklänge rein und reizte das Instrument schon deutlich aus. Immer garniert mit Rhythmuselementen, brachialen Gitarren und wildem Gesang.  Die Konsequenz: Nur noch die Orgel sprechen lassen. Purer Klang. Das hat sie auf Källan schon bewiesen, dass sie es will und kann. All Thoughts Fly wird nun ein pures Orgel-Album. Kein Gesang. Keine anderen Instrumente. Aber eine Geschichte dahinter, die mit dem ersten Track Sacro Bosco eingeleitet wird. Dieser italienischer Name verweist auf einen geheimnisvollen Skulpturengarten nördlich von Rom. Dort stehen große, düstere, geheimnisvolle Steinskulpturen, die Gesichter zeigen, Botschaften beinhalten. Sie faszinieren, beängstigen gewissermaßen. Genau das richtige Material für die Schwedin. Juhu. Sommerloch gefüllt. Die Vorfreude beginnt ab jetzt!


Angel Olsen
(ms) Die Musik, die in den letzten Wochen und Monaten erschien - und das ist jetzt mal nur so ins Blaue geschrieben, ohne das untersucht zu haben -, ist ruhiger als sonst. Einiges ist sicher einfach zu Hause entstanden. Anfangs war die Nutzung eines Studios bestimmt auch ein Problem. Und auch die Geschichten, die sich aufdrängten, mussten schnell raus, da war keine Zeit für großes Tamtam.
Die neue Platte Whole New Mess von Angel Olsen entstand leise, die aktuelle gesamtgesellschaftliche Ausnahmesituation hat damit nichts zu tun. Doch es passt hervorragend ins Bild. Nun könnte man verdutzt fragen: Was, schon wieder ein neues Album von Angel Olsen? Hat sie nicht erst letztes Jahr All Mirrors herausgebracht? Ja, das stimmt. Und einige Texte davon werden auf der neuen Platte auch zu hören sein. Nur anders. Gewaltig anders. Denn, wie gesagt, es ist leise. Die Wucht, der orchestrale Charakter vom Vorgänger ist nicht zu finden. Die neuen Lieder und die alten im neuen Gewand tragen die DNA einer persönlich schwierigen Lage der Musikerin. Die gleichnamige Singleauskopplung verkörpert diese Stimmung sehr gut. Sie ist klar, aber irgendwie auch bedrückend. Aufgenommen wurde in einer alten Kirche, die zum Studio umfunktioniert wurde. Der Klang - so ist für die ganze Platte zu hoffen - wird breit und direkt sein. Möglicherweise in Mark und Bein gehen. Aber das ist gut. Dann schließt sich ja vielleicht der Kreis, woher die Songs stammen. Am 28. August erscheint das Album und ich bin jetzt schon sehr gespannt, was die Stimmung dessen mit mir machen wird.


Korn
(ms) Nashville, Tennessee. Diese Stadt ist die absolute Wiege der Country-Music und des Folk. Elvis und Leonard Cohen sind mit der Stadt verbunden, Johnny Cash ist dort gestorben. Und auch ein anderer trieb dort sein Unwesen: Charlie Daniels. So wie er Country spielte, genauso habe ich es mir immer vorgestellt. Der typische Hut passt zur visuellen Vorstellung, es ist verspielt, temporeich, tanzbar mit Fiddle und einer richtigen Geschichte im Track. Unter anderem in seinem größten Hit: The Devil Went Down To Georgia. Der erschien vor 41 Jahren, 1979. Nun ist im vergangenen Monat Charlie Daniels verstorben, er wurde 83. Natürlich starb auch er in Nashville.
Und solche bedeutsamen Tode in der Musikwelt ziehen Effekte nach sich. Immerhin war The Devil Went Down To Georgia ein riesiger Erfolg und sogar für den Grammy nominiert. So kondolieren auch Formationen, die man mit dem Stil so gar nicht verbindet. Die dem Meister aber dennoch die Ehre erweisen. Wir sprechen von Korn. Der Nu-Metal-Formation. Genau. Die Fiddle wurde durch eine temporeiche Gitarre ersetzt. Den Gesang im Refrain übernimmt der Rapper Yelawolf, sodass eine düstere Nummer daraus wird. Doch die Typen um Jonathan Davies sind gute Menschen. Der Track erscheint ausschließlich via Bandcamp (klar, Ableger woanders lassen nicht lang auf sich warten). Aber dort kann man den Song auch kaufen. Der Erlös geht zu hundert Prozent an Awakening Youth, einer Organisation, die sich um vom Schicksal mitgenommene Jugendliche kümmern. Gute Sache. Guter Song.



Mittwoch, 29. Juli 2020

Zugezogen Maskulin - 10 Jahre Abfuck

Foto: Rob Kulisek
(ms) Angefangen Rap zu hören, habe ich mit Fettes Brot. Da ist wohl aber auch Sprechgesang oder Pop der richtige Begriff. Und das ist recht lange her. Das eröffnete die typische Teenie-Phase, in der man (auch) das hörte, was halt überall läuft: Massive Töne, Curse, Samy Deluxe.
Das war dann irgendwann (zum Glück) rum und wurde von einer relativ langen Phase abgelöst und/oder aufgefangen, in der Gitarren in irgendeiner Art und Weise im Vordergrund standen. Das hält bis heute an. Doch neben Genres wie Neo-Klassik, Easy Listening oder Hardrock kam dann auch der Rap für mich persönlich wieder zurück. Bands wie Neonschwarz, Waving The Guns oder sookee haben mich extrem überzeugend wieder zur Kopfnickermusik geführt. Neben der politischen Schiene hat sich die Bande um die Antilopen Gang, Fatoni, Juse Ju, Edgar Wasser, Dexter, Audio88 und Yassin in meinen Hörgewohnheiten breit gemacht.
Zugezogen Maskulin passen da nirgendwo so richtig rein. Unterhaltsam: ja. Politisch: ja. Sehr viel Flow: ja. Aber. Mit ihrem herrlich doppelbödigen, zynischen, schwarzhumorigen Prolo-Asi-Auftreten stehen grim104 und Testo irgendwo anders. Wo genau, mag ich gar nicht vermuten. Wo anders halt. Derart wo anders, dass sie auch mal Support von Thees Uhlmann gewesen sind. Schräg, aber passt.

Vor drei Jahren erschien ihre letzte Platte Alle Gegen Alle und sie läuft regelmäßig daheim laut aufgedreht. Denn das muss. ZM leise funktioniert halt nicht. Dann stoßen sie nicht an. Dann ärgern sie nicht. Dann provozieren sie nicht. Laut geht das alles wesentlich besser. Dann wird durch die Boxen auch erst so richtig deutlich, wie grim wütend ins Mikro brüllt oder Testo schön pseudo-prollig seine Lines raushaut. Ja, ihre Arten ergänzen sich herausragend. Von Gegensätzen mag ich gar nicht sprechen. Aber es war ein pfiffiger Schritt, dass sie beide zusammen auftreten und unterschiedliche Rollen spielen.


Damit ist es bald womöglich vorbei. Denn kommende Woche Freitag, am 7. August, erscheint ihr neues Werk: 10 Jahre Abfuck. Und nicht nur der Titel der Platte legt nahe, dass dies vielleicht das Kapitel Zugezogen Maskulin beendet, sondern auch einige Tracks, die darauf enthalten sind.
Bitte Folgendes nicht falsch verstehen: Sollte es in der Art wie auf dem neuen Werk doch weiter gehen, dann ist es gut, dass sie aufhören. Denn leider ist ihr viertes Album eine riesige Enttäuschung. Unabhängig von den Tracks und dem Inhalt (kommen wir gleich zu), hat man natürlich eine gewisse Erwartungshaltung an neue Releases. Auch beim Wahlberliner-Duo. Fies soll es sein. Prollig soll es sein. Politisch soll es sein. Vor derbem Diss sollte eine Menge vorhanden sein etcetcpp. Aber ich will keinen Coming of Age-artigen Rückblick hören, dem der Wumms fehlt. Sowohl in den Beats als auch im Inhalt. Für diesen Text habe ich mir 10 Jahre Abfuck mehrmals durchgehört, und jedes Mal war eine Qual. Inständig habe ich ab der Hälfte gehofft, dass es bald vorbei ist. Doch die Platte schleppt sich von Song zu Song und kann mich nicht überzeugen. Im Gegenteil.
Dabei möchte ich dringend dazu sagen, dass hier kein Rap-Experte am Start ist. Dafür sind andere da. Vergleiche siehe oben. Doch den Weg von ZM habe ich aufmerksam verfolgt, sie ein paar Mal live gesehen und dort zurecht komplett abgefeiert. Nun. Gehen wir mal ins Album rein...

Eröffnet wird es mit einem dem Album gleichnamigen Track. Und wenn grim sagt, Erwartungen enttäusche ich am liebsten mit Vorsatz, dann möchte man das am liebsten glauben. Doch es gab keinen spürbaren Vorsatz, das ist hier das Problem. Müder Beat, müder Text direkt zu Beginn. Sie referieren über ihre Anfänge. Also echt. Das ist ja okay, aber das haben sie auf drei Platten bewiesen, dass sie es enorm besser können. Weitaus besser! Puh, es folgt Der Erfolg, der den beiden wohl Recht gebe. Ich will nur skippen, ein völlig belangloser Track. Tanz Auf dem Vulkan ist dann endlich politisch und derbe, aber der Trap-Beat nervt komplett. Klar, ZM wollen nicht gefallen. Aber so bugsiert man sich auch komplett ins Aus. Doch der Song ist immer noch einer der wenigen Lichtblicke des Abfucks.
Rap.de ist selbstredend eine Abrechnung. Auch mit Figuren wie Denis Cuspert, der für den IS kämpfte und starb. Aber darüber sich nochmal auszulassen... na gut. König Alkohol hingegen ist der Gegenpart zu Grauweißer Rauch. Inhaltlich macht es natürlich neugierig. Doch es klingt so, wie das letzte Bier schmeckt, was ja immer etwas über ist. Werden sie zu dem Lied wieder Champagner ins Publikum ballern? Zuzutrauen wäre es ihnen natürlich, schön doppelbödig. Nur leider hat der Song keinen Zug, keinen Drive, plätschert klanglich vor sich hin, kann auch vom Text nicht überzeugen, außer dass man beinahe ein wenig Mitleid bekommt. Normiefest ist in erster Linie ein dämlicher Begriff. Im Track reflektieren sie, dass sie irgendwann im Mainstream angekommen sind, wo sie nie hin wollten. Aber die Gage stimmt halt. Verabschieden sie sich nun aus diesen Kreisen?


