Freitag, 26. Juni 2020

KW 26, 2020: Die luserlounge selektiert

Quelle: miscw.com
 (ms) Sprache erzeugt Realität. Das wissen wir ja seit Wittgenstein alle. Eine große Leitlinie im Feminismus. Und meistens hat das irgendwie negative Auswirkungen, statt positiven Schwung. Und derzeit geht mit der Sprachgebrauch coronabedingt auf den Sack. Coronabedingt. Was für ein Müllwort. Wegen Spaß oder Lust auf Destruktion wurden ja sicher nicht im März und April die Läden und Schulen geschlossen. Ausnahmezustand?! Achso, da war ja was! So eine unglaublich offensichtliche Selbstverständlichkeit zu versprachlichen halte ich für Quatsch. Sinnbedingt. Doch noch größerer Unsinn ist ja: In Zeiten von Corona. Ich krieg' 'nen Fön! Was soll das denn nun wieder bedeuten? Was für ein hohler Quatsch! In Zeiten von Ende Juni. In Zeiten von großem Bierdurst. In Zeiten von in Zeiten von. Was soll denn dieser Plural da? Diese Verklausulierung klingt halt auch so, als ob das schon abgeschlossen sei, wie ein Rückblick. Doch in Zeiten von Leiharbeitsverträgen oder in Zeiten von idiotischen Ignoranten einigt man sich wohl auf relativ sinnbefreite Formulierungen. 

Sprachaufregung aus. Musik an. Luserlounge. Freitags. Kleinste Selektion in unserer Geschichte. Freizeitmangelbedingt. 

Jónsi
(ms) Als vor wenigen Wochen der Track Inhale samt Video herauskam und zum Staunen und Genießen einlädt, verfasste ich bereits eine enorm subjektive, verträumte, unkritische Liebeserklärung an Jónsi. Und ich wiederhole mich hier sehr, sehr gerne. Denn nun legt er mit Swill nach - ein weiterer brandneuer Song des Sigur Rós-Kopfes. Dass es hier elektronischer, wilder, unbändiger zugeht als auf dem vorherigen Lied, ist kein Wunder. Seit längerer Zeit neigt Jónsi gern dazu mit anderen KünstlerInnen zu kooperieren, deren Wurzeln eher im elektronischen oder DJ-Segment beheimatet sind. Doch er entfernt sich nie von einem eigenen Kern der Musik. Erzeugen die Töne am Anfang schon ein gewisses Staunen, bauen sie sich anschließend perfekt in die Klangstruktur ein. Das ist große Klasse, sensible Kunst. Dazu erscheint erneut ein äußerst sehenswertes Video; nun gut, die 3D-Animationen sprechen mich nicht an, doch die Ausschnitte, in denen sein Gesicht mit all den grabbelnden Händen groß im Fokus steht, sind schon beeindruckend. Sie passen zum Klang; mal ungewöhnlich, aber auch nah gehend, intim, beweglich. Klar, es ist auch ein poppiger Track, so etwas gäbe es unter Sigur Rós nie, nur sehr, sehr schwer vorstellbar. Es fehlt das Sphärische, wirklich Berührende, zum Himmel Reckende. Diese Balance zwischen Band (die Hoffnung auch dort auf neues Material enden nie) und Solo gelingt Jónsi erstaunlich gut. Es ist eine ganz klar erkennbare andere Zielsetzung zu hören. Im Soung und selbstredend im Gesang auf Englisch. Kein Isländisch, kein Vonlenska.
Doch es wird immer besser: Zusätzlich mit Swill hat er am Mittwoch auch angekündigt, am 2. Oktober ein neues Album zu veröffentlichen. Es soll Shiver heißen und die Tracklist verspricht zwei islänischsprachige Lieder. Zudem können wir uns auf Kooperationen mit Liz Fraser und Robyn freuen. Holla! Kaum hat der Sommer so richtig deutlich begonnen, kann ich die Vorfreude auf den Herbst kaum noch im Zaum halten!


Iris Romen
(ms) Reisen wir von 2020 weit zurück. So in die 40er oder 50er-Jahre. Und am besten in die Staaten, einmal über den Teich. Alles ist schwarz-weiß. Die Autos sind klobig, aber irgendwie haben sie Stil. Die Männer tragen stets Anzug, die Damen feine Kleider. Die einzige Möglichkeit an neue Musik zu kommen ist das Radio - riesengroß steht es im Wohnzimmer. Oder ein geschmackvoller Kellerclub, wo die angesagten MusikerInnen auftreten. An der Straßenecke steht ein Junge und preist das aktuelle Extrablatt an mit den Worten: "Kaufen Sie Romen! Neues Album der Holländerin! Swingen und tanzen Sie!" Oh yeah! Denn wenn Late Bloomer durch die leicht knarzigen Boxen stromert, kann man sich nicht mehr sitzend halten. Die elf Tracks auf dem geschmackvollen Album sind nicht nur Tanzlieder. Es sind auch Swinglieder, Umarmlieder und Schmunzellieder. Das liegt zum Einen an der herrlich entspannten Instrumentierung. Moderne Songs in diesem feinen Gewand der 40/50er ist bestechend süchtig machend. Zum Anderen liegt es an der Stimme von Iris Romen. Selbst, wenn man sie (noch) nicht kennt, hört man, dass hinter dem Mikrofon eine Dame steht mit einem nie endenden Grinsen, mit feinen Grübchen, die das Leben leicht und locker nimmt. Die wenig schwere Gedanken zulässt, lieber die leichten in den Vordergrund stellt und diese auf ihr Umfeld, auf ihre Musik überspringen lässt. Das wiederum findet auch in den Texten. Nehmen wir zwei Beispiele (die anderen Lieder überzeugen genauso schnell): Filmriss ist vielleicht das beste Lied, das den Geist der Mitte des letzten Jahrhunderts wiederspiegelt. Gewollt unperfekter Sound, eine unterhaltsame Geschichte, eine Atmosphäre, die Genuss und feines Tanzschuhwerk suggeriert. Noch ein wenig verschmitzter wird es auf Elevator Boy. Logisch, Musik und Humor ist ein heikles Thema. Viele scheitern. Wenige gehen da mit erhobenem Haupt raus. Iris Romen tanzt da raus, ganz locker, leicht, auf sonnigen Wolken getragen, schildert sie den Job des Fahrschuljungen. Filmromantik, Nostalgie - ohne Schwermut. Die Niederländerin veröffentlicht heute ein feines, kurzweiliges Album - eine herrliche Empfehlung. Kratzt eure letzten Münzen des Monats zusammen, unterstützt die Plattenhändlerin eures Vertrauens und dann schwingt ihr frohen Mutes ins Wochenende. Versprochen! Also: Kaufen Sie Romen!