Über das männliche Gehabe im Business und in der Gesellschaft referieren sie auch. Gutes Thema, brenzliges Thema, insbesondere im testosterongetränkten Rap. Doch auch Echte Männer Freestyle kann nicht überzeugen. Das hat Juse Ju bei Weitem besser gemacht. Oh ja!
Mit Sommer Vorbei kommt der nächste Lichtblick durch die düsteren Wolken. Super starker Part von grim und eine kleine Abrechnung mit der partywütigen Jahreszeit und Testos Überzeile Habt ihr F*tzen eure Tage / Warum wird hier nicht gelacht. Tatsächlich findet dieser Sommer ja gar nicht statt. Blühen die beiden wohl gerade auf?
Dunkle Grafen überzeugt auch, nur der Beat wird mal wieder mehr als gewöhnungsbedürftig. Doch das sage ich als Normie. Jeder Schritt ist wohl das mit das Härsteste, was sie als Duo zu Papier gebracht haben. Einen inhaltlich ähnlichen harten Track hat grim ja schon auf seiner Solo-EP gebracht. Hier sollte man einfach aufmerksam hinhören. Fans mit Ahzumjot ist eine weitere schöne Abrechnung mit der Branche; immerhin will ich das Lied nicht sofort skippen. Okay. Auch da scheint in einigen Zeilen durch, dass es das letzte gemeinsame Album von grim104 und Testo gewesen sein wird. Es War Nicht Alles Schlecht - skip. Exit zum Schluss ist dann noch ein Trostpflaster, vielleicht der stärkste Song des Albums. Ein guter, reflektierter Track, der aber auch die vielen Tiefpunkte des Albums nicht wett machen kann.

Puh. Okay.
Nochmals: Ich bin kein Rap-Experte. Aber das hier ist echt hart. Insbesondere wenn man weiß, wie unendlich gut die beiden sein können. Doch wenn sie nochmal auf Tour gehen, werde ich da sein. Manchmal wirkt es live ja besser als gedacht. Diese Hoffnung bleibt.

Montag, 27. Juli 2020

Oehl - Im Spiegel

Foto: Alexander Gotter
(ms) Wolken verhängen nicht nur den Himmel. Klar, die Großen, Dunklen, Furchteinflößenden lassen einen nicht unbedingt auf einen entspannten Sommertag hoffen. Doch wenn es kracht, zeugen sie auch von einer gewissen Ästhetik. Auf der anderen Seite verdecken sie den Himmel auch im Guten, damit die Sonne nicht ihre ganze Kraft auf uns nieder drischt. Ja, oft wird das Blau oben umso schöner, wenn es von diesen eigenartigen, Regentropfen tragenden Gebilden umgarnt wird.
"Diese Wolken haben's mir angetan." Das singt das österreichische Duo Oehl um Ari und Hjörtur. Ende November des vergangenen Jahres kam dieses wunderbare, verzückende Lied samt traumtanzendem Video raus. Sofort ummantelte mich dieses Lied und ließ mich nicht mehr los. Es lief lange Zeit mindestens ein Mal am Tag, gerne abends kurz vor der Nachtruhe. Ich kann darin schwelgen und dazu tanzen. Der Song kommt mit einer sanften Eleganz daher, mit feinstem Songwriting und einem leicht verspielten Klang. Das schlug bei mir ein und setzte sich fest. Bis heute. Und es wurde noch besser. Denn ihr Album Über Nacht, das im Frühjahr erschien ist eine Wucht (hier der Bericht dazu). Ein bisschen mehr als die Hälfte des Jahres ist rum, und es ist immer noch mein absoluter Favorit der diesjährigen Neuerscheinungen.
Das passende Konzert dazu in Bremen war herausragend. Und das ist nicht übertrieben oder dient einem werbenden Zweck. Es ist Fakt. Ihre Show sieht beschwingt und leicht aus, doch dahinter verbirgt sich hohes musikalisches Können und mit ihrer Sympathie überzeugen sie auch die letzten Zweifler.
Nun hatten sie für die Live-Darbietung ja 'nur' ihr eines Album. Was tun, um einen Abend zu füllen? Einfach für die beiden: Schnell noch ein paar Songs geschrieben und ein, zwei Cover gespielt. Großartig.

Dieses Rad dreht sich nun weiter. Aber in eine andere Richtung. Denn nicht Oehl covern nun andere Künstler, nein. Ausgewählte Musikerinnen haben sich sechs Stücke der Österreicher vorgenommen und neu eingespielt. Mit eigener Note. Mit individuellem Charakter. Ohne das Original aus den Augen zu verlieren. Es ist ein tolles Corona-Projekt und auch eine super Zusammenarbeit mit anderen Kreativen. Diese sechs Stücke kommen als digitales Release am Freitag (31. Juli) heraus unter dem Namen Im Spiegel. Eine wunderschöne Metapher für eine Neuinterpretation. Auch toll, dass ausschließlich weibliche Künstlerinnen sich in diesem Projekt wiederfinden. 

Culk machen aus Tausend Formen eine reduzierte Popelektronummer. Spannender, lustiger Nebeneffekt von Im Spiegel: Einige Texte sind nun besser zu verstehen, da Ari am Mikrophon gern bewusst ein wenig nuschelt. Children verpassen Anlegen auch einen deutlich elektronischeren Touch, locker und sanft. Der UhhUhhh-Hintergrundgesang kommt dabei super durch, sodass der ohnehin tanzbarste Song von Über Nacht noch mehr Drive erlangt. Richtig experimentell wird die Neuauflage von Neue Wildnis. Denn Brynja kommt wie Hjörtur aus Island und verwandelt den Song in ihre Muttersprache und in ein traumwandelndes Korsett: Auðn heißt es nun. Lylit macht aus dem kurzen Bisher, das das Oehl'sche Album eröffnet einen dreiminütigen Track, der schon beinahe in Richtung Neo-Chanson dringt. Herrlich sanft, zart, ja beinahe zerbrechlich ist Berglinds Version von Über Nacht: sphärischer Klang macht sich breit, der langsam explodiert. Eine gezupfte Gitarreninterpretation von Keramik steuert Mira Lou Kovacs der EP bei. Hört man diesen Track über Kopfhörer, entfaltet sich die Schönheit dessen noch stärker und dringt durch Mark und Bein.

Ja, Coverversionen sind immer eine heikle Angelegenheit. Viele wirken einfach nachgespielt und uninspiriert. Bei diesen sechs Stücken spielt dies zum Glück keine Rolle. Die Balance zwischen eigener Note und dem nötigen Wiedererkennungswert ist nahezu perfekt austariert.
Im Spiegel. Oehl. Sie verzaubern ein weiteres Mal! Wolkenbetupfter Himmel!




Freitag, 24. Juli 2020

KW 30, 2020: Die luserlounge selektiert

Bild: pitchfork.com/
(sb/ms) Das letzte Konzert, das ich besucht habe, war Anfang März in Hamburg. Sookee war auf ihrer Abschiedstournee und ich war rückblickend doppelt froh, dass ich dabei war. Vieles, das geplant war, fiel aus, wurde langfristig verschoben. Vermisse ich es? Auf jeden Fall! Ist der Mensch ein Gewohnheitstier, das sich schnell mit Neuem arrangiert? Ja, das auch. Aber die Sehnsucht pocht unaufhörlich.
Nun gibt es ja zahlreiche Alternativformate, wo auch KünstlerInnen auftreten, die in unserem Fokus stehen. Die Stadt Oldenburg veranstaltet eine lange, sehr gut gebuchte Konzertreihe (u.a. Enno Bunger, Jesper Munk oder Fat fuckin' Toni), der Knust in Hamburg gestaltet seine Sommerkonzerte auf dem Lattenplatz und im Westfalenpark Dortmund finden bestuhlte Konzerte statt, wo unter anderem Waving The Guns und Thees Uhlmann auftreten werden. Gar keine so schlechten Aussichten. Doch ich bin immer noch Realist und meine Hoffnungen, dass im Herbst die vielen, tollen Tourneen stattfinden, sind doch recht gering. Falls hier jemand eines dieser Events besucht, gebt gerne mal Bescheid, ich bin super neugierig auf entsprechende Erfahrungen!

Doch hier ist immer noch die luserlounge. Es ist Freitag. Wir haben selektiert. Das kam dabei heraus!

O Captain! My Captain!
(sb) Seltsam: Vor ein paar Tagen habe ich mir Sleep Well Soon (VÖ: 07.08.) zwei-, dreimal angehört, fand es so lala und schob die Rezension des Albums seitdem vor mir her. Heute Morgen fand ich wieder die Zeit dafür und siehe da: Taugt! Als so stimmungsabhängig hatte ich die neue Scheibe von O Captain! My Captain! gar nicht empfunden, doch scheinbar lag ich da falsch. In seinen besten Moment erinnert das Album gar ein wenig an Blackmail, sonst schwankt es zwischen locker-leichtem Indie-Punk und emoesquem Geschrammel, das zwar gut und leicht ins Ohr geht, aber - so ehrlich muss man sein - genau so schnell auch wieder raus. Live wird das vermutlich sehr gut funktionieren und ich wünsche der Band (wie so vielen anderen auch...), dass sie bald die Möglichkeit hat, ihr Album auf die Bühne zu bringen.
Auch seltsam: Obwohl jeder einzelne der zehn Tracks durchaus zu gefallen weiß, fehlt mir ein bisschen der Link zwischen den Songs, die Struktur, die das Album als Ganzes verbindet. Es wirkt wie ein Sammelsurium von Singles, was ja per se nicht schlimm ist, was mir in dieser Deutlichkeit jedoch bisher eher selten untergekommen ist. Ein krasses Gegenbeispiel hierzu wäre das Album "Suicide Pact - You First" von Therapy?, bei dem die einzelnen Songs nicht wirklich herausragen, das Gesamtwerk hingegen eins meiner absoluten Lieblingsalben formt, weil es textlich, thematisch und atmosphärisch absolut stimmig ist. Aber klar: Ist natürlich ne Einstellungssache, wie man ne LP betrachtet...


Get Well Soon
(ms) Hey ihr kleinen Serienfreaks! Bei wem von euch sind in den letzten Wochen die Serienstunden stark gestiegen, da die sonstigen Freizeitmöglichkeiten ja weitestgehend ausfielen? Ich durfte hart lernen und habe mich mit alt Bekanntem begnügt. Doch damit ist jetzt Schluss. Denn seit dieser Woche ist die zweite Staffel von How To Sell Drugs Online (Fast) natürlich bei Netflix zu sehen. Neben der sehr unterhaltsamen Erzählung kommen im Hintergrund ein paar richtig gute Leute zusammen. Denn hinter der Idee steckt unter anderem Philipp Käßbohrer. Genau, der Typ von der bildundtonfabrik aus Köln, die das Neo Magazin Royale produzieren. Die Musik zur Serie macht niemand geringeres als Konstantin Gropper beziehungsweise Get Well Soon. Nicht nur, dass diese beiden Kreativen lange kooperieren, sie sind auch in der gleichen Stadt geboren, in der Metropole Biberbach an der Riß. Wenn die beiden sich nicht schon aus Sandkastentagen kennen, weiß ich auch nicht...
Nun gibt es zum Start der zweiten Staffel auch endlich einen eigenen Track, der die Serie begleitet. Also nicht nur die Score-Stücke und das Intro, sondern eine eigene Single! Sie heißt Funny Treats und kommt im typischen Get Well Soon-Gewand daher: Dramatisch, opulent und einen Hauch elektronischer als zuvor. Film ab:


Torn Palk
(ms) Was Bands wie Ghost oder Waving The Guns spannend macht, ist, dass man nicht weiß (im ersten Fall zumindest lange nicht wusste), wer dahinter steckt. So kann man sich auf den Klang, die Show, den Text, die Musik konzentrieren, ohne sich mit irgendwelchen Biographien auseinander zu setzen (klar, das macht auch Spaß, führt aber auch oft nicht so weit). Man kann also anonym auftreten oder eine Art Alter Ego sprechen lassen. Das haben die Gorillaz jahrelang recht gut gemacht und zeigt nur, wie genial Damon Albarn wirklich ist. Doch ich schweife mal wieder ab...
Torn Palk. So heißt die Band. Oder eher das Projekt? Im Grunde genommen ist es egal. Auch, dass der Kopf dahinter sich Lady Mus nennt und hinter dem Namen sich nun mehrere Menschen verbergen. Wichtig ist die Musik. Am Mittwoch erschien eine neue Single. Vollkommen unabhängig von ihrer diesjährigen EP Back To Bizarre. Boring Day heißt sie und ist alles andere als öde. Zum Einen ist da dieses Gorillaz-hafte Video in morbider Zeichentrickkunst. Zum Anderen der Text, der einen nicht nur schnell einlullt, sondern auch gern mal baff zurück lässt: It took some time / Now I know we’re all insane / Our feelings come from / Chemicals inside the brain. Hm. Ja, das stimmt, aber eigentlich will man das in dieser Deutlichkeit doch gar nicht wissen. Dieser Text ist eingebettet in einen Dark Wave-artigen 80er Jahre Sound, bei dem der nicht endende Bass reichlich dominant ist. Und das passt hervorragend zusammen. Ein super Gesamtbild macht sich hier breit! Zurück lehnen und sich ein Stück weit verstören lassen:


Matt Costa
(sb) Nein, ein Unbekannter ist Matt Costa ganz sicher nicht, denn bereits seit knapp 20 Jahren hat sich der Kalifornier als Musiker einen Namen gemacht und tourte u.a. mit Oasis, Modest Mouse, Death Cab For Cutie und Jack Johnson rund um die Welt. Am 16.10. veröffentlicht der ehemalige Skate-Profi nun sein fünftes Album und Yellow Coat fasst seine Stärken gut zusammen: Wärme, Behaglichkeit, Unterhaltung, ideale Hintergrundmusik und Wohlfühlatmosphäre. Das gelingt diesmal sogar, obwohl Costa gerade das Ende einer zehnjährigen Beziehung verkraften musste und dies auch in seiner Musik verarbeitet. Recht viel intimer gehts kaum. Was mir bei dem Künstler, den ich nun ja auch schon seit zig Jahren verfolge, jedoch leider immer wieder auffällt, ist der fehlende Wiedererkennungswert, dieses bestimmte Etwas, das ihn unique macht. Eigentlich sehr schade, denn an sich muss sich Matt Costa vom Songwriting her beispielsweise vor Jack Johnson keineswegs verstecken.



Alin Coen
(ms) In fünf Wochen ist es so weit. Dann wartet eine richtige Perle der Musik bei den Plattenhändlern des Vertrauens auf euch. Eigentlich ist es ja ein bisschen seltsam, dass Alin Coen ein Album im Sommer raus bringt, der Jahreszeit der unbeschwerten, sorgenlosen, guten Laune. Seien wir ehrlich: Dafür steht ihre Musik nicht zwingend. Muss sie auch gar nicht. Natürlich war der Termin geschickt gewählt, um die Tour im Herbst stattfinden zu lassen. Sie soll nun nächstes Jahr nachgeholt werden. Nah erscheint am 28. August und ich persönlich freue mich irre darauf. Sanfte, leise Töne, die eine unglaubliche Macht in sich tragen und dann geballt und langsam in die Magengrube hauen. Entflammbar hat mir schon den Atem genommen. Diese Woche erschien die insgesamt dritte Vorab-Single Bei Dir. Und kaum vorstellbar: Es ist ein lockerer, sanfter, fröhlicher Klang und Text! Herrlich und erbauend. Man kann es als romantisches Liebeslied lesen. Doch das tolle Video suggeriert auch, dass gute, richtig gute, nahe Freunde einem das Herz auftauen können, sodass man wieder frei atmen kann. Erneut zeigt Alin Coen, dass sie eine der ganz großen, sehr feinfühligen deutschsprachigen Texterinnen und Musikerinnen ist. Oh, das wird ein klasse Album. Fünf Wochen noch!

Alin Coen tritt sogar zwei Mal in diesem verkorksten Sommer auf. Nicht verpassen:

24.08.2020 Köln, Jugendpark (Silent Concert auf der Summerstage)
29.08.2020 Hamburg, Knust



Montag, 20. Juli 2020

Provinz - Wir bauten uns Amerika

Bild: https://www.facebook.com/provinzband
(sb) Hinterland. Wo jeder Tag aus Warten besteht. Und die Zeit scheinbar nie vergeht. Da sind sie daheim, in Oberschwaben, am Tor zum Allgäu. Der Bandname Provinz ist also Programm - und doch Understatement! Und auch das Warten bekam in den letzten Monaten eine völlig neue Bedeutung im Leben des Quartetts aus Vogt, denn wie bei so vielen anderen Künstlern, so war auch die Planung von Provinz für das Jahr 2020 eine komplett andere. Ihr Debütalbum sollte eigentlich im April erscheinen, eine ausgedehnte Release-Tour folgen - und dann kam Covid-19, Ihr kennt das ja. Der Veröffentlichungstermin wurde daraufhin munter hin- und hergeschoben, erst hieß es August und letzten Endes erblickte Wir bauten uns Amerika am 17. Juli das Licht der Welt. Endlich! Uns liegt das Album bereits seit Wochen vor, läuft auch ziemlich oft, die ein oder andere Passage für diesen Review formte sich bereits im Kopf - und dann habe ich doch tatsächlich die letzte Änderung des Releasedatums komplett verpasst und stand am Freitag ohne Text da. Na super!

Im Endeffekt ist es aber auch egal, denn das Fazit bleibt das Gleiche: Kauft diese Platte, seid von Anfang an dabei, wenn Provinz die (zumindest deutschsprachige) Musikwelt erobern! Genauer gesagt startete die Geschichte bereits 2017, zwei Jahre später folgte ihre erste EP Reicht Dir das und nun also der erste Longplayer.

Bereits die ersten Töne auf Wir bauten uns Amerika lassen erahnen, wohin die Reise führt: diese Stimme, die einen einfängt, der Mut, sie von Anfang an wirken zu lassen und in Folge auch der Text zu Mach Platz!, der vermutlich jedem, der seine Jugend auf dem Land verbracht hat, aus der Seele spricht. Die Welt steht uns offen, hier sind wir und Ihr habt nur auf uns gewartet. Besonders bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass der Song innerhalb einer halben Stunde geschrieben wurde und inzwischen innerhalb weniger Tage 200.000 mal gestreamed wurde.