Albrecht Schrader
(ms) Reisen wir nochmals woanders hin. Zurück in dieses Jahr, zu diesem Tag, denn heute erscheint ein weiteres, bemerkenswertes Album. Es spielt zwischen Elbchaussee, Eigelstein, Selbstfindung und Golfplatz. Denn Albrecht Schrader hat uns eine Geschichte zu erzählen - seine Geschichte. Das Album Diese Eine Stelle ist der Rückblick aufs Älter- und Größerwerden eines Mannes Ende dreißig, mit dem das Schicksal einiges vorhatte. Das Schöne an diesen 40 Minuten: Es geht halt nicht (zumindest nicht ausschließlich) um das Verarbeiten einer belastenden, vergangenen Liebe, exzessiven Drogenmissbrauch oder einer politisch-persönlichen Utopie. Schrader berichtet uns auf seinen Liedern, wie es war in sehr gut situierten Verhältnissen Hamburgs groß zu werden und was das mit einem macht. Ja, der Vorname kommt nicht aus irgendeinem Milieu. Geschichten von Polohemdnachmittagen auf dem Golfplatz, einer bezaubernden Liebeserklärung (im weitesten Sinne) an die Elbchaussee und der wichtigen Aussage, dass Blankenese eigentlich zu Altona gehört! Doch auch seine Kölner Zeit lässt er mit einfließen (Eigelstein). Vier Jahre nach der Leben In Der Großstadt-EP und dem Album Nichtsdestotrotzdem zeigt sich der ehemalige Kopf von Böhmis Rundfunktanzorchester reifer und angekommener in der musikalischen Szene hierzulande. Denn diese wunderbaren Geschichten mit Alleinstellungsmerkmal (Wir Sind Die Eliten) erscheinen in einem Songwriting, das hie seinesgleichen sucht. Es ist sanft, edel und verschmitzt. Durch viele Zeilen scheint ein subtiler Humor, der hängen bleibt (Mein Privileg steht mir im Weg...); nach längerem Nachdenken fällt mir nur Roland Meyer de Voltaire ein, der zumindest einen ähnlichen Sound kreieren könnte. In kreativer Hinsicht ist Schrader da natürlich in allerbester Gesellschaft. Wir gratulieren dem Wieder-Hamburger für eine reife, sehr runde Platte, die ihre Position in der Musiklandschaft sicherlich erst noch finden muss.

Freitag, 19. Juni 2020

KW 25, 2020: Die luserlounge selektiert!

Quelle: br.de
(ms/sb) Doppelt bitter: Pabst veröffentlichen heute ihr sehr gutes Album Deuce Ex Machina und können es nicht vor tosendem Publikum darbieten. Nicht ihren massiv druckvollen und dynamischen Sound so sehr aufdrehen, dass die Menschen vor der Bühne nicht anders können, als in Ekstase zu verfallen, sich komplett gehen zu lassen, das T-Shirt zu zerreißen, um sich anschließen mit Merchandise einzudecken. Nein, all das muss warten. Auch die Festivals sind futsch. Doch das Trio hat eine herausragende Idee! Sie spielen trotzdem überall. An einem einzigen Tag! Nichts leichter als das! Sie treten am Sonntagabend (21. Juni) um 20 Uhr auf allen Hauptbühnen auf: beim Open Flair, dem Sziget, dem Y Not? aus Großbritannien oder dem PULS Openair. Schaltet einfach hier bei YouTube ein! Locker beamen sie sich durch die Festivallandschaft und lassen ihre Songs endlich raus in die freie Welt! Ein neues, spannendes Alternativkonzertprogramm!

Und nun geht es los. Hier ist die luserlounge. Wir haben selektiert. Es ist Freitag. Los geht's!

Terrorgruppe
(sb) Boah, ist das lange her, dass ich das erste Mal was von der Terrorgruppe gehört habe. Ich fands auf jeden Fall sehr geil, hab mir ein paar CDs zugelegt und auch einige Konzerte besucht. Als Vorband waren damals unter anderem die Beatsteaks (der ein oder andere mag sie kennen...) dabei - Ihr könnt Euch also vorstellen, dass seitdem einige Jahre ins Land gezogen sind. Nach einigen Jahren Pause sind Archi MC Motherfucker, Zip Schlitzer und Co nun auch schon wieder seit 2013 aktiv und bringen am 26.06. ihr achtes - und laut eigener Aussage - letztes Studioalbum raus. Jenseits von Gut und Böse wird das gute Stück heißen und im Endeffekt ist alles wie immer: Ordentlich hingerotzter Punkrock, pointierte Texte, die Gesellschaftskritik im Regelfall in ein recht humorvolles Gewand packen, unverschämt im Ohr bleibende Melodien und die vielleicht größte Stärke der Berliner, nämlich Zitate am Fließband rauszuhauen, die man in jeder Lebenslage und zu jeder Zeit ins Gespräch einfließen lassen kann. Ja, ich werde Euch vermissen.


Darkstar
(sb) Kann elektronische Tanzmusik politisch sein? Aber hallo kann sie das! Und Darkstar beweisen auf ihrem neuen Album Civic Jams (VÖ: heute!) nicht zum ersten Mal, dass das Anprangern sozialer Ungleichgewichte durchaus tanzbar sein kann. Wurde bei vorherigen Alben beispielsweise der Brexit thematisiert, so geben Aiden Whalley und James Young auf ihrem vierten Longplayer auch Privates preis und schildern ihre Gefühlslage in politisch unruhigen Zeiten wie dieser. Auf die Weise werden Persönliches und Politisches miteinander verwoben, was dem ohnehin beeindruckenden Klangteppich eine weitere Dimension verleiht. Man kann das Album also auf zweierlei Art anhören: entweder als sehr anregende Hintergrundmusik, die vor allem auch bei der Arbeit die Kreativität fördert oder aber als Hauptbeschäftigung mit Fokus auf die Intention der Briten.
Oder man schießt sich einfach mit ein paar Bierchen zu viel ab und zappelt zu den ideenreichen Elektrobeats - Civic Jams funktioniert immer!


Sofia Portanet
(ms) Machen wir es kurz und bündig: Sofia Portanet veröffentlicht am 3. Juli einen ganz heißen Anwärter auf die Kategorie Album des Jahres! Das ist kein Scherz. Es ist keine Promo-Lüge. Es ist kein bemühtes Schönreden bei Künstlern, denen man einen Gefallen tun will. Nein. Dabei ist es sogar die erste Platte der jungen Musikerin; Freier Geist erscheint bei Duchess Box Records. 
Es sind nur neun Songs. Aber keine Schwäche, nicht eine Sekunde, die man skippen würde. Der Fast-Forward-Knopf bleibt unberührt. Denn es gibt unendlich viel zu entdecken. Englische, deutsche und französische Sprache kommt aus den Boxen, hüllen einen ein. Dazu paart sich oft ein programmatischer Sound und Text. Das hier könnte eine weibliche Antwort auf eine Kreuzung von Drangsal und Tocotronic sein! Auch das: Kein Scherz. Ihre Texte sind oft mystisch, verschlungen, breiten sich in dunklen Wäldern aus. Die Sprachen machen sich auch im Stil bemerkbar: Ob Chanson, 80er Gitarrenrock oder einen Hauch von NDW, Sofia Portanet hat das Zeug groß zu werden. Ein beachtenswertes Debut liegt hier vor. 3. Juli. Merken!


Roy Ayers, Adrian Younge and Ali Shaheed Muhammad
(ms) Seltsam und witzig. Das Seltsame: Meist bei Jazz frage ich nach dem Genre. Erwische ich mich häufig bei; es tut mir leid, sollte das langweilen. Aber ich kommt aus meiner 'Klassischer Jazz'-Box nicht heraus. Völlig starr und unflexibel. Ansonsten sind mir Genreschubladen eher egal. Ist das, was Roy Ayers, Adrian Younge und Ali Shaheed Muhammad nun machen, Jazz, Soul, irgendwas, das man vor Jahren mal 'Weltmusik' nannte? Hm.
Das Witzige: Ihr gemeinsames Album Roy Ayers JID002 erscheint auf dem Label Jazz Is Dead. Damit ist alles gesagt. Der König ist tot, lang lebe der König. Für die Jazz-Laien (zu denen ich mich unbedingt auch zähle) ist wichtig: Roy Ayers ist einer der wichtigsten Jazz-Vibraphonisten und feiert im September seinen 80. Geburtstag! Dabei klingt das Album derart frisch und bestechend, dass es voller jugendlichem Tatendrang nur so strahlt. Mal ist es zurückgelehnt, mal nach vorne preschend, immer elegant, etwas verschmitzt, furchtbar angenehm. Go:


Soom T
(ms) Festivals fallen aus, openairmäßig gibt es vereinzelte Vorstöße, um wieder gemeinsam Musik zu genießen. Die Töne um unsere Ohren schwingen zu lassen und insbesondere im Sommer den Bass vom Haaransatz bis in die Fußsohlen zu spüren. Denn es muss getanzt werden, das ist klar. Nur, man fragt sich: Wozu?! Sommertanzmusik ist für mich oft Seeed. Aber die richtig geilen Sachen sind halt auch schon alt. Neues kommt nun von Soom T! Kryptischer Name, politische Ansage. Die aus Indien kommende Reggae- und Dub-Künstlerin serviert bald ihr drittes Album. Es heißt The Arch und erscheint am 12. September. Da wird es voraussichtlich noch Draußentanzwetter geben! Das schöne an diesen basslastigen Beats ist ja, dass ihre Eingängigkeit eine gute Eingängigkeit ist, die es einem leicht macht, sich schnell in den Songs zu verlieren. Augen schließen, der Rest passiert von alleine. Für ihre gesellschaftskritischen Texte wird sie in Frankreich schon ordentlich abgefeiert! Zeit, dass ihr auch hier die großen Bühnen geöffnet werden! Los!