Und tatsächlich bleibt dieses Provinzielle zumindest subtil in vielen Tracks als Motiv erhalten - und das ist ausschließlich positiv gemeint und zieht sich, wenn man sich denn auf diese Sichtweise einlässt, wie ein roter Faden durch das Album, gibt ihm Struktur und bietet dem Hörer die Möglichkeit, sich daran festzuhalten und zu orientieren. Dass Party und Rausch (Diego Maradona bzw. Augen sind rot) im Hinterland dabei durchaus eine Rolle eine spielten, ist nicht von der Hand zu weisen. Ich kenn das ja selber: so arg viele Möglichkeiten gibts halt außerhalb der Städte nicht, um wirklich was zu erleben - und bei mir waren es damals nur knapp 40 km nach München, während Vogt im Dreieck Wangen, Ravensburg und Leutkirch doch deutlich abgelegener sein Dasein fristet.

Bild: https://www.facebook.com/provinzband

Wie dem auch sei: Vincent Waizenegger, Robin Schmid, Moritz Bösing und Leon Sennewald machen Musik, die die Provinz verlassen wird und tatsächlich schon längst hinter sich gelassen hat. Bereits ihre erste EP wurde von Tim Tautorat (AnnenMayKantereit, Faber) in Berlin produziert, sicher nicht die schlechteste Referenz. Auch live haben sich die Oberschwaben bereits einen guten Ruf erarbeitet und konnten dabei nicht nur Luserlounge-Liebling René Ahlig von No King.No Crown. von sich überzeugen. Provinz boomt und das schlägt sich auch in den Ticketverkäufen für die kommende Tour nieder. Leider musste diese zwar auf kommendes Frühjahr verlegt werden, mit ausverkauften Hallen darf jedoch vielerorts gerechnet werden. Und da die Oberschwaben bereits jetzt so gefragt sind, sind auch schon die ersten Shows für 2022 (!) bestätigt. 

Aber was macht Provinz so besonders? Es ist schwer zu beschreiben, aber quasi auch unmöglich, sich der Musik zu entziehen. Es klingt einfach verdammt nah, sehr vertraut und genau so, wie man sich immer selbst gewünscht hätte, Musik machen zu können. Abwechslungsreiche und doch stets einfangende Melodien, beachtlicher Mitsingfaktor (und schon wieder muss ich Diego Maradona nennen, obwohl es eigentlich sogar der Track ist, der mir fast am wenigsten gefällt auf dem Album), große Gefühle (Verlier Dich), ausgeprägte Tanzbarkeit (Tanz für mich) und alles in allem die beneidenswerte Lässigkeit, die die vier jungen Musiker aus dem Ärmel schütteln. Diese Hoffnungen, Wünsche und Sehnsüchte, diese Fähigkeit, all das in wunderschöne und so treffende Worte zu verpacken, diese Gabe, in diesem Alter schon so erfahren und reif zu klingen - und doch zu wissen, dass noch so viel vor einem liegt.

Provinz, das ist überragend!





Freitag, 17. Juli 2020

KW 29, 2020: Die luserlounge selektiert

Bild: http://web29.co.in/
(ms/sb) Wir müssen über Mode sprechen. Oder über Trends. Bei der ARD gibt es eine sehr sehenswerte Doku über die Sneaker-Szene. Ein irrer Markt. Das war mir in dem Ausmaß nicht bewusst. Da campen Leute vor Läden, um einen Schuh (!) zu kaufen. Aber nicht um ihn zu tragen, das wäre Wahnsinn. Entweder wird er ins Regal gestellt oder für einen noch irreren Preis weiter verkauft. Das fand ich beinahe erschreckend. Krank. Ich trage auch gern gute Schuhe. Aber ich trage sie. Und irgendwann sind sie durch. Punkt.
Jetzt sollte man sich natürlich immer an die eigene Nase fassen, bevor man austeilt. Derzeit packe ich Kartons für einen Umzug. Da müssen natürlich auch alle Bücher, CDs und Platten rein. Schönes Hobby. Leider auch sehr schweres Hobby. Ein gutes, gelesenes Buch verkaufen? Niemals! Ausleihen? Ungern, nur wenn keine Gebrauchsspuren entstehen. Mehrwert? Keiner, nur ideell. CDs verkaufen mit Gewinn? Okay, guter Scherz. Bei Vinyl ist das was anderes. Die ein oder andere limitierte Platte steht schon im Regal, aber sie laufen auch mehr oder weniger regelmäßig. Bei Discogs kann man ja nachsehen, was das gerade wert ist. Doch verkaufen?! Niemals! Nie würde ich diese schönen, haptischen Dinge aus der Hand geben. Daher kann ich die Beweggründe bei den Schuh-Menschen ansatzweise nachvollziehen. Doch: Es sind Schuhe. Ja. Unten, an den Füßen. Das, was mich vom Asphalt trennt. Design als kulturelles Kapital. Ich ordne Musik als höhere Kunstform ein. Persönliches Urteil. How about you?

Back to business. Musik. Luserlounge. Freitag. Wir haben uns durchgehört und selektiert! So!

Herr Rauch
(sb) Sportlehrer aus Leidenschaft - was für ein grenzgenialer Name für eine EP (VÖ: 31.07.), auch wenn er sich selbst anhand der fünf Tracks auf der Scheibe nicht erklären lässt. Egal, das Interesse ist geweckt und bereits der erste Song Kaffee Schwarz ist so vereinnehmend, dass es fast eine Frechheit ist. Wer kennt es nicht, das Gefühl an einem Montag Morgen, wenn einem alles schon wieder viel zu viel ist und das kommende Wochenende samt all seiner Freiheiten eine Ewigkeit entfernt scheint? Salz In der Luft ist Liebe pur, Pogo und Ballett hingegen lässt die Glieder zappeln und versetzt den Hörer unweigerlich in einen kleinen, stickigen Konzertraum, dessen Wände tropfen. Auf Wann Wurde Ich Alt folgt zum Abschluss noch Leider Wein, eine Ode an die Grausamkeit, der Fahrer zu sein, wenn alle anderen saufen dürfen. Diese himmelschreiende Ungerechtigkeit als "kulinarische Einschränkung" abzutun und gleichzeitig auf Basis eines griechischen Volksliedes unverschämt tanzbar zu machen, ist ein Ereignis, das man erlebt haben sollte. Herr Rauch, das ist ganz großer Sport! Und natürlich Leidenschaft - und da schließt sich dann auch wieder der Kreis zum Titel der Scheibe...


Zugezogen Maskulin
(ms) Auch bei der dritten Singleauskopplung von Zugezogen Maskulin steht die Frage im Raum: Beenden Grim104 und Testo mit ihrem kommendem Album 10 Jahre Abfuck die gemeinsame Karriere? Nehmen wir an, dieser bedauernswerte Fall für die hiesige Rap-Landschaft tritt ein, dann wird er mit Sommer Vorbei zusätzlich angefeuert. Das ergibt sich zum einen aus dem Titel. Doch auch im Text, in den Parts von beiden, wird in genau diese Kerbe gehauen, wenn sie vom letzten Abendmahl, Beerdigung oder dem letzten Dosenbier sprechen. Hach. Selbstredend geht es nicht nur um eine Jahreszeit, sondern auch im das Lebensgefühl. Wird das echt ein knallhartes, thematisches und konzeptionelles Abschiedsalbum? Das wäre schon bitter. Aus meiner Warte heraus muss das gar nicht sein. Man kann sich auch auflösen und thematisch unabhängig davon die Platte veröffentlichen. Vielleicht wollen die beiden Wahl-Berliner ja aber auch einen Abgang mit dem größtmöglichen, doppelbödigen Kitsch hinlegen. Zuzutrauen wäre es ihnen. Dazu passt natürlich auch der etwas melancholische Ton des Tracks, die gewisse Langsamkeit. Ciao Ciao. Winke Winke. ZM - bitte bleibt noch bei uns! Ich gebe die naive Hoffnung nicht auf. 


Lang Lang
(ms) Wir reisen mal eben 260 Jahre in die Vergangenheit. Nach Leipzig. Kategorien wie Ost und West waren damals völlig fremd, Deutschland war ein irrer Flickenteppich aus Herzog-, Fürsten- oder Königtümern. Und in Leipzig in der Kirche arbeitete ein junger, extrem begabter Mann: Johann Sebastian Bach. Er war Kantor, erlangte postum Weltruhm. Bis heute trägt er heute einen der Namen der Klassik. 1741 erschienen erstmals gedruckt seine Goldberg-Variationen. Bis heute gelten die 32 Sätze als großes Klavierkunstwerk, an das man sich nicht eben so heran wagt. Doch einer tut das. Guten Gewissens. Ein junger Mann, der mindestens von genauso großem Ruhm umgeben ist: Lang Lang
Er ist ein absolutes Ausnahmetalent. Mit 3 Jahren (!!!) fing er an, Klavier zu spielen. Mozart-Style. Dies zog nicht nur eine extrem außergewöhnliche Biographie hinter sich her, sondern auch einen entsprechend irren Erfolg. Lang Lang mag der bekannteste Pianist der Welt sein. Behaupte ich einfach mal so. Logisch, dass er sich dann irgendwann die Goldberg-Variationen vornimmt. Das tat er. Am 4. September erscheinen sie via Deutsche Grammophon. Er selbst sagt über das Werk: "Das Stück lässt uns alles aus uns herausholen, was wir haben, aber auch alles, was wir nicht haben und noch lernen müssen." Die Spannung steigt also zurecht, wenn im September das Werk erscheint. So klingt das erste Stück:


The Beths
(sb) Es ist diese intensive Beiläufigkeit, diese konzentrierte Wurschtigkeit in der Stimme von Elizabeth Stokes, die The Beths so wahnsinnig interessant macht. Keine Frage: Die Neuseeländer erfinden das Rad des Indie-Rocks keineswegs neu, interpretieren ihn jedoch auf eine sehr angenehme Art und Weise. Die 90er sind zurück und klingen frischer denn je. Zehn Tracks umfasst Jump Rope Gazers (VÖ: 10.07.), jeder von ihnen weiß zu gefallen und dennoch fehlt so der ganz, ganz große Hit, der für den Durchbruch sorgen könnte. Klingt garstig, soll es aber gar nicht sein, denn ich höre das Album wirklich sehr gerne, da es so herrlich unaufdringlich und doch ansprechend ist. Vor einem Vierteljahrhundert war der Begriff "Slacker" mal recht geläufig (googelt das gerne mal, wenn Ihr es nicht kennt) und das ist der Soundtrack zur Einstellung. Deutlich besser als nur ordentlich.


Vlimmer
(ms) Liebe Leserin, lieber Leser. Was passiert, wenn man Joy Division, Drangsal mit einem Hauch Placebo und einer ordentlichen Portion Apokalypse im Schwindel zusammen mixt?! Ja, schwer zu sagen, oder? Aber extrem aufregend anzuhören. Als Band ist das nämlich Vlimmer! Die Basis bildet ein elektronischer Gitarrenklang samt Drumcomputer. Darauf tanzen Akkorde und Synthieflächen, die von einem tragenden Bass begleitet werden. Die Stimme darüber nutzt einiges an Effekten, die Stimmung erzeugen. Zumeist ist es Hall. Das ist die kleine nüchterne Beschreibung des Sounds. Wie wirkt das? Beklemmend, wie im Rausch. Unaufhaltsam, wie eine Achterbahn, aus der man nicht aussteigen kann. Oder ein alter, aber temporeicher Film in schwarz-weiß, wo der Täter von Anfang an bekannt ist und leise zuschlägt.
Es macht halt unglaublich neugierig zu wissen, was dahinter steckt. Denn der gesungene Text von Alex (Vlimmer ist sein Solo-Projekt) ist nicht immer ganz zu verstehen. Doch er ist nachzulesen. Denn Alex macht mit der heutigen Veröffentlichung einen großen Schritt Richtung Ende eines jahrelangen Projekts. Die Texte auf XIIIIII / XIIIIIII haben eine prosaische Grundlage. Die findet man HIER, es ist ein Buch, das er vor fünf Jahren fertig stellte. Es hat 18 Kapitel. Logischerweise zog dies auch 18 EPs hinter sich, die je 5 Tracks enthalten, um den Inhalt musikalisch wiederzugeben. Heute erscheinen Nummer 16 und 17. Bald ist der musikalische Zyklus beendet; der Autor überlegt zudem, das Buch neu aufzulegen. Eine derart enge Bindung aus Prosa und Musik ist mir noch nicht über den Weg gelaufen. Songs von Get Well Soon haben den Anschein große Geschichten zu erzählen, aber die eine (!) Quelle fehlt und Sven Regener vertont halt andere Storys. Ob Alex hier ein Alleinstellungsmerkmal gelungen ist, weiß ich nicht hundertpro. Aber ich vermute es. Die düsteren Lieder sind ein tolles, cineastisches Werk im Riesenformat. Lasst euch drauf ein, dann werdet ihr der Realität entrückt!


Mando Diao
(sb) Ende 2019 veröffentlichten Mando Diao ihr Album BANG, das wir mit gemischen Gefühlen aufgefasst haben. Die Richtung stimmte, die alte Stärke aber noch ein gutes Stück entfernt und doch recht viel Luft nach oben. Heute erscheint nun doch recht überraschend eine neue EP der Schweden und die fünf Tracks auf All The People lassen kaum Wünsche offen. Sehr stark, sehr melodisch, sehr gefühlvoll und stimmlich absolut überzeugend. Der Rock ist zugegebenermaßen etwas zu kurz gekommen, aber da sehe ich gerne darüber hinweg. Sie sind wieder da! Und die EP macht auch richtig Lust, in das kürzlich erschienene zweite schwedischsprachige Album I solnedgangen („Bei Sonnenuntergang“) reinzuhören, das in die Fußstapfen des in ihrer Heimat gigantisch erfolgreichen Vorgängers Infruset tritt, das eines der erfolgreichsten schwedischen Alben aller Zeiten ist (4-fach Platin).


Schönleben
(ms) Es gibt freitägliche Rubriken, die einen gewissen Charakter haben. In den letzten ein, zwei Jahren haben ruhige, meist am Piano gespielte Töne stark Einzug in dieses Format und das Projekt luserlounge erhalten. Zurecht. Großartig. Doch wir müssen auch ein wenig gegensteuern.
Ein Glück, dass es Schönleben gibt. Sie erfüllen für uns sie wunderbare Rubrik: Sich gepflegt anbrüllen lassen bei brettschwerem Gitarrensound. Noch besser wird es, wenn die EP Übungen Im Positiven Denken so gesehen gar nicht geplant war. Aber halt auch kein Ergebnis des Zufalls. Michael, Felix, Jan, Martin und Micha sind/waren in anderen Kombos unterwegs, hatten aber Bock. So haben sie sich getroffen, aufgenommen und gedacht: Ist gar nicht so schlecht. Würden wir so veröffentlichen. Und siehe da: Through Love Records haben beschlossen dem Quintett den Wunsch zu erfüllen. So sind die sechs Tracks plus Intro ab kommender Woche auf einer einseitigen 12" zu haben. Wie geil ist das denn?! Eine Liebe zur Musik, eine Liebe zu den Tönen. Eine Liebe zur Schallplatte. Der leicht verzweifelte Gesang, der aus voller Kehle kommt, das treibende Schlagzeug, die teils anklagenden Texte, der melancholische Hang in den Gitarren. Das klingt ein wenig nach Escapado und dem Besten, was Postrock zustande gebracht hat. Es weiß sehr, sehr zu gefallen! Endlich wieder Gebrüll. Auf geht's: Schönleben!


Donnerstag, 16. Juli 2020

Laraaji - Sun Piano

Laraaji in seinem Element. Foto: Daniel Oduntan

 (ms) Gerne stöbere ich auf diesem Blog herum. Auch wenn ich Autor des selbigen bin. Nicht, um mein kleines Ego zu pushen. Sondern aus Neugier. Denn man vergisst auch, worüber man mal geschrieben hat. Dabei wollte ich hauptsächlich einer Frage nachgehen. Die lautet: Hat sich der Grundtenor, über den hier geschrieben wird, in den letzten Jahren verändert? Im Grunde genommen gibt es nur wenig Leitlinien für die Musik, die wir besprechen. In erster Linie muss es uns gefallen. Klingt banal, aber Auftragsarbeiten machen wir hier nicht. Wenn jemand lieb nachfragt und es sich als gut entpuppt, spricht für mich nichts dagegen. Doch wir bekommen halt auch ein nicht unerhebliches Maß an Schrott zugespielt. Ist so. Doch jede Medaille hat zwei Seiten. Und die andere Seite ist eine ganz Unglaubliche!

Denn seit gut zwei, drei Jahren hören wir schon sehr aufmerksam, regelmäßig und neugierig in all das rein, was unter einem Begriff läuft, der sich Neo-Klassik nennt. Meines Erachtens eine falsche Zuschreibung. 'Klassik' will hier eigentlich nur sagen, dass irgendwo ein reines Klavier zu hören ist. Meines Erachtens ist Klassik aber mehr. Es ist opulent, Orchester spielen eine Rolle, Cello-Quartette, Geigen-Soli, geistliche Musik. Das ist in meinen Ohren Klassik. Das 'Neo' will es nur irgendwie cool erscheinen lassen. Doch leider hat sich dieser Begriff irgendwie durchgesetzt. Schmerzhaft. Denn es werden so unterschiedliche KünstlerInnen wie Hauschka, Olafur Arnalds, Anne Müller, Brian Eno oder Lucien and the Kimono Orchestra darunter gefasst.

Frage: Gibt es denn wirklich keine Gemeinsamkeit? Hm, sehr schwer zu beantworten aus meiner Warte. Für den aufmerksamen Hörer unterscheiden sie sich in Thematiken, Techniken, der (instrumentalen) Geschichte, die sie erzählen, der musikalischen Verwurzelung. Doch eine Sache ist ihnen allen vielleicht wirklich gemein: Die Stimmung, die Atmosphäre. Denn meistens geht es schon recht andächtig, beinahe melancholisch zu. Meditativ, könnte man sagen. Nicht unbedingt bedrückend, aber eine dezente Traurigkeit schimmert auch ab und an durch. Vielleicht ist das der einzige Punkt, der dem Genre ein bisschen zusetzt. Wohl gemerkt: Das ist Meckern auf extrem hohem Niveau. Denn all diese MusikerInnen strotzen vor Kreativität, Raffinesse und einem schier unglaublichen Können und Sinn für den richtigen Ton.