Zugezogen Maskulin
(ms) Mein großes Problem beim Rap-Hören ist, dass ich leider oft mehr auf den Beat achte als auf den Text. Bei der Musikrichtung äußerst fatal! Oft ist der Beat für mich der entscheidende Grund, ob ich entschließe einen Rap-Track zu mögen oder nicht. Ab heute ist Schluss damit! Denn Zugezogen Maskulin haben einen weiteren Song aus ihrem nächsten Album 10 Jahre Abfuck ausgekoppelt, das am 7. August erscheint. Denn rein vom Klang her würde ich Tanz Auf dem Vulkan sofort skippen. Das ist mir irgendwie zu asi-prollig. Okay. Ja. Es passt halt zu ZM. Genauso wie Testos melancholischer Tonfall, nachdem er sich ausgelassen hat. Wie immer versteckt sich hinter der harten ZM-Fassade große Zerbrechlichkeit, Selbstreflexion, zynisch-beißende Gesellschaftskritik und nie endender Humor. So auch das dazugehörige Video, das in der Gamer-Optik ihres Killerspiels produziert wurde. Bleiben wir gespannt, ob und wann eine definitive Ankündigung zum (Nicht-)Fortbestehen der Band kommt. Bis dahin: Auf dem Vulkan tanzen!

Donnerstag, 18. Juni 2020

Pabst - Deuce Ex Machina

Foto: Max Hartmann
 (ms) Vergleiche bei Rezensionen von Musik sind eine heikle Angelegenheit. Zum Einen legen sie dem Unbekannten schnell eine wahrscheinlich handhabbare Referenz nahe. Man kann schnell entscheiden, ob Neues gefallen kann oder eher nicht. 'Klingt wie Die Toten Hosen' würde ich halt nie anrühren. 'Klingt nach einem wilden Ritt auf den Synapsen' macht zumindest neugierig. Vergleiche machen es Schreiberin und Leser vielleicht leichter. Doch sie können auch verfänglich sein.
Beispiel: Das sehr temporeiche, kurzweilige, dynamische, sehr gute, mitunter psychedelische Album Deuce Ex Machina der Gruppe Pabst, das diesen Freitag (VÖ: 19. Juni) erscheint wurde bei meinem Plattenhändler des Vertrauens mit Queens Of The Stoneage verglichen.
Krux: Ich kenne nicht ein Lied der Königinnen. Das änderte ich dann und blieb etwas verwirrt zurück. Spielte nacheinander Stoneage und Pabst ab und fand einfach keine wirkliche Übereinstimmung außer einen Teil der benutzten Instrumente. Das kalifornische Quintett langweilt mich einfach nur auf anmaßende Weise. Träge schleppen sich die classic Rocksongs durch die Minuten. Ein Gefühl, das ich bei mir von den Foo Fighters kenne. Lähmend. Öde. Gähn.
Anders Pabst. Und die sind nur zu dritt! Erik an Gesang und Gitarre, Tilman mit dem Bass und Tore zerlegt das Schlagzeug in seine Einzelteile. Deuce Ex Machina ist nur etwas länger als eine halbe Stunde und knallt halt komplett! Da kommt (fast) keine Langeweile auf. Stattdessen türmt sich ein Klang herauf, der an die besten 00er Jahre erinnert. Von wegen Stoneage. Pabst klingen wie The Subways nur halt mit wesentlich mehr Dampf, weniger Drang gefallen zu müssen und schlichtweg mehr Energie!


Direkt mit den ersten Tönen der Platte wird klar, wer hier die Finger mit im Spiel hatte: Moses Schneider. Der geniale Produzent hat ja massive Referenzen (Turbostaat, Beatsteaks, Dendemann...). Das heißt: Wer bei Schneider aufnimmt, nimmt live auf! Ohne Kompromisse! Alle! Auf Ibuprofen ist es am Gesang zu hören; heißt aber nicht, dass das Können oder die Qualität leidet - im Gegenteil. Es hat genau den richtigen DIY-Charme, um nicht hipstermäßig-doof zu erscheinen. Der Gitarrenrock, wie man ihn bestenfalls aus Skandinavien oder aus GB der 00er Jahre kennt, macht sich auf Machina so herrlich deutlich: Ein Track voller Lässigkeit und schmachtendem Sexappeal. Es geht temporeich, schnörkellos, geradlinig und scheinbar simpel vor. Um das genauso klingen zu lassen, muss viel getüftelt worden sein!
Useless Scum ist nicht nur ein brutal geiler Name für ein Lied, sondern scheint inhaltlich eine Neuauflage von Eichendorffs Taugenichts heraufzubeschwören: All is good / so maybe I should / just carry on / I'm useless scum. Ein wenig Rockattitüde geht auch: herrlich satter Bass plus rhythmisches Händeklatschen im Hintergrund plus Gitarren-Schrammel-Solo auf Legal Tender. Hier bleiben keine Wünsche offen.
Und während solche Zeilen erklingen: The city has no skylines / the city is a small town / no place for losers like us (Skylines) kommt man zu dem simplen Schluss: Je lauter die Platte läuft, desto mehr Sinn ergibt sie. Ebenfalls einfallsreich: Ein Track heißt wish.com und ist... instrumental. Das ist natürlich schön witzig, dient der Platte auch als Interlude und kleine Pause zwischen den druckvollen Liedern.
Und dann kracht es nochmal so richtig. Figutive (Another Song About Running Away) ist mit seinen 3:07 Minuten das Highlight des Albums. Keine Pausen, keine Schwächen, nur Power, nur Bock, nur Aufdrehen! Das würde selbst auf einem Festival (s.u.) gegen Mittag um halb zwei jeden dazu anregen sich vollkommen zu verausgaben und den Rest des Tages auf dem Campingplatz zu verbringen.
Doch zum Ende kommen ein paar Zweifel auf. Denn etwas wirklich Neues kommt nicht mehr. Keine Ahnung, was ich zu Straight Line oder Up The Heat schreiben soll. Ja, Richtung Ende flacht die Platte deutlich ab. Aber keine Sorge, es macht ihr dennoch keinen Abbruch. Denn bis dahin war es ein wilder Ritt auf den Synapsen.


Die Band ist aktuell schwer getroffen. Corona und so. Klar, alle anderen auch, keine Frage. Die Szene hat zu ächtzen. Solo-Selbstständige und so. Bitter. Man kann nur hoffen, dass Hilfen schnell kommen. Es geht selbstredend um den Festivalsommer. Und Pabst wären in Spanien, Großbritannien oder Ungarn aufgetreten. Das schaffen halt nicht viele junge Bands aus unseren Gegenden. Und aus diesem Gitarrengenre. Get Well Soon - klar, die sind auch Avantgarde. Kraftwerk sind Legenden. Kalipo als elektronischer Künstler in ganz anderen Gefilden unterwegs. Aber eine Gitarrenrockband aus Deutschland?! Wünschen wir ihnen von Herzen, dass das kommendes Jahr klar geht.
Denn: Sie haben es mehr als verdient.