Gut, dass nun auch etwas Abwechslung kommt. Leichtigkeit. Unbeschwertheit. Auch auf dem Klavier. Nur auf dem Klavier. Mal wieder ohne Stimme aber mit einer herrlichen Grundstimmung. Etwas, das ideal in diese Zeit passt. Sowohl vom Sommer her als auch von den merkwürdigen Begleitumständen, unter denen er stattfinden muss. Der New Yorker Musiker Laraaji veröffentlicht morgen ein Album, das auf den Namen Sun Piano hört. Neo Klassik ist anders. Das hier ist sonnig, hell, entspannt und erzeugt ganz unterschwellig eine gute Laune gepaart mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht. Der Name des Albums ist Programm. Auf den 12 Liedern, die ungefähr eine Dreiviertelstunde erklingen, herrscht Sommer. Für meinen Geschmack ist es Sommermusik beim Aufwachen. Gerne auch beim frühen Aufwachen. Im Urlaub. Man ist eh entspannt, zufrieden, ausgeschlafen und herrlich sorglos. Und nein, sie werden nicht beliebig. Okay, für meinen Geschmack könnte es auch ein langes Lied sein. Es geht mir um die Stimmung. So leichtfüßige, lockere Pianomusik, die nicht austauschbar ist, ist mir selten unter gekommen.
Schaut man in die Biographie von Laraaji überrascht es auch wenig, dass er auf der sonnigen Seite des Lebens steht. Ein Passionierter ist er. Begann früh mit Straßenmusik im Großstadtgewimmel von New York. Wurde zufällig von Brian Eno gesehen, der mit ihm musiziert hat. Heute ist er 77. Und er ist nicht nur Musiker sondern auch Mystiker und Meditationspraktiker. So steht es geschrieben. Hört man die Melodien auf Sun Piano, kann man schnell erahnen, dass er dabei stets ein genügsames Lächeln auf dem Gesicht hat, steht sorglos im Leben und genießt den Moment. Nein, es soll hier keinen Coelho-Touch haben. Kein Lebe-deinen-Traum-Kalenderspruch. Sondern das Innehalten steht hier im Vordergrund. Dass sich der Puls auch mal beruhigen kann. Und wenn das für 45 Minuten bei der Musik von Laraaji passiert, dann hat der Pianist schon eine Menge Gutes getan.
Daher: Große Empfehlung, sich mit dieser Platte eine kleine, unbeschwerte Auszeit zu nehmen. Maske weg, Musik laut, Welt aus, Augen zu, Pause an.

Freitag, 10. Juli 2020

KW 28, 2020: Die luserlounge selektiert

Bild: facebook.com/kenh28.vn
(sb/ms) Es muss schnell gehen.

Die luserlounge ist im Stress.

Das Wochenende steht vor der Tür.

Wir hatten endlich wieder Zeit, euch Perlen zu präsentieren.

Welche werden Eure sein?

Manchmal können wir uns auch nicht entscheiden.

Nur dazu, diesen Text auf bizarre Weise in die Länge zu ziehen.

Luserlounge. Freitag. Selektion. Abfahrt!

Asian Dub Foundation
(sb) Gefühlt war die Asian Dub Foundation schon immer da. Zwar stets so ein wenig im Hintergrund und nie so, dass ich sie aktiv gehört hätte, aber in meinem Kopf geistern die Briten schon ganz lange rum, einzelne Tracks erreichten auch meine Gehörgänge, zu mehr reichte es jedoch - warum auch immer - nicht. Das ändert sich jetzt, denn Access Denied (VÖ: 18.09.!) ist ein vielschichtiges, hochpolitisches Album, das Tanzbarkeit mit Social Consciousness paart und keine Kompromisse duldet. Dieser Ansatz ist bei der Asian Dub Foundation gewiss nicht neu, dennoch erfinden sich die Künstler mit jedem Album wieder neu, um thematisch jederzeit aktuell zu sein. So stehen diesmal soziale Ungerechtigkeit, die Grenzpolitik und auch der Klimawandel im Mittelpunkt und sogar Greta Thunberg leistet einen Gastbeitrag zu diesem hörenswerten Werk, das sicher nicht über die gesamte Laufzeit glänzt, aber dennoch so viele Höhepunkte vereint, das ich ohne schlechtes Gewissen eine Kaufempfehlung aussprechen kann. Dub, Jungle, Breakbeat, Rap, Drum'n'Bass - da ist für jeden was dabei!


Smokey Brights
(sb) Die gemeinsamen Aufnahmen von John Lennon mit Yoko Ono waren sicher nicht seine Glanzstücke. Cher ging es ohne Sonny auch deutlich besser und bei ABBA folgte dem privaten Aus bald das berufliche. Bei den Smokey Brights hingegen klappt die Verknüpfung zwischen Ehe und Karriere bis dato bestens: Kim West und Ryan Devlin veröffentlichen heute ihr drittes Album - endlich! Mehrere Male wurde der Release von I Love You But Damn verschoben, seit Monaten liegt das gute Stück bei mir auf der Festplatte. Klingt nach Datenfriedhof, isses aber nicht, denn die Scheibe der Musiker aus Seattle überrascht durch seine Vielseitigkeit, regt des Öfteren zum Mitsingen an und versprüht einen Charme, der sowohl an die Hippie-60's, als auch an die Glanzzeit des Funks denken lässt. Mit anderen Worten: Zeitreise! Und das Ganze für ca. 10-14 Euro - kann man nicht meckern!


Kaffkiez
(sb) Wie ist das zu beurteilen, wenn sich eine Band selber mit AnnenMayKantereit vergleicht? Die Kölner leben ja mehr oder weniger von der Stimme ihres Sängers Henning May und konnten zu Beginn ihrer Karriere die Herzen der Hörer im Sturm erobern. Dass quasi ab der Veröffentlichung des zweiten Albums nichts Brauchbares mehr kam, steht auf einem anderen Blatt Papier...
Aber zurück zu Kaffkiez: Der Name setzt sich zusammen aus Herkunft (Rosenheim, m.E. übrigens alles andere als ein Kaff!) und Wunsch (Durchbruch in einer größeren Stadt) und der stimmliche Vergleich mit AMK ist in der Tat nicht von der Hand zu weisen. Da haben die Produzenten zudem ganze Arbeit geleistet, denn das durchaus vorhandene rollende R von Sänger Johannes Eisner ist auf der Debütsingle Nie allein (VÖ: heute!) nicht mehr zu hören. Geht gut ins Ohr und wird seinen Weg gehen! War wohl eine weise Entscheidung, den Bandnamen (vorher: Maybe) zu ändern und nun auf das Pferd deutschsprachige Musik zu setzen, zumal die Single schon reichlich Airplay im Radio bekommen hat. Als Nächstes steht natürlich die Aufnahme eines Albums auf dem Programm und wir werden Euch gerne auf dem Laufenden halten.


Love Fame Tragedy
(sb) Nach zwei vielversprechenden EPs (I Don't Want To Play The Victim, But I'm Really Good At It und Songs To Briefly Fill The Void) folgt heute endlich das langersehnte Debütalbum von Love Fame Tragedy. Auf Wherever I Go, I Want To Leave versammelt Matthew "Murph" Murphy erwartungsgemäß die Highlights der EPs und ergänzt diese um sieben neue Tracks, die qualitativ keineswegs hintanstehen. 
Als Laie geht man vermutlich viel zu schnell davon aus, dass es jemandem, der mit seiner Hauptband The Wombats vier (auch in den Charts) erfolgreiche Alben aufgenommen hat, die in düsteren Indie-Schuppen genau solche Begeisterungsstürme auslösen wie auf Studi-Parties oder großen Festivals, leicht fallen dürfte, auch solo zu Potte zu kommen. Doch weit gefehlt: Der Entstehungsprozess des LFT-Erstlings war geprägt von Rückschlägen, Schreibblockaden und dem Überwinden des inneren Schweinehundes. Umso tröstlicher ist es, dass das Ergebnis derart erfreulich ausfällt und die Synthie-Pop-Hymnen mit Alternative-Anspruch nicht nur spontan ins Ohr gehen, sondern in vielen Fällen auch dort bleiben. Gelernt ist gelernt!


The Baboon Show
(ms) Tief im Norden. Da schlummert etwas. Und mit dem Astrid Lindgren-Syndrom lässt sich das nicht mehr erklären. Natürlich ist Schweden das Sehnsuchtsland von uns Kartoffeln, absolut nachvollziehbar für jeden, der mal dort gewesen ist. Doch irgendetwas muss in deren Leitungswasser schwelen, was den Schweden einen unheimlichen Groove in der Musik beschert. Es gibt viele gute Beispiele. Viele. Eines davon ist The Baboon Show. Und das Quartett überzeugt nicht nur durch seine kompromisslose Gitarrenrockmusik, die vor Tempo und Energie strotzt. Die genau im richtigen Maße dreckig und rotzig ist. Sie schaffen es zudem regelmäßige Ohrwürmer in die Welt zu setzen! Genau damit machen sie im Dezember weiter. Ja, etwas Geduld ist noch geboten. Doch keine Ankündigung ohne Vorboten! Denn die Band um Cecilia Boström und ihre wundervolle energische Stimme begann im März ein neues Album aufzunehmen. Zack - Corona - alles anders. Sie sind halt ehrliche Musiker. Durch ihre DNA fließt auch das Live-Spielen-Wollen. So stand die Entscheidung fest: Kein Album ohne in Bälde live aufzutreten. Doch: Ein paar Songs waren schon eingespielt. I Never Say Goodbye wird im Dezember als 12" erscheinen! Das wird dann so klingen - wir sind gespannt wie ein Flitzebogen!