Deuce Ex Machina.
Pabst.
Jetzt!

Montag, 15. Juni 2020

Juse Ju - Millennium

Bild: facebook.com/juseju

(sb) Wir müssen reden. Du und wir. Von Mann zu Blog. Juse Ju und die luserlounge. Ganz ehrlich jetzt! Wir posten seit Jahren deine Videos, feiern deine Alben und EPs, loben dich über den grünen Klee und jetzt schüttelst Du einfach so ein Album aus dem Ärmel, das so brillant ist, dass es alle vorherigen Releases so dermaßen in den Schatten stellt und dass uns folglich fast ein wenig die Worte fehlen. Was ist los mit Dir? Woher kommt diese Reife, diese plötzliche Weiterentwicklung, die zwar andeutungsweise durchaus erkennbar, in dieser Form aber keineswegs zu erwarten war? Keine Lust mehr auf das Image des ewigen Studentenrappers oder tatsächlich eine natürliche Evolution?

Wie auch immer die Antworten auf all diese Fragen ausfallen werden, eins steht fest: Millennium (VÖ: 19.06.) ist ein herausragendes Rap-Album, das es Juse Ju ermöglichen dürfte, endlich aus dem Schatten erfolgreicherer Kollegen zu treten und die Aufmerksamkeit zu bekommen, die der gebürtige Schwabe eigentlich schon seit Jahren verdient. Bereits sein vorheriges Album Shibuya Crossing erhielt von mir das Prädikat „Album des Jahres 2018“, sein aktuelles Werk übertrifft seinen Vorgänger aber spielend. Versteht mich nicht falsch: Shibuya Crossing war schon eine extreme Ansammlung von Hits (v.a. Kirchheim Horizont, 7Eleven, Lovesongs), hatte durchaus aber auch seine Längen und gerade zum Schluss hin stieg der Drang, nochmal zurückzuspringen und sich die Favoriten anzuhören.

Bild: facebook.com/juseju
Anders bei Millennium: Es gibt diese Längen erst gar nicht und selbst der einzige Track, der mir persönlich nicht sonderlich zusagt (Ich hasse Autos) glänzt durch seinen Prolo-Charme und seinen pointierten Text. Und genau dieses Asso-Gehabe ist es vermutlich auch, was diesen Song vom restlichen Album unterscheidet, denn ansonsten geht es außerordentlich gesittet und intelligent zu. Juse Ju at his best. Bereits die erste Singleauskopplung TNT ließ aufhorchen und eröffnete eine völlig neue Sichtweise auf den Wahl-Berliner. Die ernsthafte Auseinandersetzung mit der Thematik (Psychiatrie), die psychischen Folgen dessen, die Ups and Downs – in dieser Form bis dato undenkbar. Auch Claras Verhältnis lässt tief blicken und porträtiert eine toxische Beziehung mit all ihren Hoffnungen, Sehnsüchten, Rückschlägen bis hin zum Scheitern. Sehr authentisch, sehr stark!

Selbstverständlich kommen auch diesmal diverse Japan-Referenzen nicht zu kurz, verbrachte der Rapper doch einen Teil seiner Jugend im Land der aufgehenden Sonne und kehrte später noch mehrmals dorthin zurück. Während sich Sayonara in erster Linie dem Thema Freundschaft widmet, handelt Model in Tokio von Juses Kindheit, Perspektivenwechseln, späteren Geldsorgen und seinem surrealem Ausflug in die Glitzerwelt der Reichen und Schönen. Bedrückend und doch beeindruckend. Selbiges gilt auch für Unter der Sonne, den Abschlusstrack des Albums: hier gedenkt Juse seines verstorbenen Onkels, der ihm als junger Kerl sehr imponierte und der sein Ding einfach durchzog – ohne Rücksicht auf Verluste oder die eigene Zukunft, ohne sich zu schonen oder auf irgendwelche Kompromisse. Aber auch Helden müssen gehen und das – wie in diesem Fall – leider oft viel zu früh...

Bild: facebook.com/juseju

Kommen wir zum Höhepunkt und wahrscheinlich wichtigsten Song des Albums: Edgelord ist ein politisches Manifest, das klare Kante zeigt und das ein für allemal klarstellt, das manche Themen einfach nicht für Witze oder Zweideutigkeiten geeignet sind. Mit Milli Dance wurde für diesen Track ein adäquater Partner ins Boot geholt, der sich mit seiner Band Waving The Guns traditionell eindeutig positioniert und auch diesmal einen aussagekräftigen Beitrag leistet.

Apropos: Bei der Auswahl seiner Gäste verließ Juse Ju diesmal die gewohnten Pfade und so sind statt Fatoni und Edgar Wasser (die jedoch beide textlich erwähnt werden!) diesmal neben Milli Dance auch Bonzi Stolle (Massig Jigs), Panik Panzer (Antilopen Gang), Mädness, Nikita Gorbunov und Mia Juni zu hören. Das tut dem Album und sorgt für eine erfreuliche Abwechslung. Und jetzt: Kaufen!




Freitag, 12. Juni 2020

KW 24, 2020: Die luserlounge selektiert!

Bild: 24-ads.com
(ms/sb) Eigenwillige Zeiten erzeugen nicht nur eine eigenwillige Stimmung, sondern auch leider komplett schwachsinnige Ideen. Streaming-Konzerte für daheim finde ich noch vertretbar. Schön im Jogger und mit Dosenbier. Eben.
Auto-Konzerte sind doch schon radikaler Müll. Es kann nur einer trinken, statt Applaus dämliches Prollogehupe, tanzen ist so gut wie unmöglich. Also. Einwände? Eben.
Nun setzt die Karnevalsstadt am Rhein Numero Uno noch einen drauf. In der Lanxess-Arena zu Köln - eine stinknormale Mehrzweckhalle - finden demnächst Konzerte in seperaten Plexiglas-Plastik-Popelseparées statt. Aber dann normal live. Zu viert scharrt man sich dann zusammen und muss womöglich auch noch Kölsch trinken. Und dann noch Wincent Weiss hören. Das ist ja das ideale Folterprogramm. Die Bühne in der Mitte - okay, das kann ich verstehen, gutes Konzept. Doch der Rest, bei aller passionierter Liebe zum Livebetrieb, ist doch Schrott. Auch wenn es mehr als schwer fällt auf Konzerte zu verzichten (nebenbei: ist immer noch als Hörer ein Luxusproblem, für Bands und Clubbetreiber undundun eine existenzbedrohende Angelegenheit), dann bleibe ich eher daheim, als mir sowas anzutun.

Herzlichen Willkommen. Luserlounge. Freitag. Selektiert. Pöbelmodus aus. Musik ein!

The Architect 
(ms) Electro-Swing ist vielleicht das langweiligste Genre, was es überhaupt gibt. Und es ist trügerisch. Kommt daher, janusköpfig und verführerisch, weil so funky tanzbar und schnell ansteckend. Erwähnt man den Namen Parov Stelar, wissen wir alle Bescheid. Das hat nur einen gewaltigen Haken. Denn: Das nutzt sich derart schnell ab, dass man zwei Minuten tanzt und sich dann langweilt, weil überhaupt keine Abwechslung geschieht. Das ist live noch viel schlimmer. Vor ein paar Jahren habe ich Parov Stelar beim Deichbrand gesehen und bin nach zwanzig Minuten gegangen, da ich mich derart gelangweilt habe.
Okay. Electro-Swing macht The Architect jetzt auch nicht direkt. Doch es geht in eine grundsätzlich ähnliche Richtung. Doch viel pfiffiger, origineller, reifer, breit gefächerter, neugierig machender. Genau das ist das große, große Plus, das für sein Debut Une Plage Sur La Lune spricht, das heute (!) erscheint! Und man fragt sich wirklich, was bei unseren französischen Nachbarn los ist, dass sie derart konstant super gute elektronische Formate über ihre Landesgrenzen spülen, die nachhaltig überzeugen können. C2C, Daft Punk, French Kiwi Juice... Ein tolles Konzept des jungen Produzenten, DJs, Beatmakers, Tausendsassas ist, dass all seine Gastbeiträge sich nahtlos in das Gewand des Albums einfügen.  Das macht das Werk so herrlich abwechslungsreich. Ob orientalische Klänge, ein Schwenk in den Jazz, Rap, Reggae oder Easy Listening.  Und es bleibt stets entspannt. Das hat den Vorteil, dass man Une Plage Sur La Lune sowohl extrem gut laut aufgedreht als auch relaxet nebenbei laufen lassen kann.


Lamb Of God
(ms) So langsam erblüht das Leben ja wieder. Es ist wieder gestattet sich in gewisser Anzahl in einer Wirtschaft niederzulassen und genüsslich Getränke in den Körper zu verfrachten. Auch macht das Wetter keine Anstalten mehr, sich komplett vor einem nahenden Sommer zu verwehren. Man hatte in den letzten Corona-Wochen schon den Eindruck, dass der Weltuntergang nicht mehr lange auf einen zu warten hat. Das Gesellschaftliche Leben auf komplettem Stillstand und teils ordentliche Regenfälle. Um nicht in einen unguten Zustand der Melancholie zu verfallen, hilft es, sich mal anbrüllen zu lassen. Regelmäßige Leser wissen, dass wir ab und an die Neigung dazu haben. Und ab kommender Woche gibt es wieder frisches Brüllmaterial, um die Nachbarn zu unterhalten. Denn die Amerikaner Lamb Of God veröffentlichen ihr neues, selbst betiteltes Album! Okay, man muss an dieser Stelle ein wenig beschwichtigen. Die ganze harte Gangart sind Lamb Of God nicht, eher die Art Metal, die man gerne mal nebenbei hören kann, ohne komplett zerrissen zu werden von dem, was aus den Boxen schallt. Das gefällt ohne zu verstören.


Puzzles
(ms) Meine Herren... diese Selektion kommt derart entspannt, zurückgelehnt und weit entfernt von unseren Indie- und Gitarrenwurzeln daher, dass ich es selbst kaum glauben kann. Mit Puzzles haben wir eine weitere Formation im Angebot, die irgendwo zwischen Jazz, Avantgarde und sypathischer Eigenwilligkeit agiert, das es so herrlich schön schwer festzumachen ist, wo denn genau. Irgendwo zwischen psychedelischem LSD-Trip-Wirrwarr, vorderasiatisch-orientalischen Beats und verträumt-eskapistischen Melodien spielt sich die EP Moon Phase ab, die auch heute digital und via Vinyl zu haben ist. Die instrumental-wilde Reise wird aus dem Käpt'n Peng-Universum aus gesteuert. Kopf der Bande ist Moritz Bossmann, der mit Gwisdek Gitarre spielt und ebenfalls bei Vögel Die Erde Essen mitschwingt (an dieser Stelle ein freundlicher Hinweis an das tolle Dino Paris & Der Chor Der Finsternis-Album). Daniel Freitag und Johannes Schleiermacher komplettieren die Bande, die so einen wunderbar verträumten Sound kreiert.
Und ihr wisst alle: Puzzles ist nicht nur ein guter Name für eine Band. Sondern auch der ideale Name für eine Bar! Bier auf, Stuhl nach hinten, Fenster auf, Augen zu, Traumreise an!



Bibio
(sb) Den Namen Bibio hab ich ja schon immer mal wieder irgendwo aufgeschanppt, konnte das aber bislang nie wirklich einordnen. Mit der neuen EP Sleep On The Wing (VÖ: heute!) ändert sich das nun aber, denn endlich hatte ich mal die Möglichkeit, mich ausführlich mit der Musik von Stephen James Wilkinson zu befassen. Die zehn neuen Tracks des Briten bieten eine interessante Kombination aus Electronic und Folk, die zahlreiche Naturelemente auf spielerische und atmosphärische Art und Weise in den Mittelpunkt stellt. Auch wenn es die EP natürlich verdient hat, mit voller Aufmerksamkeit angehört zu werden, so kann ich aus eigener Erfahrung berichten, dass sie die perfekte musikalische Untermalung zur Büroarbeit bildet - welch wundervoller Kontrast zum schier unendlichen Starren auf den Laptop, welch sphärische und zauberhafte Klangwelt als willkommene Abwechslung zur Denkarbeit. Keine Frage, dem Multiinstrumentalisten Wilkinson, der auch diesmal wieder etliche Spuren (inklusiver der Streicher) selbst eingespielt hat, ist eine herausragende Fortsetzung seines Albums Ribbons (2019) gelungen, die sich keineswegs in den Vordergrund stellt, jedoch durch ihre feine Komposition überzeugt und zumindest bei mir im Gedächtnis bleiben wird.


Nils Wülker
(ms) Die Frage nach dem Genre ist sicher eine der heikelsten im Schreiberbusiness. Ist es wichtig? Ja oder nein? Wenn nicht, habe ich alle Freiheiten, aber eine Einordnung macht es gerade bei fremden Künstlern oder Nischenmusikerinnen schwierig, dem Leser einen Eindruck zu erwecken. Jeder Plattenladen wäre ohne Genre-Zuordnung eine wahllose Ansammlung von Musik. Nils Wülker also. Jazz oder nicht? Der Wikipediaeintrag sagt Ja, der sehr gute Pressetext ist da wesentlich vorsichtiger. Auch ich möchte mich da nicht festlegen. Wie klingt The You Of Now denn nun? Der erste Track, der einen Vorgeschmack auf das kommende Album GO gibt, ist dezent, elegant, beinahe ein wenig meditativ. Eine Leitlinie aus Klavierakkorden und elektronischem Hintergrundbeat lässt die Trompete in sanfter Melancholie darüber singen. Nach zwei Dritteln erlang das Stück eine poppige Wende, um schließlich den leicht getragenen Sound wieder anzunehmen. Wird so auch GO klingen? Schwer einzuschätzen bei einem Titel, der Vorwärtsgang postuliert. Am 4. September erscheint die Platte, nach UP und ON also erneut ein Titel, der jegliche Tastatur sprengt.
Ein Mal durfte ich den super sympathischen Musiker live sehen und ich freue mich enorm, live wieder Jazz zu hören. Ja, ist es Jazz?!