Sandra Hüller
(ms) Schlechtes Beispiel für schreibende Sänger: Frank Spilker (fand das Buch doch eher zäh). Gutes Beispiel für schreibende Sänger: Sven Regener und Thorsten Nagelschmidt. Schlechtes Beispiel für singende Schauspieler: Jan Josef Liefers und Axel Prahl - zugegeben gehen sie mir auch als ehemaligen Wahl-Münsteraner in ermittelnder Funktion auf die Nerven, zu plump, zu wenig Reibung (ich persönlich bin Team Dortmund). Gutes Beispiel für singende Schauspieler: Robert Gwisdek (Käpt'n Peng) und Sandra Hüller! Und damit haben wir in dieser extrem männlichen Riege (ich gelobe Besserung) auch eine Dame. Über ihre Brillanz in Toni Erdmann müssen wir eigentlich nicht sprechen. Mir ist sie schauspielernd noch stärker als Gast beim Tatortreiniger haften geblieben. Und das wirklich Tolle: Sandra Hüller ist so wunderbar vielseitig. Diese tolle Chamäleoneigenschaft beweist sie auch auf Be Your Own Prince, ihrem ersten Album. Einer größeren EP, so könnte man sagen: Es sind sieben Songs plus ein Remix.
Es startet ganz verhalten mit Dear Sailor. Im Hintergrund ist leichtes Rauschen zu hören (vom Aufnahmegerät?) und dazu erklingen begleitend Gitarrenakkorde. Ob der Segler jedoch wirklich auf dem Wasser irrt oder durch sein Leben - die Interpretation bleibt den Hörenden offen. My Love (Last Breath) hingegen ist eine swingende Free Jazz-Nummer im allerweitesten Sinne: Ausufernder Gesang trifft auf mäandernde Trompete. Die Single The One wiederum ist ein sanftes Pop-Stück, das an Dear Reader oder Justine Electra erinnert. Alle Texte stammen aus Hüllers Feder, bei der Umsetzung half ihr Daniel Freitag. Noch so ein musikalischer Tausendsassa, der nicht nur selbst musiziert, sondern auch die Musik zu Decamerone am Deutschen Theater Berlin produzierte. Das ist eine Erwähnung wert, da das Stück von Kirill Serebrennikow inszeniert wurde, der bekanntermaßen nun nicht hinter Gitter muss.
Also: Sandra Hüller, Be Your Own Price. Fein und mit musikalischem Fingerabdruck produziert. Wir fordern: Mehr derart toll singende Schauspielerinnen!

       

Großstadtgeflüster
(ms) Eins dieser Phänomene in der hiesigen Musiklandschaft sind Großstadtgeflüster. Ballern mit Haltung, könnte man sagen. Fickt Euch Allee ist bereits ein moderner Klassiker der exzessiven Feierei; den Tischtennisballsound auf Wie Ein Dschungel mit Fatoni finde ich bis heute äußerst kreativ und ohrwurmverursachend! Man ist leicht geneigt, das Wort 'unkonventionell' oder 'authentisch' zu benutzen. Aber wie eben jener Toni schon meinte: Ich will einfach nur ich selbst sein. Und das tut das Berliner Trio. Tief dröhnende Technobeats, mal leichtfüßige Gagatexte, mal hauen sie voll auf den Putz. So auch mit Diadem: "Ich poliere der Stadt ihre Fresse mit Stickern, ich bin eine Prinzessin, du Ficker!" Das ist eine klare Ansage. Gegen Fixierung auf Körper, Schminke, Äußerlichkeiten, gegen ein bizarres Frauenbild, das es so nirgends gibt. Außer in der Glotze oder in der Werbung halt. Pah, geht uns gar nichts an, denken Jen, Chriz und Raphael. Gut so, einfach bisschen locker bleiben und das eigene Ding kompromisslos durchziehen. Ihr Erfolg ist ihr Beweis. Und so ist bereits letzten Freitag Jens persönlicher Geburtstagssong erschienen. Doch auch eine Woche später kann man den lautstark durch die Boxen krachen lassen! Ich will jetzt mein Diadem...


JW Francis
(ms) Wer hier regelmäßig liest, was wir beide an Tipps und Verrissen in die Welt schreiben, dem wird auffallen, dass ich mich gerne mal an Genres abarbeite. Also an den Zuschreibungen. Den Genre-Namen. Oft finde ich die, die in den Pressetexten genannt werden, schwer entzifferbaren Quatsch. Doch hier muss ich eine Ausnahme machen. JW Francis' Musik wird als Bedroom Dream Pop bezeichnet. Stark. Ja. Es passt hervorragend. Es hat etwas leicht verträumtes, verschlafenes, aber ist auf Zack. Die Musik des Tausendsassas (Reiseleiter, Musiker, Geschäftsführer einer Firma, die sich Murder Mystery nennt...) ist DIY im besten Sinne und irgendwie wahnsinnig charmant. Einfach und bestechend. Und davon kann man sich bald in Albumlänge überzeugen. Doch als Einstiegsdroge fungiert seine Ode an den Big Apple: New York. Ein herrlich simpler und schön eingängiger Song. Im ähnlichen Stil wird dieses Jahr noch eine Platte erscheinen (wir halten euch auf dem Laufenden!). Nachdem er mehrere Singles veröffentlicht hat, unterzeichnete er auf Sundays Best - Label aus UK! Hier kann etwas Großes wachsen!

Donnerstag, 9. Juli 2020

Roger & Brian Eno - Luminous


(ms) Erstens: Synthetische Drogen sind mir vollkommen fern. Ich kann nicht verstehen, warum man seinem Körper derartige Substanzen zuführen will. Ja klar, meist geschieht es im Zuge einer ausgewachsenen Sucht und man kann nicht anders. Schlimm genug. Aber es gibt ja genug einigermaßen klar denkende Menschen, die sich insbesondere am Wochenende sowas wie LSD reinhauen. Sich verlieren und Farben sehen können - man hört die wildesten Dinge. Doch warum sich dafür selbst schaden? Sich verlieren kann man auch anders, wenn es darum geht, Raum und Zeit nicht mehr in prägender Form wahrzunehmen. Ich behaupte, dass Musik das auch aus sich heraus schaffen kann. Dazu braucht es auch keinen Alkohol oder so. Der pure Klang vermag das zu schaffen. Oft hilft vielleicht noch ein berauschender Tanz, aber das ist optional. Musik, Ton, Rhythmus, Melodie. Sie haben eine unfassbare Kraft; sie können mich erheben und runter drücken, mich euphorisieren und beruhigen. Und dafür muss sie einfach nur erklingen. Gerne laut, sodass nichts anderes mehr den Moment beherrscht. Sich verlieren - mit einfachen Mitteln. Aber okay, abhängig kann das auch machen.

Zweitens. Was tun gegen Stress, Schwindel, innere Unruhe? Das ist verallgemeinernd natürlich kaum zu beantworten. Das kann man nur individuell entscheiden. Natürlich ist es am allerbesten, wenn es erst gar nicht so weit kommt, dass man akut etwas dagegen machen muss. Aber Hand aufs Herz... das betrifft auch nicht so viele Menschen. Für Meditation oder Yoga bin ich der falsche Mensch. Aber autogenes Training oder Qi Gong finde ich super. Da muss man nicht so viel machen und entrückt schnell der Wirklichkeit. Insbesondere wenn dort jemand mit einer wunderbaren, eindringlichen Stimme ist, der einen durch die Traumwelten leitet.

Drittens. Nun steht die Frage im Raum, wie man beides gut vernetzen kann. Meditative Zustände und sich verlieren. Die Antwort liegt auf der Hand. Oder bald bei Euch auf dem Plattenteller. Es ist die EP Luminous der Brüder Brian und Roger Eno. Allein mit diesen beiden Namen macht man natürlich ein riesengroßes Fass auf. Selbstredend eher mit Brian Eno, sein jüngerer Bruder stand nie soo sehr in der Öffentlichkeit. Mag halt auch daran liegen, dass Brian einer der wichtigsten und einflussreichsten Akteure der Musikwelt war/ist. Insbesondere in den 70er und 80er Jahren. Er veröffentlichte mit Dieter Moebius und Hans-Joachim Roedelius, produzierte U2, Ultravox, David Bowie oder Devo. Sicherlich hing er auch mal auf dem Bauernhof von Conny Plank rum. Ohne Brian Eno keine Ambient-Musik. Gut, dass Roger in einer ähnlichen Weise musizierte: breite Klangflächen, die mitunter cineastischen Charakter haben.

Viertens. Auf Luminous sind sieben Tracks erhalten. Sie klingen allesamt nach atmosphärischer Klaviermusik, völlig ohne Raum und Zeit. Tempo spielt hier überhaupt keine Rolle. Was stattdessen einzieht ist Ruhe und absolute Konzentration auf den Moment, den Ton. Manchmal ist es ein Akkord, der noch nachhallt. Mehr passiert nicht. Doch Obacht! Wer hier von Langeweile spricht, hat die Musik nicht verstanden. Natürlich, hier ist alles auf extreme Art entschleunigt, ohne damit eine pseudomoderne Lebensweise zu propagieren. Hier herrscht einzig und allein die pure Musik. Absolute Reinheit. Ja, selbst Rhythmus ist dem schon entkoppelt. Man könnte es Ambient nennen oder Neo-Klassik. Egal, welches Label hier aufploppt, so sind diese Lieder weit mehr als Musik. Sie sind auch eine Aufforderung. Zum Innehalten, durchatmen. Mal den ganzen Kram drumherum weg legen. Die Augen schließen. Durchatmen und sich auf das Gute und Schöne besinnen. Dass die Enos den Stücken Farbnamen gegeben haben, ist ein netter Nebeneffekt. Dass es über 1800 Einsendungen zu einem damit zusammenhängenden Videowettbewerb gab, auch schön. Doch ohne visuelle Reize, sind die Stücke noch reizvoller. Denn dann kann das Hirn arbeiten ohne eine Vorlage zu nutzen. Vielleicht verbinden sich ungeahnte Synapsen miteinander. Vielleicht drosselt es das Arbeitstempo. Ich behaupte, drinnen lässt es sich am besten genießen. Luminous wäre für draußen zu zart; auch für eine Bahn- oder Autofahrt. Da helfen die besten schallabsorbierenden Kopfhörer nicht. Die Klänge sind nicht zerbrechlich, aber so sanft, dass man sie sachte anfassen muss. 