Iris Romen
(ms) Na, auch schon in Schale geworfen für das anstehende Wochenende? Ein bisschen schick gemacht? Den guten Zwirn aus dem Schrank gezaubert? Vielleicht mal wieder Parfum tragen? Die Schuhe noch einmal putzen, bevor man vor dir Tür tritt?
Elegant und herrlich verspielt und zum swingenden Tanz anregend kommt die Musik von Iris Romen daher. Heute in zwei Wochen (VÖ: 26. Juni über Waterfall Records) erscheint ihr Album Late Bloomer. Es changiert irgendwo zwischen Indiefolk, Swing, Jazz und ganz viel lächelnder Grübchen im Gesicht. Hört man ihr zu, ist der Eindruck nicht zu verwehren, dass die Niederländerin wahnsinnig viel Freunde - ja, Spaß - dabei hat, ihre eigenen Lieder zu singen. Vor sieben Jahren erschien ihr Erstling, nun legt sie nach. Und möglicherweise ist sie nicht nur für mich keine Unbekannte. Vor einigen Jahren, im herrlichen Bunker Ullmenwall zu Bielefeld, spielte sie vor Tim Neuhaus und war anschließend Teil seiner Band. Die Welt ist klein. Diese Musik ist jedoch gut. Reinhören und sich mitnehmen lassen:

Dienstag, 9. Juni 2020

Laut Fragen - Facetten des Widerstandes

(ms) Geschichte Nr. 1: Johanna Sadolschek-Zala wurde in Slowenien geboren und zog dann in Kärnten. Sie entschloss sich während der Gräueltaten im Dritten Reich als Partisanin zu agieren. Sie und ihre Mitstreiterinnen erfuhren in der Bevölkerung viel Unterstützung während sie unter anderem Kriegsmaterial untauglich machten. Natürlich war die Gefahr stets sehr groß, daher führte sie immer eine Handgranate mit sich: Lieber tot als in den Händen der Nazis. Frauen spielten unter den Partisanen eine entscheidende Rolle, indem sie wichtige Informationen beschafften oder Versteckte mit Medikamenten oder Nahrung versorgten. Auch Vitka Kempner war aktive Partisanin, ihr gelang in Litauen eine der ersten Sabotageaktionen.

Geschichte Nr. 2: Die Schlurfs waren eine eigenwillige Jugendsubkultur in Österreich; sie orientierte sich an der amerikanischen Swing-Bewegung und weitestgehend an gedanklichen Leitlinien der Antifa, aber waren nie klassisch politisch links. Sie fielen durch beinahe clowneske Bekleidung auf und trafen sich am Wiener Prater. Es war ein Lifestyle. Sie waren faul; das stoß den Nazis in Österreich natürlich bitter auf, sodass sie 1940 per Dekret verboten wurden. Sie galten gewissermaßen als Gegenstück zur HJ. Manchen wurde die lange Mähne abgeschnitten. Die Anordnung zur Deportation ins KZ ließ nicht lange auf sich warten.

Geschichte Nr. 3: Herbert Traube wurde in Wien groß. Er genoss eine friedliche Kindheit in einer jüdischen Familie. Bis. Dann mussten Juden die Straßen Wiens kniend schrubben, der Pöbel stand während dieser "Reibpartien" amüsiert dabei. Allein in der Pogromnacht wurden in Österreich 6547 Menschen verhaftet, die Hälfte nach Dachau deportiert. Traube und seine Familie sind geflohen. Der Vater wurde festgenommen, überlebte zunächst, kam schlussendlich in Auschwitz doch um. Seine Mutter starb in Frankreich an Schwäche. Herbert überlebte. In Marseille schloss er sich dem Widerstand an, wirkte bei der Zeitschrift Combat mit, wurde festgenommen. Ihm gelang jedoch eine außerordentliche Flucht, schloss sich der Fremdenlegion an. Seine Autobiographie erscheint dieses Jahr noch auf Deutsch.


Mit der Geschichte des österreichischen Widerstandes im Dritten Reich kannte ich mich bis dato überhaupt nicht aus. Ich muss zugeben, dass ich selbst mit dem deutschen Widerstand nicht besonders gut auskenne, Asche auf mein Haupt.
Doch jetzt wird aufgeklärt. Radikal. Kompromisslos. Mit solchen wie oben erwähnten Geschichten. Ab dem 19. Juni sind diese und acht andere in einem musikalischen Gewand zu hören, dass einem die Luft nimmt. Das ist nicht nur ein künstlerisch bemerkenswertes Projekt, sondern auch ein sorgfältig recherchierter, vertonter Bildungsauftrag. Am 19. Juni erscheint das Album Facetten Des Widerstandes des österreichischen Duos Laut Fragen. Dahinter stecken Maren Rahmann und Didi Disko. Und sie lassen die Hörenden wehrlos zurück.
11 Lieder. Weitestgehend. Auf vielen Stücken arbeiten die beiden mit Sprecheinlagen. Diese Rezitationen von Widerstandskämpfern und ihren Schicksalen geht zum Teil auf erschreckende Art nah. Beispielsweise bei Junge Partisanin - Geschichte Nr. 1. Ein gesprochener Text, dahinter eine gesummte Melodie eines jiddischen Liedes. Unglaublich hart: Es sind Schaufelgeräusche zu hören. Ja, die Partisanin buddelt ihr eigenes Grab. Hier wird nichts schön geredet, gar nichts. Hier geht es um knallharte Konfrontation.
Auch im Sound. Denn die meisten Stücke erklingen in alternativ-elektronischem Rocksound, der oft an einen Mix aus DAF, Egotronic oder Die Krupps erinnert und nie gefallen will, wenn es art-jazzig wird. Der nonkonforme Sound passt ideal zum bitteren Inhalt. Nie vergessen. So erinnern. Nie Wieder - so der erste Track. Es muss der Grundsatz unserer Gesellschaft sein - insbesondere jetzt! Die Verantwortung liegt bei uns, denen, die jetzt leben, handeln, gestalten können. Rahmann und Disko sagen es uns: Wir sind das Morgen / Morgen wird heute (Rebellen des Morgen).


Es liegt an uns. Wir müssen erinnern. Wir müssen es machen. Laut Fragen fordern uns damit unvermittelt auf. In kompromissloser Deutlichkeit präsentieren sie Geschichten, Schicksale, wollen Mut machen aber auch deutlich aufzeigen, was Widerstand bedeutet. Wahrlich keine Bequemlichkeit. Aber ein unumgängliches Muss.
Sie sind sachlich und zugleich emotional. Klar und aufrührerisch. Mit Staub Von Städten gibt es neben dem gewollten Krach auch ein vermeintlich harmonisches, ja, balladeskes Lied, aber selbstredend ohne jegliche Romantik.

Das wirklich Brilliante an dem Album ist die bestechend gute Recherche der Geschichten hinter den Liedern und die tolle Verwobenheit von unterschiedlichen Quellen. So passen Zeilen von Lale Andersen genauso in die Texte wie Gedichte aus dem KZ. Facetten Des Widerstandes ist ein absolut textbasiertes Album, der Klang Mittel zum Zweck. Dadurch kann man diese Platte unmöglich einfach so nebenbei hören. Der herrlich unzugängliche Sound in Verbindung eindringlichen Erzählungen macht das unmöglich. Und das ist gut so. Kein Entertainment. Keine Lustbeschallung. 

So etwas habe ich noch nicht gehört, ist mir noch nicht unter gekommen, kenne kein vergleichbares Projekt. Dieses Album ist außergewöhnlich. In der Hinführung, der Umsetzung und der Kompromisslosigkeit. Facetten Des Widerstandes. Jetzt!

Freitag, 5. Juni 2020

KW 23, 2020: Die luserlounge selektiert

Bild: idieyoudie.com
(sb/ms) Heute an dieser Stelle kein Quatsch.


George Floyd wurde getötet.


Black Lives Matter.


Wir haben trotzdem selektiert. Los gehts:



Camu
(sb) Rockmusik aus Finnland hat ja traditionell einen guten Ruf und ja, auch ich höre gerne die ein oder andere Band aus Suomi. Aufgewachsen mit Waltari, dann Apocalyptica und zuletzt Flesh Roxon - immer wieder schaffen es Acts aus dem hohen Norden, mich zu überzeugen. Auch Camu sind auf einem guten Weg dazu, denn ihre Debütsingle Bamboo Road (VÖ: heute!) macht keine Gefangenen, klingt zeitweise fatal nach gutem, altem 80er Jahre Hardrock und versprüht richtig gute Laune. Auf gehts, her mit dem Album, lasst uns nicht zu lange warten!


Run The Jewels
(sb) Legenden. Fucking Legenden! Ja, das sind sie. Jetzt schon! El-P und Killer Mike waren nicht nur Szenekennern bereits vor der Gründung von Run The Jewels ein Begriff, als Hip Hop-Duo haben sie ihr Lebenswerk jedoch jetzt bereits gekrönt und auch ihr viertes Album RTJ 4 wird ihren Ruf als Big Player im Business völlig zurecht manifestieren. Da pumpt jeder Beat, da passt jeder Reim und textlich sind die beiden ja ohnehin über jeden Zweifel erhaben. Gerade jetzt, wo (nicht nur) die USA durch den gewaltsamen Tod des dunkelhäutigen George Floyd mal wieder in ihren Grundfesten erschüttert werden, erscheint die Musik von Run The Jewels nahezu wie der Soundtrack zum Widerstand. Nicht umsonst ist Rapper Killer Mike bereits seit Jahren politisch engagiert und als Aktivist selbstverständlich auch aktuell im Einsatz und ein begehrter Gesprächspartner für die Medien. RTJ 4 besticht durch seinen konsequenten Oldschool-Charme, pointierte und doch messerscharfe Lyrics und nicht zuletzt durch die Riege an hochkarätigen Gästen. So sind unter anderem Josh Homme (Queens Of The Stone Age), Zack de la Rocha (Rage Against The Machine) und Pharrell Williams zu hören und verleihen dem Album durch ihre pure Anwesenheit eine durchaus spürbare moderne und alternative Note. Ich höre normalerweise ja quasi gar keinen US-Rap, aber das Ding wird sicher noch das ein oder andere Mal laufen, denn auch hier gilt: Qualität setzt sich am Ende durch!
Ursprünglich war die Veröffentlichung des Albums für heute vorgesehen (physisch am 18. September), aufgrund der aktuellen Situation in den USA haben Killer Mike und El-P die Veröffentlichung jedoch auf vergangenen Mittwoch vorgezogen und bieten das Album auf ihrer Website zum Gratisdownload an!


Baits
(sb) So, mal kurz zurücklehnen und diesen PR-Text genießen:
"Baits are having a good old time und laden mit „Amy“ zum Instant-Headbangen ein. Im Video zur neuen Single verschmelzen Outtakes mit Grunge-Rock-Liveenergie, Haar-Instastories mit Stupid-Faces-Backstage-Romantik und 80s Look mit dem Ist-Zustand. Selbst-Verneinung oder Fremd-Bejahung, Sucht oder Rehab? Headbang oder Bodyslam? no no no."
Würdet Ihr Euch sowas dann freiwillig anhören? Seht Ihr, wir schon... Und es hat sich gelohnt, denn Amy (VÖ: heute!) ist so dermaßen übercool und rotzig, dass der Track seitdem rauf und runterläuft und selbstredend in jede verfügbare Playlist aufgenommen wurde. Die Baits lassen den Grunge wieder aufleben, der mich durch meine Jugend begleitet hat und der auch heute noch einen beachtlichen Teil meiner Musiksammlung ausmacht. Damals wären die Wiener vermutlich gar nicht groß ausgefallen, heute sind sie mit ihrem Sound im wahrsten Sinne des Wortes alternative und ragen so aus der Masse heraus. Bin sehr gespannt aufs Album Never Enough, das demnächst folgen wird.

 
L.A. Salami
(ms) 7 Tracks, 44 Minuten. Sehr hohes Niveau, extrem toller Abwechslungsreichtum! 
Die ersten Takte von The Cage erinnern schon an eine unglaubliche Lässigkeit von The Streets. Wenn sein Gesang dann noch einsetzt, verfestigt sich sogar dieser Eindruck. Das schaffen wirklich nicht viele. Mike Skinner ist immerhin eine riesige Referenz! Und zumindest auf diesem Track kommt L.A. Salami dem sehr nahe. Stark. Hört man sich dann durch das ganze Album A Cause Of Doubt & A Reason To Have Faith bleibt dieser Vergleich nicht mehr aufrecht. Kann er auch gar nicht bleiben, denn das ist nicht nur alternativer Rap, sondern spielt mit Elementen aus Soul und Indiepop, die phasenweise an die wunderbare Melancholie von Damon Albarns Solo-Album Everyday Robots erinnert. Dazu gesellt sich ein Sound, der irgendwie an die Artic Monkeys erinnert.
Halten wir fest. Lookman Adekunle Salami, so sein ganzer, echter, bürgerlicher Name, schafft es auf einer Platte solche Vergleiche heraufzubeschwören. Dieses Niveau zieht sich durch alle Tracks. Egal, ob sie über zehn oder 4:45 Minuten lang sind. Immer wieder arbeitet er mit Hörspiel-Eindrücken und Snippets, die in die Lieder integriert sind. Dauert The Cage als Single 3:11 Minuten, sind es auf der Platte fast acht!
Richtig stark: Dieses Album (VÖ. 17. Juli) kann hervorragend nebenbei gehört werden. Doch für die wahre Auseinandersetzung benötigt es Ruhe, vielleicht ein kühles, zum Abschweifen neigendes Getränk und Muße. Großer Wurf!
Und nehmen wir uns nochmal kurz die Zeit und lesen den Titel der Platte: A Cause Of Doubt & A Reason To Have Faith! Was eine Ansage!


Nax
(ms) Zugegeben: Mit Alternativerock aus Südamerika kenne ich mich nicht aus. Ich will nicht falsch verstanden werden: Ich weiß nichts darüber. Absolut gar nichts. Würde man mich spontan nach einer Band aus Argentinien befragen, hätte ich keine Antwort parat. Gut, dass die Wege manchmal auch anders herum gehen. Nax aus Buenos Aires haben uns angeschrieben und wir berichten natürlich gerne! Am 15. März ist ihr aktuelles Album Congelado erschienen, das so viel wie 'Erfroren' bedeutet. In den zehn kurzweiligen Songs ist ein Mix aus The Smiths, Joy Division und ein wenig Editors zu hören. Die Südamerikaner setzen auf breit gefächerte Gitarren, anziehendem Tempo und geizen nicht mit elektronischen Elementen zur richtigen Zeit. Neben einigen tanzbaren Stücken (Celebrar Aniversarios) haben sie auch keine Furcht davor balladeske Stücke zu garnieren, aber nur bis eine unerwartete Gitarre hineinstürzt (Haceme Olvidar)! Da ich vom Text nichts verstehe, bekomme ich durch den mitunter temporeichen Klang nicht den Eindruck, dass hier irgendwas erfroren sei. Im Gegenteil! Es herrscht zwar mitunter eine leichte Melancholie, doch es geht munter nach vorne. Ein bisschen Urlaub fürs Gehör!


SOHN
(ms) Live-Alben mit Orchesterbesetzung sind prinzipiell schon mal geile Ideen. Alles wird dichter, stimmungsreicher, der qualitative Aspekt wird ein paar Ebenen nach oben gelegt. Eine irgendwie künstlerisch-gediegene Atmosphäre entsteht. Manchmal auch etwas bieder. Aber immer mit einem feinen Mehrwert versehen. Tragender. Oft sogar ein bisschen ruhiger.
Es kommt tatsächlich auch darauf an, woher die musikalische Vorlage kommt, also von welchem Genre wir sprechen. Bei SOHN sprechen wir von elektronischer Musik, die betrübend melancholisch und energetisch tanzbar sein kann. Facettenreich. Daher super interessant. Seine beiden Alben Tremors und Rennen sind wirklich stark, laufen ab und an dann sehr lautstark bei mir daheim. Nach lediglich zwei Alben ein Orchester-Live-Album zu produzieren und veröffentlichen ist natürlich gewagt. Doch bei Live With Metropole Orkest gelingt es auf brilliante Art und Weise. Die Arrangements sind so fein und enorm intensiv, dass es zwingend zum Tanzen animiert. Christopher Taylor ist nichts nur ein vielschichtiger Musiker, sondern seine klare, stabile, nah gehende Stimme erlangt hier nochmals neue Qualität! Stark! Richtig stark!