Fünftens. Luminous ist nicht nur eine EP. Die Veröffentlichung schließt nahtlos an das gemeinsame Album aus dem März an: Mixing Colous. Es ist eine Fortsetzung, Ergänzung, weitere Kapitel, die das Buch fortschreiben. Begonnen hat der Prozess dazu 2005. Roger produzierte einzelne Sequenzen als MIDI-Sound und schickte sie seinem älteren Bruder. Der wiederum ergänzte das Material mit atmosphärischen Ebenen. Unvorstellbar, dass diese schüchterne Musik einen derart langen Schöpfungsprozess hinter sich hat. Meine Vermutung: Erst dadurch konnte sie ihre innewohnende Kraft entfalten. Als eigenständige Vinyl-EP erscheint Luminous erst am 14. August. Kommenden Freitag (17. Juli) erscheinen die Stücke schon digital mit dem vorangegangenen Album als Mixing Colours Expanded und am 23. Oktober als Doppel-CD. Eine etwas vertrackte Veröffentlichungspolitik; aber egal.

Vielleicht ist man aufgrund der aktuellen Situation verunsichert und/oder gestresst. Vielleicht auch ohne direkt von den Auswirkungen betroffen zu sein. Luminous hilft. Auf jeden Fall.


Freitag, 3. Juli 2020

KW 27, 2020: Die luserlounge selektiert

Bild: facebook.com/27Boutique/
(sb/ms) Kalenderwoche 27 - Kinners, wie die Zeit vergeht! Man ist heutzutage ja schon froh, wenn es keine herausragende Katastrophenmeldungen gibt, die als Aufhänger für die Selektion herhalten muss. Diese Woche war für uns zwei luserlounger in erster Linie durch Berufsstress geprägt: der eine kam frisch aus dem Urlaub und 3 1/2 Monate Telearbeit zurück ins Büro, der andere musste sich auf seine Abschlussprüfung vorbereiten und hat diese nun endlich (erfolgreich) hinter sich gebracht. Hurra!

Was war sonst? #blacklivesmatter ist Gott sei Dank noch immer sehr aktiv und entlarvt auch hierzulande auf erschreckende Weise den omnipräsenten Alltagsrassismus. Zu dem Thema möchten wir Euch gerne nochmal das äußerst lesenswerte Buch Ein Neger darf nicht neben mir sitzen von David Mayonga (besser bekannt als Rapper Roger Rekless) ans Herz legen - lesen und verstehen! Passend dazu auch die immer wieder aufkeimende Diskussion um diverse Firmennamen und Logos, z.B. Sarotti, Uncle Ben's oder die Vorarlberger Brauerei Mohren. So bitter, dass man sowas im Jahr 2020 echt noch diskutieren muss...

So, jetzt aber Musik. Es ist Freitag. Die luserlounge selektiert.

Oma Oklahoma
(sb) Verzweiflung kann so großartig klingen! Ich habe keine Ahnung, ob und wie weit Oma Oklahoma nach deutschprachigem Emo klingen wollten, aber genau so stelle ich mir das Genre vor. Punk-Melodien und emotionale Texte, die Betrübtheit, Ohnmacht und Aufbruchstimmung transportieren - die Normalnull EP (VÖ: heute!) der Hamburger lässt kaum erahnen, dass es sich um einen Debüt-Relase handelt. Das klingt schon sehr gekonnt und professionell, was Oma Oklahoma da abliefern. Die leuchtend orangene Vinylversion bringt das Trio selbst heraus und zeigt den DIY-Spirit und das Herzblut, das in dieser Band steckt. So ist das Artwork jeder Platte ein Unikat und auch das Video zur ersten Single Straßen ist im wahrsten Sinne Handarbeit: Das Video im Comic-Stil besteht aus mehr als 1.200 einzeln gezeichneten Bildern!


Entropy
(sb) Wenn aus Spaß Ernst wird, kommt nicht immer was Gutes dabei raus - anders bei Entropy! Ursprünglich war die Band als reines Nebenprojekt angedacht, nahm dann aber so dermaßen Fahrt auf, dass sie zu einem Selbstläufer wurde und alles andere beiseite drängte. Laminal, das am 21.08. erscheinende Debüt-Album der Hamburger, ist aber auch ein brutales Brett. Ich fühle mich an Helmet und Clutch erinnert, der Indie-, Stoner- und Hardcore-Einfluss der 90er ist jedenfalls nicht zu überhören. Auch wenn der Review hier in der Selektion leider sehr kurz und bündig ausfällt, für mich bisher eins der überraschendsten und besten Alben des Jahres 2020, das ich mir sicher noch des Öfteren reinziehen werde. Augen und Ohren offen halten und im August unbedingt kaufen!


Brudini
(sb) Am 02. Oktober veröffentlicht der in Norwegen geborene und mittlerweile in London ansäßige Künstler Brudini sein Debütalbum From Darkness, Light. Seine neue Single Radiant Man, die sich bei seinen Live-Shows als wahrer Publikumsliebling entpuppte, entfaltet sich wie eine griechische Tragödie: ein Protagonist mit guten Absichten, der immer weiter kämpft, auch wenn er mit voller Wucht durch die Mühlen des Lebens gedreht wird und sich mit vielen Unwägbarkeiten auseinandersetzen muss. Klingt alles durchaus ein bisschen schnulzig, aber halt auch gut gemacht.


Conny Plank
(ms) Einer der Gründe, weshalb wir so gerne diesen kleinen Blog betreiben ist, dass über Musik zu schreiben, sprechen, denken immer wieder auf Neue eine großartige Herausforderung und eine irre Freude ist. Unabhängig vom Genre, aufrecht und originell muss es sein. Einzigartig und die Menschen hinter der Musik müssen klar und passioniert sein.
Ein ganz wichtiger Protagonist, mitnichten nur in der hiesigen Musiklandschaft, war Conny Plank. Tontechniker, Passionierter, Produzent mit irren Reputationen. Vielleicht war er der wichtigste Produzent der 70er und 80er Jahre. Denn er hat die ganz frühen Kraftwerk, die Scorpions, DAF, Ultravox, Eurythmics, NEU! oder auch Gianna Nannini produziert. Und das alles auf einem unglaublich urigen und fernab jeglicher Zivilisation gelegenen ehemaligen Bauernhof im Kölner Umland. Plank war ein Visionär, ein Unkonventioneller, ein leidenschaftlicher Raucher und zwiespältiger Familienvater. Genau das wird in der extrem sehenswerten Doku über ihn ein wenig bekannt, die von seinem Sohn gemacht ist. Stephan Plank ist viel gereist und sprach mit spannenden Gesprächspartnern über das Leben seines Vaters, der Produzentenlegende vom Bauernhof. Dies ist nicht nur eine Aufarbeitung eines Familienverhältnisses, sondern in erster Linie ein ganz feines, sehr gut recherchiertes Portrait eines mutigen, pfiffigen und unerschütterlichen Musikgeistes.

Hier in der ARD Mediathek lässt sich die Doku ansehen. Große Empfehlung!

Moscow Death Brigade
(ms) Redensarten erzeugen stets einen unterschiedlichen Effekt, je nach dem aus welchem Mund sie (wie häufig) kommen. 'Es gibt nichts, was es nicht gibt' ist wahr, aber halt auch irgendwie platt. Finde ich in sofern nicht, da meine Großeltern das gerne mal gesagt haben. Und das fand ich als Knirps immer ganz witzig. Wenden wir diesen ollen Spruch auf die Welt der Töne an, ist das auch offensichtlich. Die Tage habe ich ein Video gesehen, wo auf der Bühne zu Metalmusik gestrickt wurde. Nur mal so.
Ganz so schrill wird es hier nicht. Aber. ABER! Die Formation Moscow Death Brigade macht nichts geringeres als russischen, linken Trap im Mix aus Hardstyle, Hardrock und Eurodance. Also irgendwie geil und irgendwie wahnsinnig verschroben und aus der Zeit gefallen. Als ob Waving The Guns und Paul Elstak zusammengetroffen sind.
Doch zu meiner absoluten Verwunderung passt das herausragend zusammen. Es macht Bock, treibt nach vorne, erzeugt Stimmung, man möchte besoffen Seilspringen oder so. Und: Der harte, wilde Sound hat eine sanfte, frohe Botschaft: Es geht in Never Walk Alone um Zusammenhalt und Freundschaft. Zwischen Moshpit und Circle of Love ist hier alles drin. Ab geht's:


Krakow Loves Adana
(ms) 1. Regelmäßigen Lesern dieses Blog müssen wir das Paar aus Hamburg eigentlich nicht mehr vorstellen. Robert und Deniz sind Krakow Loves Adana und machen herrlich eigenständige Indiepopmusik zwischen melancholischen Gitarrennummern, die mittlerweile ein stärkeres 80s-Retro-Flair in elektronischem Gewand bekommen. 2. Das Duo feiert dieser Tage das 10-jährige Jubiläum ihrer ersten Platte Beauty. Da im Herbst auch direkt eine neue Platte Darkest Dreams rauskommt, ist Folgendes eine weitere Perle, um die Wartezeit zu verkürzen: Mit Faces Replaced kommt jetzt eine völlige Neubearbeitung der damaligen Single Porcelain raus. Die neue Version schwankt zwischen milder Traurigkeit und Mut zu Tanzen. Unbedingt anhören und gerne auch die beiden unterstützen. Denn 3. haben Deniz und Robert sich letztens via Facie klar dazu positioniert, wie verrückt und absolut unverantwortlich es ist, im September das Reeperbahn Festival stattfinden zu lassen. Mit weniger Zuschauern, aber dennoch sollen ein paar Tausend Besucher und Köpfe aus der Branche über die Hamburger Flaniermeile tingeln. Krakow Loves Adana wären auch Teil des Line-Ups. Doch Haltung zeigt, dass Profitstreben im Musikbusiness auch zu weit gehen kann. Logisch, vielen Künstlern und Clubbetreiberinnen fehlt es gerade vorne und hinten an Geld. Das ist grausig und schlimm. Doch in einer wackeligen Lage, in der wir uns immer noch befinden (Blick nach Gütersloh), ist ein Event wie das RBF völlig fern der Realität. Dann kauft doch lieber die Platten des Duos. Es lohnt sich sehr!