NZCA LINES
(ms) Je länger das ganze geht, desto größer werden die Sehnsüchte nach ausschweifender Freizeitgestaltung. Endlich mal wieder abends mit den Besten losziehen, Geld und Zeit spielen keine Rolle, die Straßen sind voll mit Menschen, man hat keine Angst, anderen zu nahe zu kommen. Von Mundschutz keine Rede mehr. Und dann einfach tanzen. Augen zu. Loslassen. Go!
Zum Einstieg solch eines Abends läuft dann laut NZCA LINES. Trotz des etwas umständlichen Namens - und wie spricht man das denn überhaupt aus?! - präsentiert Michael Lovett hier super groovy, funky, leichtfüßige und sorglose Musik, die durch einen tanzenden Bass und eine 80s-String-Chord glänzt. Ja, das macht Bock. Hier fühlt man sich wohl! Prisoner Of Love heißt das Ding und ist seit gestern zu hören. Der Track ist Teil des Albums Pure Luxury (herrlicher Titel), das im Juli über Memphis Industries erscheinen wird. Bis dahin tanzen wir zu diesem Track daheim und träumen uns ganz weit raus...

Donnerstag, 4. Juni 2020

Doku-Serie: Wie ein Fremder

Protagonist (li.) und Filmer (r.). Foto: Thomas Rabsch
 (ms) Springen wir zurück ins Jahr 2005, in den November. Ich war 15 und las, um Neues in der Musikwelt zu erfahren, Musikzeitschriften. Gerne die Visions, sie hat mir immer gut gefallen. Gierig legte ich die beigefügten CDs in den Player daheim ein und lauschte den mir bis dato unbekannten Tönen. Auf der All Areas 67 blieben bei mir nicht Lagwagon oder Coheed And Camria hängen sondern eine bislang fast ungehörte Band, die auf den tiefgehenden Namen Voltaire hörte. Der Song heißt Flut und genauso hat er mich mitgerissen. Sanfte Gitarrenakkorde zu Beginn, das sich zu einem wilden Indie-Sound entwickelte und mit einem faszinierend anmutenden Text garniert war.
Früh habe ich meine Eltern damit belagert, mich zu Konzerten zu fahren. Sie waren so lieb und haben das getan. Im April 2006 nach Bielefeld, wo Voltaire mit Madsen gespielt haben. Im Oktober des gleichen Jahres nach Osnabrück, wo sie mit den Ohrbooten auf einer Bühne standen oder im November ein Jahr später nach Gütersloh. Sag einer, Ostwestfalen hätte nichts zu bieten.
Ihr großartiges Album Heute Ist Jeder Tag war der Soundtrack eines Liebeskummers und 2009 auf dem Dockville in Hamburg sah ich sie ein letztes Mal. Denn trotz der riesigen Vorschusslorbeeren blieb ihnen der angepriesene Platz auf dem deutschen Indie-Olymp verwehrt. Zwei EPs, zwei Alben, tschüss. Sie stehen noch bei mir im Regal und wären fast in Vergessenheit geraten. Bis... Bis dieser Tage die fünfteilige Doku-Serie Wie Ein Fremder über Sänger, Texter und Kopf Roland Meyer de Voltaire erscheint!


Okay, das ist nicht ganz richtig. So ganz aus den Augen verloren habe ich Roland nie. Doch die Band schon. Es kamen Neue, die die Heavy Rotation der Bonner verdrängt haben. Dass er vor wenigen Jahren dann mit seinem Solo-Electro-Projekt Schwarz wieder richtig aufgetaucht ist, hat mich total für ihn gefreut, auch wenn mich das Album White Room nicht ganz so gepackt hat.
In den Jahren dazwischen war eine Menge los bei Roland Meyer de Voltaire. Das kann man so sagen. Von den tiefsten Tiefen bis in luftige Höhen hat er in jedem Fall alles erlebt, was ein Musikerleben so ausmachen kann. Was für ein beschissener Brotjob das ist und wie glücklich es doch machen kann.
All das erfährt man in der extrem sehenswerten Doku-Serie. Wenn neue Ideen geboren werden. Wenn er verzweifelt schaut, dass seine 250 Noteuros noch da sind.
Und der Macher, Aljoscha Pause, ist jemand, der ihm irgendwann über den Weg gelaufen ist. Sie müssen sich auf Anhieb gut verstanden haben, denn Pause bat ihn mehrere Soundtracks seiner anderen Langzeit-Dokus beizusteuern. Aljoscha Pause, Ideenumsetzer hinter der Doku, wurde bekannt durch seine in Film umgemünzte Begleitungen von Thomas Broich oder Mario Götze; kommt also aus dem Sport.
Nun Musik.
Roland hat er über sechs Jahre begleitet. Sechs Jahre. 2014 fing das an. Da war von der Band Voltaire schon keine Rede mehr. So schnell und so dreckig ist das Musikbusiness. Und Roland zwischendrin, nirgendwo verortet, tausend Ideen im Kopf, doch der war zu voll. Schaut man sich diese umwerfende Doku an - ich habe an einem Abend alle fünf Teile hintereinander geschaut -, wird einem immer wieder gesagt, was für ein irres Talent er ist. Richtig so. Ob Linus Volkmann, Ingo Schmoll oder Sebastian Madsen. Roland genoss immer eine hohe Reputation in den Kreisen. Doch das reicht halt nicht. Für das Label Universal, die das Debut veröffentlicht haben, ist Kunst halt kein Faktor. Kreativität ist egal. Egal auch, dass die Band als die neuen deutschen Radiohead umjubelt wurde. Wenn nix verkauft wird, bist du weg. Und sie waren weg.

Szenenbild aus Wie Ein Fremder
Doch schon vor vielen Jahren - und in der Serie wiederholt Roland das - sagte er in Interviews sinngemäß: Ich muss Musik machen, ich kann nichts anderes. Der Weg vom Weglegen der Gitarre zum versierten Bedienen etlicher Synthie-Knöpfe war weit. Steinig. Auf und ab. Ein Glück, das jemand wie Steffen Gottwald an ihn geglaubt hat. Denn das ist jemand, der Roland wirklich gerettet hat. Doch wir wollen hier gar nicht allzu viel spoilern. Denn eines steht fest: Das, was Aljoscha Pause mit dieser Doku-Serie gelungen ist, ist große Klasse. Er muss es irgendwie geschafft haben, dass Roland sich komplett nackt macht. Was er alles preisgibt, ist irre. Wie ein offenes Buch legt er sich dar. Und Pause filmt mit. Dass es für Roland derzeit gut läuft und er von seiner Musik leben kann, ist kein Geheimnis der Doku. Das Geheimnis der Doku ist der Weg dahin! Dafür muss man weder Roland Meyer de Voltaire kennen, noch seine frühere Band noch sein Projekt Schwarz. Dafür muss man nur an seinen Mitmenschen interessiert sein, ein bisschen Zeit mitbringen und man wird zigfach belohnt! Mit einem ruhigen Erzähltempo. Mit tiefen Einblicken in ein Leben. Mit ganz vielen Facetten auch, wie ein Geschäft funktioniert. Und: Wie Musik entsteht. Denn das ist der Motor.

Morgen, am 5. Juni, erscheint Wie Ein Fremder auf DVD, Blu-Ray und On-Demand-Services wie Maxdome etc. Egal, für welchen Weg ihr euch entscheidet. Tut es bitte. Es ist grandios!



PS: Was wäre bloß geschehen, wenn sie nicht bei Universal sondern bei einem Label wie Tapete oder Grand Hotel van Cleef gesignt hätten?!